Actions

Work Header

Rating:
Archive Warning:
Categories:
Fandom:
Relationships:
Characters:
Additional Tags:
Language:
Deutsch
Series:
Part 2 of Goyle-Universum
Stats:
Published:
2021-05-19
Completed:
2022-04-04
Words:
198,349
Chapters:
50/50
Comments:
2
Kudos:
21
Hits:
2,173

Wastelands

Summary:

Das Leben von Narzissa Malfoy in all seinen Phasen. Mit Lucius Malfoy, Bellatrix und Andromeda Black, Rabastan Lestrange, Draco Malfoy und vielen anderen Figuren in den Nebenrollen. Massig überambitionierte Nebenhandlung.

Rating wegen vereinzelter Lemon-Szenen und der Darstellung von Gewalt.

Angelehnt an und inspiriert von T.S. Eliots Langgedicht The Waste Land.

Canonkonform! Narzissa x Lucius.

Notes:

Disclaimer: Die Figuren gehören nicht mir, sondern J.K. Rowling; hier wird kein Geld verdient. Der Titel sowie die Eingangszitate der fünf Unterteile der Geschichte sind dem Langgedicht The Waste Land von T.S. Eliot entnommen. Die Fünfteilung der Geschichte ist ebenfalls von dem Werk inspiriert. Inhaltliche Vorkenntnisse sind aber definitiv nicht notwendig!

Für alle Leser, die mit meiner Geschichte "Goyle" vertraut sind: Diese beiden Projekten spielen in demselben "Universum". Sprich: Die Andromeda, die hier auftritt, entspricht der Andromeda, die in der anderen Geschichte dargestellt wurde. Im späteren Verlauf wird es auch einige andere Überschneidungen geben. Mir ist allerdings ein winziger Rechenfehler unterlaufen, der Bellatrix Alter/ Schulzeit/ Werdegang in den 1970er-Jahren betrifft und den ich beim besten Willen nicht mehr rausgeschrieben bekomme... ich hasse Zahlen und hoffe, ich bin die Einzige, die das überhaupt merkt.

Zur Orientierung für alle, da die Geburtsdaten der Black-Schwestern ja nicht so ganz klar sind: Narzissa ist hier am 10. November 1955 geboren, Andromeda im Oktober 1954 und Bellatrix am 21. September 1952. Abgesehen davon halte ich mich zum Großteil an die durch Canon, Pottermore und Wikis gegebenen Daten. Kleine Fehler bitte ich im Rahmen der künstlerischen Freiheit zu verzeihen <3

Chapter 1: Prelude

Chapter Text

W A S T E L A N D S

 

I  –  The Burial Of The Dead

 

“They called me the hyacinth girl.”
—Yet when we came back, late, from the Hyacinth garden,
Your arms full, and your hair wet, I could not
Speak, and my eyes failed, I was neither
Living nor dead, and I knew nothing,
Looking into the heart of light, the silence.

 

1 – Prelude



Der Mann, der sein halbes Leben damit verbracht hatte herauszufinden, welche Blumen sie am liebsten mochte, lächelt ihr in Abstufungen von Schwarz und Weiß von der Titelseite des „Tagespropheten“ zu. Das Ableben von Lucius Malfoy war eine Schlagzeile. Das sollte sie nicht wundern, aber ihr Herz pochte ganz wild, weil sie nicht damit gerechnet hatte, zwischen Tee und Zucker von ihm betrachtet zu werden. Irgendjemand hatte ein Bild gefunden, auf dem sich ein kleines, feines Lächeln auf seinem Gesicht abzeichnet.

 

31. Oktober 1970



„Gefällt dir, was du siehst?“ Lucius Malfoy ist entsetzlich arrogant – davon weiß man in allen Schulhäusern und Jahrgangsstufen zu sprechen, aber trotzdem ist sie schockiert darüber, wie dieser Mensch, der ein Jahr älter ist, aber ihr sonst nichts voraus hat, mit ihr redet.

„Wie bitte?“ Es gehört zu ihren Grundsätzen, solange höflich zu bleiben, wie der gesunde Menschenverstand es erlaubt und auch, wenn sie die Dummheit begangen hat, ausgerechnet am Abend des 31. Oktobers den Platz gegenüber von Lucius Malfoy einzunehmen, wird sie sich nicht darüber aufregen. Vor ihr liegt bald ein Festmahl ausgebreitet, Andromeda sitzt nicht ganz weit weg von ihr und Bella wird sicher gleich zu ihr kommen, nachdem sie den Walzer der Schulgeister dirigiert hat. Wie sie da vorne steht und versucht, nicht allzu stolz auszusehen, bietet sie einen herrlichen Anblick. Bella gibt zu gerne an, aber normalerweise nicht mit ihren Begabungen für Tanz und Melodie, die sich in der Komposition unterhalb des Himmels der Großen Halle an diesem Abend aufs Schönste vereinen. Es ist ein prächtiger Nachthimmel, das steht außer Frage und sie wird sich diese Schönheit nicht verderben lassen. Nicht durch einen von sich selbst eingenommenen Fünftklässler, dessen Mundwinkel zucken und der anscheinend keinerlei Interesse daran hat, in ganzen Sätzen zu sprechen. „Wie bitte?“ Sie wiederholt sich nicht gern, doch sie tut es. Seitdem sich das Gehör ihres Vaters mit jedem Jahr verschlechtert, ist sie es sogar irgendwie gewöhnt.

„Du hast mich angestarrt.“

„Der blutige Baron hat direkt hinter deinem Rücken eine Pirouette gedreht.“ Das ist eine Lüge, aber die Worte kommen ihr ungehindert über die Lippen und klingen so ganz und gar nicht sperrig. Möglicherweise hat sie ihn angesehen, während sie der Musik gelauscht hat. Eventuell findet sie die Musik zwar schön und bewundert das Schauspiel, das ihre Schwester geschaffen hat, aber interessiert sich nicht besonders dafür. Sie hat seit dem Frühstück nichts mehr gegessen und wünscht sich nichts sehnlicher als ein Stück Kürbiskuchen.

„Schade.“ Lucius hat dermaßen lange für seine Reaktion gebraucht und ihre Sehnsucht nach dem Kuchen ist so groß, dass sie schon gar nicht mehr weiß, worüber sie reden. Warum sie miteinander reden. Was er da zum Ausdruck bringen will. Zum Glück ist sie es gewohnt, mit ihren Ohren zuzuhören, obwohl sie eigentlich abgelenkt ist.

„Du findest es schade, dass ich dich nicht angestarrt habe?“ Er nickt und sieht dabei fast drollig aus. Über sein aufrichtiges, ernsthaftes Nicken könnte sie wirklich lachen, aber sie reißt sich zusammen. „Da muss ich ja beinahe Mitleid mit dir haben.“ Er öffnet den Mund – denn so eine Bemerkung kann er natürlich nicht auf sich sitzen lassen, auf ihren ironischen Unterton muss er ja empfindlich reagieren, das ist seine Pflicht, doch er bekommt keine Gelegenheit, sich zu wehren.

Die Musik verklingt und die ganze Halle applaudiert ihrer Schwester, die sich mit geröteten Wangen verneigt und die Huldigungen stolz, aber hochzufrieden, entgegennimmt. Zwischen Lucius Malfoy und ihr wächst ein riesiger Kürbiskuchen aus der Tischplatte, Bella macht sich auf die Suche nach dem Platz, den Narzissa ihr freigehalten hat und es gibt mit einem Mal nichts Unwichtigeres als das, was Lucius Malfoy vielleicht noch zu sagen gehabt hätte.

 

 

* * *



„Er hat dich beobachtet.“ Andromeda schminkt sich niemals, aber das muss sie auch gar nicht, ihre Augen sind riesig und nicht einmal Narzissa kann sich ihrem Blick entziehen, obwohl sie darin jahrelange Übung haben sollte.

„Ach.“ Eigentlich sollte sie die Ahnungslose geben und arglos fragen, von wem ihre Schwester spricht, aber dafür hat sie nicht mehr die Kraft. Ihr Bauch ist voll, sie hat versucht, Bellas Ausführungen über eine antike, philosophische Schrift zu folgen, deren Titel sie schon wieder vergessen hat und sie hat auch Andromeda nichts entgegenzusetzen. Ihre Schwester hakt sich bei ihr ein, sodass sie nicht einmal weglaufen könnte, wenn sie es wollte.

„Lucius ist eine entsetzliche Person!“ Als wäre das nicht allzu offensichtlich. Im Gegensatz zu Bellatrix, die mit ihren Berichten über Hogwarts immer gnadenlos gewesen ist und in Andromeda immerhin zwei Jahre und in Narzissa sogar drei Jahre lang ein sehr dankbares Publikum gefunden hat, hat Andromeda sich, bis auf wenige Ausnahmen, immer sehr verhalten über die Leute aus ihrem Jahrgang geäußert. Aber Andromeda muss nicht bei Tisch fluchen oder im großen Stil über jemanden herziehen, man merkt ihrer Schwester stets ganz deutlich an, wenn sie jemanden nicht ausstehen kann.

„Ach, ich kenne ihn eigentlich gar nicht.“

„Darum sag ich dir ja, dass er entsetzlich ist.“ Auf dem Gesicht ihrer Schwester breitet sich ein Grinsen aus, aber damit versteckt sie nicht ihre Befürchtung, dass Narzissa ausgerechnet jemanden wie Lucius leiden könnte. „Hörst du mich, Zissy?“

„Wie könnte ich dich nicht hören, du stehst ja gleich neben mir. Und ich hab doch schon gesagt, ich kenne ihn nicht. Es kümmert mich nicht, ob er mich ansieht oder nicht.“

„Gut.“ Die Strenge in Andromedas Stimme erinnert sie an ihre Mutter, aber sie weiß, dass dieser Vergleich ihre Schwester kränken würde, darum drückt sie sich nur an Andromedas Schulter und hofft, dass damit genug getan ist.

 

 

* * *



Es vergehen ganze Wochen und Narzissa vergisst sowohl die kleine Unterhaltung am Halloweenabend als auch die mahnenden Worte ihrer Schwester. Sie könnte gar nicht überraschter sein, als sie an einem Freitagnachmittag den Gemeinschaftsraum betritt und Lucius sich ihr in den Weg stellt. Genau wie sie trägt er noch seine Schuluniform und sie kommt nicht umhin, das Vertrauensschülerabzeichen an seinem Pullover zu bemerken.

„Guten Abend.“ Sie lächelt freundlich und ohne jede echte Begeisterung. Die wenig lässige Begrüßung soll ihm deutlich zeigen, dass sie nicht einmal Bekannte sind und es nicht in Ordnung ist, dass er so vor sie tritt. Und dann nicht einmal etwas sagt, sondern ihr die ersten Worte überlässt.

„Professor Slughorn veranstaltet am letzten Schultag vor den Ferien eine kleine Weihnachtsfeier.“ Davon hat sie gehört. Eine ihrer Zimmergenossinnen, Elaine Goldstein, ist ein ständiger Gast bei den außerschulischen Abendessen, die Horace Slughorn, der Meister der Zaubertränke, in regelmäßigen Abständen ausrichtet. Weder Narzissa, noch ihre Schwestern sind bislang eingeladen worden. Professor Slughorn lobt sie zwar immer mal wieder für ihre Tränke, aber manchmal ist sie sich nicht sicher, ob der Lehrer überhaupt ihren Namen kennt. Er scheint eine sehr selektive Wahrnehmung zu haben und Narzissa ist ganz zufrieden damit, nicht im Fokus von Horace Slughorn zu sein. „Ich habe mich gefragt, ob du wohl meine Begleitung sein wollen würdest?“

„Das kommt sehr überraschend.“ Sie nimmt sich Zeit, um sein Gesicht ganz genau zu betrachten. Er bemüht sich um eine ausdruckslose Miene und stellt sich dabei ganz gut an. Wenn er nicht ein bisschen zu häufig zwinkern würde, dann könnte man ihn glatt für gelassen halten. Seine Hände zittern nicht, er beißt sich nicht auf die Lippe, er schwitzt nicht. Aber er zwinkert. Dreimal innerhalb von fünf Sekunden. Das ist ein bisschen viel. „Ich fahre über Weihnachten nach Hause.“

„Slughorn lädt für den 22. Dezember ein. Das ist ein Montag.“ Und der Zug fuhr erst am Dienstagvormittag.

„Ich denke, ich werde sehr beschäftigt sein. Ich muss meinen Koffer packen und wollte früh schlafen gehen, damit ich für die Fahrt ausgeruht bin.“ Das klingt mehr nach einer verantwortungsbewussten Fünfzehnjährigen, die nicht übermüdet bei ihrer Familie und in den Weihnachtstagen ankommen möchte und weniger nach einer schroffen Absage. „Ich hoffe, du verstehst das.“

„Natürlich, das kann ich sehr gut nachvollziehen.“ Von so viel guter Erziehung ist sie irgendwie hingerissen, aber gleichzeitig wird ihr auch übel. Es ist überdeutlich, dass sie ihn gekränkt hat, aber das will er ihr nicht zeigen. Er lächelt sie sogar an und tritt einen Schritt zur Seite, sodass sie einfach an ihm vorbeigehen könnte. Erst jetzt bemerkt sie einen einsamen Sessel, vor dem ein dicht beschriebenes Pergament und ein Buch über fortgeschrittene Verwandlungskunst liegen. Hat er auf sie gewartet, während er Hausaufgaben gemacht hat? Oder hat er Hausaufgaben gemacht und sie dann zufällig bemerkt?

Sie lächelt immer noch. Seitdem sie ihn gegrüßt und ihm eine Absage erteilt hat, ist ihr Lächeln konstant und freundlich geblieben. Ihre Mutter wäre stolz auf so gut kontrollierte Gesichtszüge. Sie nickt ihm zu, schultert ihre Schultasche neu und geht mit geradem Rücken auf direktem Weg in ihren Schlafsaal. Es ist nicht leicht, der Versuchung zu widerstehen und sich nicht umzudrehen, obwohl sie seinen Blick auf sich spüren kann. Wenigstens hofft sie, dass er ihr nachsieht und nicht am Ende Andromeda oder Bella Zeuginnen dieser Szene geworden sind.

 

 

* * *



Es muss Schicksal, das gemeine Schicksal sein, dass sie am 23. Dezember nur ein einziges Mal das Abteil verlässt, das sie mit Andromeda und Bellatrix und Rabastan Lestrange besetzt, und Lucius dabei förmlich in die Arme läuft. Entgegen ihrer Erwartung, dass er sie von nun an geflissentlich ignorieren würde, hat er damit begonnen sie zu grüßen, wann immer sie einander begegneten. Die Folge davon war, dass Narzissa sich seltener im Gemeinschaftsraum aufhielt und beim Essen stets darauf bedacht war, ein wenig zu spät zu kommen, sodass sie einen Platz aussuchen konnte, der nicht in seiner Nähe war. All diese Maßnahmen waren zwecklos, denn sie stand in dem Mittelgang des ruckelnden Zuges und er genauso. Die Toiletten, die ihr eigentliches Ziel gewesen waren, sind noch nicht einmal in Sichtweite und doch hat sie sich schon zu weit von ihrem Abteil entfernt, um einfach einen Schritt zurück zu machen. Sie versucht einen Blick durch die Tür zu erhaschen, durch die er gekommen ist. Auf einmal interessiert es sie, mit wem er zusammensitzt. Mit wem er überhaupt etwas zu tun hat.

„Entschuldige, ich stehe dir wohl schon wieder im Weg.“ Schon wieder. Also ist ihm sehr wohl bewusst gewesen, dass er sich ihr vor wenigen Tagen in den Weg gestellt hat, um seine Frage loszuwerden und dass es sich bei diesem Manöver nicht um die sogenannte feine, englische Art gehandelt hat.

„Das ist nicht schlimm. Hast du gestern einen schönen Abend gehabt?“ Er sah nicht müde aus, aber was hatte sie denn erwartet? Die Weihnachtsfeier eines Lehrers würde wohl kaum bis in die frühen Morgenstunden andauern. Es würde Horace Slughorn, bei aller Narrenfreiheit, die Albus Dumbledore zu gewähren bereit war, wohl kaum erlaubt sein, Alkohol an minderjährige Schüler auszuschenken oder sonst etwas zu tun, was eine Weihnachtsfeierlichkeit zu einem Exzess werden ließ, der einen jungen Menschen daran hinderte, am nächsten Tag zeitig aus dem Bett zu kommen. Auf einmal kam sie sich furchtbar dumm vor, weil sie so eine steife Ausrede benutzt hatte, die offensichtlich genau das war. Steif und eine Ausrede. Eigentlich hätte sie sich doch darum bemühen sollen, eine glaubwürdige Begründung zu finden, das hatte er doch verdient, oder? Und nun fragte sie auch noch nach dem gestrigen Abend. Das war das Salz in der Wunde – oder bildete sie sich nun zu viel ein? Sicher war sie weder seine erste Wahl gewesen und wenn doch, dann war sie bestimmt nicht das einzige Mädchen, das er gefragt hatte.

„Es war schon in Ordnung. Slughorns Abendessen sind nicht besonders aufregend, um ehrlich zu sein, und die Veranstaltung gestern war eigentlich genau wie die Abendessen… nur mit der Möglichkeit, jemanden mitzubringen und zu tanzen.“ Sie wusste nicht warum, aber sie hatte erwartet, dass er von dem Abend in den höchsten Tönen sprechen würde. Um ihr noch einmal zu verdeutlichen, dass sie etwas verpasst hatte. Mit so einem knappen, unaufgeregten und mutmaßlich ehrlichen Abriss hat sie nicht gerechnet. „Ich bin recht früh gegangen. Ich hab an dich gedacht und einfach mal zwei Stunden mehr geschlafen als sonst. Spätestens heute Abend werde ich dir dankbar dafür sein.“ Und nun bedankte er sich dafür, dass sie ihm eine Absage erteilt hat? Was war nur los mit dieser Person?

„Nun… dann gern geschehen.“ Sie will nicht kichern, sie will es wirklich nicht, aber es ist immer noch besser als lauthals über diese Unterhaltung zu lachen, deshalb lässt sie zu, dass sie dämlich kichert und sich eine Hand vor den Mund schlägt. Er wirkt irritiert und es ist gut, dass sie sich so zusammenreißen kann. Es wäre nicht in Ordnung, ihm das Gefühl zu geben, dass sie ihn auslacht, obwohl sie wahrscheinlich genau das tut. „Frohe Weihnachten… und schöne Ferien.“

„Danke. Dasselbe wünsche ich dir.“ Sie lächelt noch und auf einmal kommt ihr der furchtbare Gedanke, dass er vermutlich auch aufgestanden ist, um zur Toilette zu gehen. Und das wäre dann doch irgendwie schräg, wenn sie quasi im selben Moment gehen würden. Normalerweise mied Narzissa die Toiletten im Zug und sie war nicht einmal sicher, ob es unterschiedliche Kabinen für Jungen und Mädchen gab und… das ging in jedem Fall zu weit. Obwohl ihre Blase immer noch ein wenig drückte, entschied sie sich dafür, umzudrehen und zurück zu ihrem Abteil zu gehen. Wenn sie sich richtig hinsetzte, dann würde sie noch bis London aushalten. Oder sie wartete darauf, dass eine ihrer Schwestern ebenfalls musste, dann lief sie zumindest nicht Gefahr, ihm noch einmal alleine zu begegnen.

Sie kann nur hoffen, dass sie nicht über ihre eigenen Füße stolpert oder beim Laufen wie jemand aussieht, der sich dringend erleichtern muss. Es ist auch eigentlich gar nichts Peinliches daran, eine volle Blase zu haben, aber da kamen die mahnenden Worte ihrer Tante durch, die Narzissa und ihre Schwestern unbedingt zu echten Damen machen wollte. Und eine Dame muss nicht urinieren, eine Dame muss sich frisch machen. Aber Lucius kann sie ja schlecht ins Gesicht sagen, dass sie sich „frisch machen“ muss. Das wäre ja hochgradig lächerlich. Fast so lächerlich wie nicht zur Toilette zu gehen, nur weil sie ihm begegnet war.

Wild entschlossen dreht sie sich um und wünschte, sie hätte noch ein paar Sekunden gewartet, denn er ist mit einem Bein schon wieder in seinem Abteil. Drei verdammte Sekunden und ihr wäre jede Notwendigkeit, ihr Hin und Her zu begründen, erspart geblieben.

„Ich habe fast vergessen, dass ich mich frisch machen wollte.“ Sie sagt es. Einfach so. Obwohl es in der Familie Malfoy bestimmt auch goldene Regeln für die Ausdrucksweise einer Dame gibt. Es ist fast so, als würden sie in einer Geheimsprache sprechen.

Zu ihrer Verwunderung  - er ist 15, vielleicht auch schon 16 und sie haben keinen Grund, so höflich miteinander umzugehen, sie tun nur beide so, als würden ihnen mahnende Erwachsene die Lippen lesen -  grinst er nicht dämlich, sondern nickt nur und verschwindet nun wirklich in seinem Abteil. Mit pochendem Herzen geht sie daran vorbei und verbietet sich, einen Blick durch die schmale Scheibe in der Tür zu werfen. Es muss sie nicht interessieren, mit wem er befreundet ist und mit wem er diesen seltsamen Austausch von Floskeln und ehrlich gemeinten Bemerkungen teilen wird.

Auf dem Rückweg, mit klarem Kopf, packt sie dann doch die Neugierde und sie riskiert einen Blick in das Abteil. Beinahe wäre ihr ein Laut der Überraschung erfahren. Falls sich niemand unter der Tür auf dem Boden versteckt oder sich ganz dicht an die Innenwände des Abteils presst, ist Lucius der einzige Fahrgast. Er hat den Kopf an die Scheibe gelehnt und blättert konzentriert durch ein Buch.

Eine Sekunde lang denkt sie ernsthaft darüber nach, anzuklopfen und ihm ihre Gesellschaft anzubieten, doch dann besinnt sie sich darauf, dass sie keine Freunde sind. Und dass eine Dame sich niemals aufdrängt. Sie lässt ihre Hand sinken und geht zurück zu dem Abteil, in dem Bellatrix, Andromeda und Rabastan prompt Witze darüber reißen, ob die Maulende Myrthe sie etwa bis in den Zug verfolgt hat.

Chapter 2: Nachtmusik

Chapter Text

2 – Nachtmusik



Eine Empfindung, die beinahe so etwas wie Stolz ist, hat sie durchflutet, als sie das Vertrauensschülerabzeichen zum ersten Mal in den Händen gehalten hat, doch nun, am ersten Abend ihres ZAG-Jahres, begreift sie erst, was der Besitz dieses Abzeichens bedeutet. Es ist der Faulheit von ihrem Hauslehrer Horace Slughorn geschuldet, dass sie neben Albert Grape steht, der sein Abzeichen wie einen Erstgeborenen umklammert, und darauf wartet, sich von Lucius Malfoy und einem Mädchen, das Andromeda nur Pisscilla nennt, weil sie „eine Pissnelke und sonst nichts“ ist, einen Vortrag über die Pflichten von Vertrauensschülern anzuhören.

Während Priscilla Robinson mit leicht säuerlicher Miene vor ihnen steht und anscheinend gar nicht daran denkt, den Mund zu öffnen, verspätet Lucius Malfoy sich. Beim Abendessen hat Slughorn ihr mit einem Augenzwinkern mitgeteilt, dass die „alte Garde“ sich ihrer Person annehmen würde. Punkt acht Uhr im Gemeinschaftsraum, der am ersten Abend wie leergefegt ist, weil alle mit vollen Bäuchen im Bett liegen und sich müde über die Sommerferien austauschen. Narzissa hat sich zusammengerissen und darauf geachtet, nicht zu viel zu essen, damit sie nicht träge wird und nichts vergisst, was sie heute zu hören bekommt. Sie ist die erste Vertrauensschülerin ihrer Generation. Wie durch ein Wunder hat sie einmal in ihrem Leben so eine Art akademische Leistung erbracht, die weder Bella noch Andromeda gelungen ist. Jetzt will sie sich auf gar keinen Fall blöd anstellen.

Das Herz schlägt ihr bis zum Hals, als Lucius Malfoy mitsamt schief sitzender Krawatte schließlich auftaucht. Seit der etwas merkwürdigen Konversation vor den Weihnachtsferien haben sie nicht mehr wirklich miteinander gesprochen. Wenn er nicht dabei verblieben wäre, sie zu grüßen und damit eindeutig wahrzunehmen, dann hätte sie leicht vergessen können, dass er existierte.

„Also, Narzissa und … Albert, richtig?“ Neben ihr erbleicht Albert und nickt hastig. Lucius Stimme klingt anders als sonst, irgendwie schneidend und sie kann nachvollziehen, dass Albert sich davon einschüchtern lässt, doch mit so einem Auftritt kann man sie nicht beeindrucken. Sie hat das Gefühl, bereits genug über Lucius Malfoy zu wissen, um ihn nicht so leicht zu fürchten. Vielleicht ist das falsch, vielleicht ist das sogar dumm, aber sie kann nichts daran ändern, dass sie sich darüber freut, dass er aufgetaucht ist. Wenn sie Priscilla einen ganzen Abend lang zuhören müsste, dann würde sie verrückt werden. „Also, Professor Dumbledore verteilt zu Beginn jeden Schuljahres die „Dienstpläne“ für die Patrouillen. Ihr wisst wahrscheinlich, dass es die Aufgabe eines Vertrauensschülers ist, nicht nur innerhalb seines Schulhauses, sondern auch außerhalb für Ordnung zu sorgen. Um sicherzugehen, dass die Ausgangssperre eingehalten wird und um Mr. Filch zu entlasten, gibt es zwei Tage in der Woche, an denen von zwei Vertrauensschülern die nächtlichen Patrouillen übernommen werden. Ihr müsst also einmal im Monat eine Freitag- oder Samstagnacht opfern. Ferner sind alle Vertrauensschüler dazu angehalten, den Erstklässlern dabei zu helfen, sich in Hogwarts zurechtzufinden und die Schulregeln zu gegebenen Anlässen zu erläutern. Die Betreuung aller jüngeren – und gegebenenfalls natürlich auch der älteren – Schüler ist obligatorisch. Insofern sich das Passwort für den Gemeinschaftsraum ändert, ist es die Aufgabe der Vertrauensschüler, alle Schüler des Hauses zeitnah über diese Veränderung zu informieren. Die Privilegien eines Vertrauensschülers sind unter anderem die Nutzung des Badezimmers im fünften Stock sowie die Flexibilität der Ausgangssperre. Ohne Absprache mit dem Lehrkörper dürfen bis zu 50 Hauspunkte pro Tag pro Schüler verteilt oder abgezogen werden. Diese Macht darf jedoch keinesfalls missbraucht werden, da besonders Professor McGonagall immer ein Auge auf die Punktestände der Häuser hat und ihr gegebenenfalls Rechenschaft über jeden Abzug und jede Ausgabe von Punkten ablegen können müsst. Bei den Patrouillen seid ihr nicht verpflichtet, eure Schuluniformen zu tragen, doch das Abzeichen muss deutlich erkennbar an eurer Kleidung befestigt sein. Wenn ihr eure Schuluniformen tragt, muss das Abzeichen ebenfalls mitgetragen werden, damit ihr für die anderen Schüler klar als Ansprechpartner zu erkennen seid. Primär sind wir natürlich den Schülern von Slytherin verpflichtet, aber es ist trotzdem eine Frage des Anstands, sich auch um die Anliegen eines Erstklässlers aus Ravenclaw oder einer Drittklässlerin aus Hufflepuff zu kümmern. Professor Dumbledore hat gemeinsam mit den Hauslehrern darüber entschieden, wer für das Amt des Vertrauensschülers gewählt wird. Ist diese Wahl einmal auf euch gefallen, bleibt es in eurem fünften sowie sechsten Schuljahr dabei. Bei groben Verstößen gegen die Schulordnung oder der Vernachlässigung der eben genannten Pflichten kann euch das Amt allerdings auch wieder entzogen werden.“ Lucius sieht abwechselnd zu ihr und dann wieder zu Albert, aber niemals zu Priscilla, die ihre Lippen fest aufeinanderpresst und anscheinend wirklich nur zur Dekoration dient. „Fragen?“

Albert hebt doch tatsächlich die Hand – genau wie im Unterricht – und sie kann sich nur knapp daran hindern, die Augen zu verdrehen. Eigentlich hat sie gar nichts gegen Albert, aber auf einmal schämt sie sich fast für seine Strebsamkeit und seine Ehrfurcht. Doch für Lucius scheint das genau das richtige Maß an Respekt zu sein, denn er nickt großmütig.

„Wie werden die Patrouillen aufgeteilt sein? Ich habe es jetzt so verstanden, dass pro Woche immer ein Schulhaus patrouilliert. Werden Narzissa und ich zusammen unterwegs sein oder wie gestaltet sich das?“ Die Frage ist gar nicht mal schlecht, das muss sie zugeben. Auch wenn sie darüber gar nicht nachgedacht hat, interessiert sie die Antwort.

„Am Anfang wird einer von euch jeweils mit einem von uns unterwegs sein, damit ihr seht, wie man sich bei einer Patrouille zu verhalten hat.“ Priscilla hat doch wirklich den Mund geöffnet, um sich Alberts Frage zu widmen. Vielleicht ist sie doch keine komplette Fehlbesetzung, sondern spricht nur nicht gerne. „Falls einer von euch krank ist oder aus anderen Gründen meint, nicht an der Patrouille teilnehmen zu können, dann ist das mit Lucius und mir abzusprechen. Mindestens 24 Stunden vorher. Außer euch brechen spontan die Beine. Ich schätze es nicht, ganz plötzlich für jemanden einzuspringen, der verschläft, Migräne hat oder meint, sich anderweitig verabreden zu müssen. Unzuverlässigkeit ist eine disqualifizierende Eigenschaft, aber ich will mal daran glauben, dass Professor Slughorn sich bei seiner Wahl etwas gedacht hat.“

Narzissa kann gut damit leben, unterschätzt zu werden. Daran ist sie gewöhnt. Aber diese Art von Unterstellungen, die Priscilla da hervorbringt, kann sie auf den Tod nicht ausstehen. Noch vor wenigen Minuten hätte sie geschworen, dass sie es nicht ertragen könnte, mehrere Stunden mit Lucius Malfoy durch das zugige, dunkle Schloss zu laufen, doch nun hoffte sie von ganzem Herzen, keine Zeit mit Priscilla Robinson verbringen zu müssen.

„Wann wird die erste Patrouille stattfinden?“ Der erste Schultag ist auf einen Dienstag gefallen, dementsprechend kann sie sich noch ein bisschen an ihr Abzeichen gewöhnen und die wuseligen Erstklässler beobachten, ehe es zum Ernstfall kommt.

„Gleich am Wochenende. Am Freitagabend wird Priscilla mit dir, Albert, unterwegs sein und Narzissa wird mich samstags begleiten.“ Irgendetwas an dieser Formulierung kommt ihr merkwürdig vor und sie braucht nur wenige Sekunden, um den Fehler zu finden. Begleiten. Nachdem sie nicht mit ihm zu Professor Slughorns Weihnachtsfeier gegangen ist, wird sie nun doch seine Begleitung sein. Wenn er sich diese Ironie selbst ausgedacht hat und es nicht bloßer Zufall ist, dass er gerade dieses Wort gewählt hat, dann hat sie seinen Sinn für Humor deutlich verkannt.

„Noch mehr Fragen?“ Priscilla kneift die Augen zusammen und fixiert Narzissas Nasenspitze. Hat Andromeda eventuell vergessen zu erwähnen, dass die Abneigung, die sie ihrer Zimmergenossin entgegenbringt, auf Gegenseitigkeit beruht? Oder hätte Narzissa sich das schön selber denken können?  „Das Passwort für den Gemeinschaftsraum lautet Ursa Minor. Wie das Sternbild. Das Passwort ändert sich, wie ihr wisst, für gewöhnlich alle zwei Monate. Das Passwort für das Badezimmer der Vertrauensschüler bleibt jeweils ein Schuljahr lang gleich – der Wechsel erfolgt üblicherweise in oder nach den Weihnachtsferien. Gegenwärtig lautet es Pygmalion. Es ist untersagt, das Passwort aufzuschreiben oder weiterzugeben. Wenn ihr es vergesst, dann wendet euch an Lucius oder mich.“

Noch viel deutlicher kann gar nicht werden, dass Priscilla sie für ganz schön beschränkt hält, doch sie verspürt keinerlei Lust, sich mit der Sechstklässlerin anzulegen, deshalb nickt sie nur brav und gähnt hinter vorgehaltener Hand. Diese Geste wird von Lucius bemerkt.

„Dann wollen wir euch auch gar nicht länger aufhalten. Kommt bei weiteren Nachfragen jederzeit auf uns zu oder wendet euch im Zweifelsfall an Professor Slughorn. Gute Nacht.“

* * *



„Herzlichen Glückwunsch zur Verbeamtung.“ Rabastan Lestrange ist eigentlich eher ein Freund von Bella als ein Freund von ihr und sie ist überrascht, dass er sich beim Frühstück neben sie setzt. Er ist ein Siebtklässler und sie hat schon oft gehört, wie in den Mädchentoiletten von ihm geschwärmt wird. Von seinen dunklen, fast schwarzen Augen mit den dichten Wimpern und den samtigen, dunkelbraunen Haaren. Obendrein ist er der Kapitän der Hausmannschaft und spielt als Treiber, was nicht unwesentlich zu seinem Grad an Bekanntheit und Beliebtheit beiträgt.

„Dankeschön.“ Narzissa weiß nicht, ob sie Rabastan wirklich leiden kann, aber sie hat eigentlich auch nichts gegen ihn und es ist nett, dass er ihr Abzeichen bemerkt und ihr ganz ohne Ironie gratuliert. Ist er selbst auch Vertrauensschüler gewesen? Sie weiß es nicht, doch sie kann sich noch daran erinnern, dass sein älterer Bruder Rodolphus Schulsprecher in ihrem ersten Hogwartsjahr gewesen ist.

„Und wie geht es dir sonst so? Hattest du einen schönen Sommer? Bist du schon aufgeregt wegen den Zaubergradprüfungen?“ Diese Flut an Fragen trifft sie mehr als nur ein wenig unvorbereitet und sie nippt erst einmal an ihrem Tee, um sich wenigstens ein paar Sekunden Zeit zu verschaffen.

„Die Ferien waren… eigentlich wie immer. Nicht besonders aufregend, aber es war schön, nochmal ein bisschen Zeit mit Bella verbracht zu haben. Ich vermute, sie wird mir fehlen.“ Es war irgendwie bedauerlich, dass sich ihre Schulzeiten doch so wenig überschnitten hatten. In Bellas ersten drei Jahren war Narzissa nicht hier gewesen und in ihren drei letzten Schuljahren würde Bella fehlen und die Welt entdecken. Es war komisch, nicht einmal zu wissen, wo sie sich gerade aufhielt. Sicher, es würde ihr gut gehen, da machte Narzissa sich gar keine Sorgen, aber sie hatte keine Vorstellung davon, wie das Leben ihrer Schwester nun aussah, die sich in Moskau für das Studium der „Schwarzen Zauberkunst“ eingeschrieben hatte. Ihr Mangel an Vorstellungskraft war frustrierend und sie hoffte auf einen langen Brief von Bella, die sich sehr knapp und lapidar, aber auch sehr wortreich ausdrücken konnte. Je nach Tagesform.

„Ja… mir wird sie auch fehlen. Sie war nicht so langweilig wie die anderen Leute hier.“ Rabastan lächelt. „Anwesende selbstverständlich ausgeschlossen.“ Noch einmal nippt Narzissa an ihrem Tee und ist über die Maße erleichtert, als sie Professor Slughorn bemerkt, der die Stundenpläne ausgibt und bei ihnen angelangt ist.

„Guten Morgen, Miss Black.“ Mit einer gewohnt großen Geste überreicht Horace Slughorn ihr den Stundenplan, der schon auf den ersten Blick unangenehm voll aussieht. Im nächsten Jahr wird alles besser. Das fünfte Jahr ist das Schlimmste. Alle sagen sie das. „Mr. Lestrange, ich sehe Sie gleich.“ Mit einem Zwinkern von Slughorns Seite erhält auch Rabastan seinen Stundenplan und einen Augenblick lang sehen sie beide dem Professor nach, der Hosenträger in der Farbe von Kürbissen über einem himmelblauen Hemd trägt. An seinem Hinterkopf lichten sich die graubraunen Haare bereits und sie überlegt nicht zum ersten Mal, wie alt ihr Hauslehrer wohl sein mag.

„Ich verstehe nicht, wie man zugleich so brillant sein und sich so albern kleiden kann.“ Kopfschüttelnd wirft Rabastan einen flüchtigen Blick auf seinen eigenen Stundenplan und betrachtet dann wesentlich interessierter ihr Exemplar, das sie neben ihrer Tasse ablegt hat.

„Du hältst ihn für brillant?“ Während er die Stimme nur gesenkt hat, flüstert sie beinahe. Das ist überflüssig, wenn man den Geräuschpegel in der Großen Halle bedenkt, doch sie will unter keinen Umständen, dass jemand hört, wie sie über einen Lehrer lästert.

„Ja. Vorausgesetzt er hat seine wissenschaftlichen Publikationen nicht irgendwo abgeschrieben, aber ich gehe nicht davon aus, da die Veröffentlichungen durch die Magische Universität Oxford erfolgt sind. Die Art, wie er unterrichtet, ist himmelweit von seinen Aufsätzen über den modernen Liebestrank entfernt. Er ist ein Pionier. Mir ist schleierhaft, warum er sein Leben damit verbringt, Elfjährigen zu erklären, wie sie Blubberwasser brauen können.“ Der verständnislose, abfällige Unterton in Rabastans Stimme behagt ihr nicht. Sie kann beinahe fühlen, dass gleich jemand von verschenktem Potenzial spricht. Sie ist ganz besonders empfindsam, wenn es darum geht. Vielleicht, weil sie schon oft genug von ihrer Mutter gehört hat, dass sie sich mehr anstrengen könnte.

„Vielleicht gefällt es ihm, zu unterrichten. Vielleicht ist er einfach gerne in Hogwarts?“

„Ja, vielleicht.“ Rabastan lächelt ihr wieder zu, aber er wirkt irgendwie zerstreut und als er sich räuspert und beginnt, seinen eigenen Stundenplan intensiv zu studieren, da weiß sie, dass gerade irgendetwas passiert ist, das sich ihrem Verständnis entzieht. Sie kann förmlich spüren, wie Rabastans Aufmerksamkeit ihr entglitten ist. Ebenso gut hätte ihr ein Teller zu Boden fallen können.

* * *



Als sie zum dritten Mal ins Badezimmer geht, um ihr Spiegelbild zu überprüfen, kommt sie sich richtiggehend lächerlich vor. Es ist Samstag und sie wird heute zum ersten Mal patrouillieren. Bislang hat sie nicht besonders viel Gebrauch von ihren Privilegien als Vertrauensschülerin gemacht, sondern nur geduldig die Fragen einer Gruppe Zweitklässlerinnen beantwortet, die offenbar seit einem Jahr durch das Schloss irren und vergeblich nach der Eulerei suchen. Priscilla finden sie „gruselig“ und Lucius anzusprechen, das haben sie auch nicht gewagt. Narzissa ist sich nicht ganz sicher, ob es nicht besser wäre, wenn man sich auch vor ihr ein bisschen gruseln würde, aber sie erliegt nicht der Illusion, irgendwie furchteinflößend zu wirken. Trotzdem hat sie sich an diesem Abend sehr darum bemüht, ein wenig strenger und erwachsen auszusehen. Sie hat ihre Haare geflochten, ihr Gesicht noch einmal besonders gründlich gewaschen und eingecremt, obwohl sie erst am späten Morgen gebadet hat und sich schließlich für einen hochgeschlossenen, schwarzen Strickpullover entschieden, an dem das silberne Abzeichen besonders gut sichtbar ist. Da sie vermutet, dass es außerhalb der Schlafsäle und Gemeinschaftsräume abends sehr kalt wird, da das Schloss wohl kaum vollständig beheizt werden wird, hat sie eine Strickjacke und einen Schal übergezogen, die bei schlechten Lichtverhältnissen ebenfalls schwarz zu sein scheinen, obwohl sie beide aus weicher, dunkelblauer Wolle gefertigt wurden. Narzissa hofft, dass sie praktisch und gut gekleidet ist und keinen kapitalen Fehler begangen hat, auf den Lucius sie aufmerksam machen wird.

Sie ist pünktlich, er ist zu spät und sie erkennt bereits ein Muster. Nach fünf Minuten setzt sich sie auf das Sofa vor dem Kamin, von dem aus sie die einzige Uhr im Gemeinschaftsraum perfekt im Blick hat. Sie ärgert sich, nichts zu tun zu haben und fragt sich, ob Unpünktlichkeit und Unzuverlässigkeit nicht eigentlich ein und dieselbe Sache sind. Nach zehn Minuten erwägt sie ernsthaft, bei Professor Slughorn anzuklopfen und sich danach zu erkundigen, ob Lucius Malfoy stets mit der akademischen Viertelstunde plant, doch dann kommt er die Treppe von den Jungenschlafsälen herunter.
   
„Entschuldige die Verspätung, ich hatte eine kleine Auseinandersetzung mit meinem Mitbewohner.“ Er geht nicht näher auf die Art der Auseinandersetzung ein, doch warum sollte er auch. Das geht sie ja nichts an. Und offenbar ist Lucius jemand, der Auseinandersetzungen hat und sich darüber nicht sonderlich aufregt, sondern höchstens kurzzeitig ein wenig verstimmt ist. „Also, dann wollen wir los. Hast du deinen Zauberstab dabei?“

„Natürlich.“ Narzissa tippt gegen ihr Bein. Sie trägt Stiefel, in denen sich der Zauberstab außerordentlich gut verstauen lässt.

„Sehr gut. Damit bist du schon mal zu hundert Prozent besser vorbereitet als Albert.“ Lucius Mundwinkel zucken und er bedeutet ihr, zuerst den Gemeinschaftsraum zu verlassen. Als sie beide vor dem Porträt von Silvia Slytherin stehen, die den Eingang zum Gemeinschaftsraum bewacht, wirkt Lucius noch immer recht gut unterhalten. „Priscilla wollte mich beim Mittagsessen davon überzeugen, dich noch einmal explizit daran zu erinnern, dass du deinen Zauberstab mit dir führst und möglichst kein kurzärmeliges Oberteil trägst, aber ich habe ihr versichert, dass ich an deinen gesunden Menschenverstand glaube.“

„Priscilla hat keine besonders hohe Meinung von mir, kann das sein?“

„Sie ist eine sehr kritische Person, aber eigentlich nicht verkehrt.“ Irgendetwas an der Art, wie er das sagt, gefällt ihr nicht. Denkt er, sie würde schlecht über Priscilla reden? Nimmt er Priscilla gerade in Schutz? Hat sie sich irgendwie im Tonfall vergriffen? Sie will etwas sagen, aber sie findet die richtigen Worte nicht – und wenn sie jetzt schon um Worte ringt, wie soll sie dann nur die nächsten Stunden überstehen? Sie gehen die Treppe zur Eingangshalle hoch und als sie auf ihre Beine guckt, sieht sie, dass sie fast im Gleichschritt laufen und stolpert beinahe über ihre eigenen Füße. Ihre Wangen brennen und sie fühlt sich auf einmal sehr dumm.

„Was genau machen wir jetzt? Gibt es eine bestimmte Strecke, die wir laufen?“ Ihre Stimme klingt ganz klar und sie verhaspelt sich nicht. Wenn ihre Füße sich schon gegen sie stellen, dann kann sie zumindest ihre Stimmbänder kontrollieren.

„Nicht wirklich. Es ist sinnvoll, sich immer wieder zu bewegen und nicht zu lange an einer bestimmten Stelle zu verweilen, aber wir müssen nicht acht Stunden durchgehend laufen. Im Laufe der Nacht sollte jedes Stockwerk zweimal durchkreuzt werden. Gänge zum Astronomieturm, in die Eulerei, in den Korridor der Bibliothek und durch die Große Halle sind nicht obligatorisch, aber sinnvoll. Die Türen des Schlosses können nach neun Uhr und vor fünf Uhr früh nur von Personen, die sich im Schloss befinden, geöffnet werden. Wenn wir also beispielsweise den Aufgang zum Astronomieturm öffnen, dann obliegt es unserer Verantwortung, dafür zu sorgen, dass wir nichts mit zurück ins Schloss lassen. Insofern uns zwischen neun und elf Uhr Schüler begegnen, sind wir dazu angehalten, eine Ermahnung auszusprechen und eine geringe Anzahl an Hauspunkten abzuziehen. Nach elf Uhr werden mehr Hauspunkte und eventuell eine Strafarbeit fällig. Sollte sich jemand deinen Anweisungen widersetzen, dann gehst du mit dem betreffenden Schüler zu Professor Slughorn oder zu Professor Dumbledore. Das Konsultieren von Mr. Filch ist nicht empfehlenswert, da Mr. Filch dann die ganze Nacht nicht von deiner Seite weichen wird.“ Er schenkt ihr ein schwaches, tiefleidendes Lächeln. „Meistens passiert nicht besonders viel. Der ärgste Störenfried ist Peeves. Lass dich bloß nicht von ihm erschrecken, er lebt dafür, in Ritterrüstungen zu schlüpfen und die Vertrauensschülerinnen zu ängstigen.“

„Ich bin nicht besonders ängstlich.“

„Das wollte ich damit auch nicht gesagt haben. Falls es besondere Vorkommnisse gibt, legst du Professor Slughorn im Laufe des nächsten Tages eine kurze, schriftliche Ausführung dieser Vorkommnisse vor. Alles verstanden?“

„Alles verstanden. Also gibt es in der Regel keine besonderen Vorkommnisse?“

„Nicht wirklich… aber wenn ich jetzt behaupte, dass nie etwas passiert, dann passiert heute Nacht unter Garantie irgendetwas. So ist das doch immer.“ Ist das immer so? Sie glaubt zu wissen, was er meint. Selbsterfüllende Prophezeiungen. So etwas gibt es, aber ihr will auf Teufel komm raus kein Beispiel dafür aus ihrem eigenen Leben einfallen, darum nickt sie nur und hofft, dass diese Stummheit heute noch vergeht.

„Bist du gerne Vertrauensschüler?“ Das ist eine denkbar plumpe Frage, aber sie glaubt nicht, dass sie es ertragen kann, schweigend neben ihm herzulaufen. Auch wenn ihr früher oder später die Fragen ausgehen werden und er sicher auch die Lust verliert, ihr zu antworten. Sie hat nach dem Mittagessen extra ein Nickerchen gemacht, um nicht ganz so rasch zu ermüden.

„Ja, schon. Es wird sich sicher gut auf meinem Abschlusszeugnis machen… und das Badezimmer ist wirklich sehr schön.“ Wusste er, dass das eine schwache Antwort war oder warum sah er sie so komisch an? „Was ist mit dir? Bei Albert hab ich das Funkeln in den Augen direkt gesehen und wer, wenn nicht er, hätte auch Vertrauensschüler werden sollen, aber bei dir… das ist nicht böse gemeint, aber ich hab nicht damit gerechnet, dass du es wirst.“

„Wieso denn das nicht?“ Er sagt zwar, dass er es nicht böse meint, aber irgendwie ist es trotzdem eine Beleidigung. Während sie an den Klassenzimmern im ersten Stock vorbeigehen und er alle Türklinken herunterdrückt, um zu überprüfen, ob sie fest verschlossen sind, denkt sie darüber nach, welches der Mädchen aus ihrem Schlafsaal wohl eine naheliegende Wahl für den Posten gewesen wäre, den sie bekommen hat.

Elaine wird zwar von Horace Slughorn verehrt, aber die Gründe dafür kennt Narzissa nicht. Ihr will kein Fach einfallen, in dem Elaine besonders glänzt, aber man kann auch nicht behaupten, dass sie sich irgendwo besonders blöd anstellen würde. Sie ist Durchschnitt, guter Durchschnitt, vielleicht sogar eine der uninteressantesten Personen, die Narzissa kennt. Die anderen beiden Slytherinmädchen aus ihrem Jahrgang sind Diana Harvey und Samara Greengrass. Diana ist auffallend groß und nicht wirklich dick, sondern gut proportioniert, aber riesig. Manchmal hat Narzissa das Gefühl, ein vollkommen gewöhnlich aussehendes Mädchen durch ein Vergrößerungsglas zu betrachten, wenn sie Diana sieht. Trotz ihrer Größe ist Diana eine leidenschaftliche Tänzerin, die sich stetig darüber beklagt, dass es in Hogwarts keine Möglichkeit gibt, sich irgendwie sportlich zu betätigen, wenn man nicht gerade Quidditch spielen will oder bereit ist, in einem leeren Klassenzimmer auf den Zehenspitzen zu tänzeln. In den letzten beiden Jahren hat sich Diana außerdem als sehr begabt im Umgang mit Zahlen entpuppt. Während Narzissa in Arithmantik durchgehend leidet, ist Diana ohne jede Mühe Klassenbeste geworden. Manchmal verbessert sie sogar Professor Vektor. Allerdings ist Diana eine sehr vergessliche Person, sie macht in zwei von drei Fällen ihre Hausaufgaben und neigt dazu, länger zu schlafen als sie sollte. Im krassen Gegensatz dazu scheint Samara quasi nie zu schlafen. Sie geht grundsätzlich nach Narzissa ins Bett und hat den Schlafsaal häufig schon verlassen, ehe irgendjemand sonst auch nur aufgestanden ist. Narzissa hat den Verdacht, dass Samara manchmal gar nicht in ihrem eigenen Bett schläft, sondern bei Viktor Nott übernachtet, einem Siebtklässler, der grundsätzlich schlecht gelaunt aussieht und mit niemandem spricht. Schon im letzten Schuljahr gab es immer mal wieder das Gerücht, dass Viktor und Samara ein Paar sind, aber bestätigt hat das bislang niemand – und wenn man Samara auf solcherlei Dinge anspricht, dann pflegt sie entweder abfällig zu schnauben oder hysterisch zu lachen.

Keines der drei Mädchen ist in Narzissas Augen übermäßig qualifiziert, um Vertrauensschülerin zu sein, doch das scheint Lucius Malfoy anders zu sehen – auch wenn er so guckt, als würde er bereits aufrichtig bereuen, dass er das einfach so zugegeben hat.

„Ich habe dich etwas gefragt.“ Er zuckt zusammen, aber das beeindruckt sie nicht. Manchmal behauptet ihr Vater, sie wäre eine kleine Tyrannin und wirft ihr die Namen von großen Diktatoren der Weltgeschichte nach, aber sie weiß, dass er sie damit nur ärgern will. Oder aufheitern. Je nachdem. (Aber ihm widerspricht auch nie jemand, nicht einmal Andromeda, die es als ihre Lebensaufgabe betrachtet, ihren Eltern stets mit einer gegensätzlichen Meinung zu begegnen, wenigstens wenn es um Kleinigkeiten geht.)

„Das war nicht besonders klug formuliert. Ich meinte damit nicht, dass ich denke, du wärst eine schlechte Wahl, aber ich hab nicht damit gerechnet, dass Slughorn dich aussucht. An Elaine hat er einen Narren gefressen, darum dachte ich, sie würde gewählt werden. Und Samara… na ja, sie kam mir immer sehr ordentlich vor – und ihr großer Bruder ist Schulsprecher gewesen. So was zählt ja auch.“ Sie steigen die schwingenden Teppen hoch in den zweiten Stock und sie kann nicht fassen, dass das immer noch der Anfang der Nacht ist. Schon jetzt hat sie das Gefühl, dass Lucius und sie aneinander vorbeireden, einander zerreden. „Aber ich freue mich, dass du es bist. Ehrlich.“

„Warum freut dich das?“

„So können wir endlich mal miteinander reden.“

„Das können wir doch sonst auch.“

„Machen wir aber nie.“ Das war korrekt, aber sie hatte auch nie das dringende Bedürfnis gehabt, sich so richtig mit ihm zu unterhalten. Mit Grauen erinnerte sie sich an den inneren Kampf, den sie im Hogwarts-Express geführt hatte.  Das war nicht unbedingt ihre Vorstellung von einem guten, schönen Gespräch. „Hast du dich denn gefreut, als der Brief kam? Hast du damit gerechnet?“ Sie schüttelt den Kopf und bemerkt seinen fragenden Blick. Es ist nicht eindeutig, was sie meint und er stört sich an nicht-eindeutigen Reaktionen, zumindest glaubt sie das.

„Ich habe nicht damit gerechnet… und ich habe mich gefreut, weil ich es nicht erwartet habe. Normalerweise bin ich nicht die erste Wahl bei solchen Dingen und da nicht einmal meine Schwestern ausgesucht wurden, habe ich gar nicht darüber nachgedacht, dass diese Aufgabe an mich gehen könnte, aber als ich den zusätzlichen Brief gesehen habe… da hab ich mich wirklich gefreut. Meine Eltern waren sehr stolz auf mich, das war schön.“ Dabei ließ sie lieber unerwähnt, dass ihre Mutter beim Abendessen nachdenklich gefragt hatte, ob sie sich das denn auch zutrauen würde. Ob sie das Abzeichen nicht verlieren würde. Ihre Mutter behauptete immer, dass sie alle möglichen Dinge  vergaß und verlegte, nur weil vor beinahe zehn Jahren einmal eine Perlenkette unwiderruflich verschwunden war, nachdem ihre Mutter Narzissa an ihrem sechsten Geburtstag erlaubt hatte, sie zu tragen.  

Es ist schließlich doch leicht, erstaunlich leicht, mit Lucius zu sprechen. Im Sommer haben ihre Eltern allerlei Gäste empfangen und Bella war oft zu beschäftigt und Andromeda zu mürrisch, um die Hexen und Zauberer in ihrem Wohnzimmer mit Geschichten aus Hogwarts zu unterhalten. Etwa Anfang August hatte ein Freund ihres Vaters erstmalig gesagt, was sie doch für eine gute, kleine Gastgeberin sei – und mit dieser freundlichen Bemerkung hatte er ihren Ehrgeiz angestachelt. Der Rekord waren sechs Stunden, in denen sie sich beinahe durchgehend im Garten aufgehalten und mit einer Person jenseits der 30 geplaudert hatte. Lucius Malfoy war zwar kein pfeifenrauchender, monokeltragender Mittsechziger, der aus voller Kehle lachte, wenn sie von ihren Missgeschicken im Zaubertrankunterricht und den hitzigen Quidditchpartien erzählte, doch es war vergleichbar. Sie war gut darin, ihn zu unterhalten und auch, wenn sie sich gerne zurückhaltender gegeben hätte, entschied sie sich doch sehr schnell dafür, wieder in die Rolle der sommerlichen Tochter der Familie Black zu schlüpfen. Sich zurückzuhalten würde nämlich bedeuten, dass sie einander anschwiegen und durch das leere, unaufgeregte Schloss liefen und es von Minute zu Minute unangenehmer wäre, nichts zu sagen. Sie wollte ja gar nicht behaupten, dass sie ihn für einen Schwätzer gehalten hatte, doch es wunderte sie sehr, dass er Schwierigkeiten hatte, von sich aus ein Gesprächsthema aufzubringen. Wenn sie ihm einmal einen hübschen Anreiz geliefert hatte, dann ging er darauf ein, stellte Rückfragen und gab sich Mühe, eine gute Antwort zu finden, doch unaufgefordert sprach er kaum.

Um fünf Uhr morgens hellte sich der Nachthimmel allmählich ein wenig auf und sie war froh, dass sie in der Eingangshalle stehen blieben, noch einen Blick durch die geöffneten Türen der Großen Halle taten, aber sich nicht bewegten. Sie war erschöpft und ihre Füße schmerzten. Ihr Mund war trocken und sie wünschte, sie hätte weniger gesprochen oder öfter bei einem Waschraum gehalten, um etwas zu trinken. Kurz nach Mitternacht hatte Lucius ihr das Badezimmer der Vertrauensschüler gezeigt, dort hatte sie sehnsüchtig die Wasserhähne betrachtet und sich schließlich entschuldigt, um einen Schluck zu trinken.

Müde öffnete sie den Mund und schloss ihn wieder. Sie hatte keine Lust mehr, sich anzustrengen, die letzten Minuten und Meter würde sie wohl auch aushalten, ohne die Stille mit ihrer Stimme zu füllen. Nebeneinander stiegen sie hinab in die Kerker und sie riskierte einen Seitenblick zu ihm. Er sah irgendwie erleichtert aus. Weil er ins Bett konnte? Oder weil sie endlich den Mund hielt? Am Ende war sie ihm die ganze Nacht lang auf die Nerven gegangen. Waren ihre Gesprächsthemen besonders interessant gewesen? Nein, eher unpersönlich. Schlagzeilen, Schule, Quidditch, sogar über den ungewöhnlich kalten September hatten sie gesprochen.

„Hast du eigentlich einen Freund?“ Genau das ist die Frage, mit der sie um fünf Uhr morgens, nach acht Stunden gediegenem Smalltalk nicht umgehen kann. Sie schaut ihn an und hat dabei das Gefühl, dass ihre Augen ganz klein geworden sind, obwohl Narzissa sie doch weit aufreißen möchte. Er sieht sie nicht einmal an, er hat den Blick nach vorn gerichtet. Trotzdem schüttelt sie nur den Kopf. Das wird er schon bemerken. Nein, sprechen kann sie jetzt nicht mehr. „Gut für dich. Priscillas Freund hat letztes Jahr mit ihr Schluss gemacht, weil sie freitagabends nie Zeit für ihn hatte und samstags immer schrecklich müde gewesen ist.“

Während sie diese Information verarbeitet, nennt er dem dösenden Porträt von Silvia Slytherin das Passwort. Ohne die Augen zu öffnen, schwingt das Bild zur Seite und gibt den Eingang zum Gemeinschaftsraum frei. Es ist kalt, aber verglichen mit den Korridoren fühlt es sich warm an. Das Feuer im Kamin ist vermutlich schon vor Stunden erloschen und die einzige Lichtquelle sind die immer brennenden Leuchter neben den Treppen zu den Schlafsälen. Durch die  gläserne Kuppel über der Ecke mit den gemütlichen Sofas schimmert das trübe Wasser am Grund des Schwarzen Sees. Wenn die Sonne scheint oder es ein wirklich heller Tag ist, kann man die herumwirbelnden Algen und Wasserpflanzen genau erkennen, manchmal sieht man dort sogar Bewohner des Sees, doch um diese Uhrzeit könnte sie ebenso gut in ein lichtloses Zimmer blicken.

Ihre Füße haben sie wie von selbst in Richtung der Treppe zu ihrem Schlafsaal getragen, doch sie hält inne. Lucius steht neben ihr und wirkt unentschlossen. Aber immer noch erleichtert. So als wäre er wirklich froh darüber, ihre Stimme nicht länger hören zu müssen. Sie schimpft sich, weil sie seinen Gesichtsausdruck so persönlich nimmt. Ist sie denn nicht auch froh, endlich ins Bett zu kommen? Die Aussicht, den gesamten Sonntag den Mund nicht öffnen zu müssen, ist verlockend, oder nicht?

„Gute Nacht, Lucius. Danke, dass du mir heute alles gezeigt hast.“ Danke, dass du mich und mein Geplapper ertragen hast. Es klingt als würde sie sich entschuldigen und das ärgert sie. Über sich selbst ärgert sie sich sonst sehr selten, das muss die Uhrzeit sein. In den frühen Morgenstunden lernt man sich selbst eben erst so richtig kennen.

„Gute Nacht.“

Chapter 3: Die Farbe von Veilchen

Chapter Text

3 – Die Farbe von Veilchen



Man sagte ihr häufiger, dass sie müde aussah, obwohl es nur eine Nacht im Monat war, in der sie nicht zum Schlafen kam. Zu Beginn des Oktobers spazierte sie mit Albert Grape durch das Schloss, ertappte einen Hufflepuff dabei, wie er ein Buch über Liebestränke aus der Bibliothek entführen wollte, zog ihm zwanzig Hauspunkte ab und langweilte sich. Albert sprach fortwährend von Quidditch und um halb zwei am Morgen traf Narzissa die Erkenntnis, dass sie Quidditch im Grunde ihres Herzens einfach nur langweilig fand.

Schon einige Wochen zuvor hatte man ihr mitgeteilt, dass sie die Patrouille in der Nacht des 31. Oktobers, einem Samstag, übernehmen musste, doch sie hatte diese unangenehme Pflicht solange wie möglich verdrängt. Das war ein außerordentliches Pech und sie war dafür ausreichend oft bemitleidet worden. Selbst ihre Zimmergenossinnen hatten sich einfühlsam geäußert, Samara hatte sogar versprochen, ihr zuliebe keine Geister heraufzubeschwören, die ihr zusätzlich Arbeit bereiten könnten.

Ihre Schwester ließ sie den halben Tag verschlafen und weckte sie pünktlich zum Festmahl. In zwei Stunden würden alle anderen im Gemeinschaftsraum sitzen, Kürbissaft mit einem Schuss Schnaps trinken und sich Gruselgeschichten erzählen. Solche gemeinschaftlichen Momente, keine richtigen Partys, aber doch Abende, an denen niemand früh ins Bett ging und man auch mal mit Menschen sprach, die man sonst übersah, waren ihr wichtiger als sie angenommen hatte und sie kam nicht gegen ihre schlechte Laune an. Andromeda unternahm mehr als nur einen Versuch, sie aufzuheitern, indem sie ihr immer ein neues Stück Kürbiskuchen auf den Teller legte, alberne Trollwitze erzählte und schließlich verschwörerisch die Stimme senkte und sie mit funkelnden Augen ansah.

„Ich habe übrigens aus einer sicheren Quelle erfahren, dass Rabastan eine Schwäche für dich zu haben scheint.“ So wie Andromeda das betonte, sollte sich Narzissa darüber freuen. „Jetzt komm schon, Zissy, ist dir das denn völlig egal?“

„Heute ist es mir egal.“ Sie schüttelte den Kopf, als Andromeda die Hand nach einem weiteren Stück Kuchen ausstreckte. „Mir ist schlecht.“

„Du kannst dich aber auch wirklich schön selbst bemitleiden! Vielleicht wird es ja ganz lustig? Vielleicht schließt du Freundschaft mit ein paar Geistern, die sich nur in dieser einen Nacht zeigen oder bei Sir Nicholas zu Gast sind? Und außerdem… was hättest du heute denn noch gemacht? Du hättest gejammert, dass du zu viel gegessen hast und dich darüber beschwert, dass niemand so gute Geistergeschichten erzählen kann wie Bella. Dann wärst du ins Bett gegangen und hättest deine Zimmergenossinnen verflucht, die zu viel trinken und sich mitten in der Nacht übergeben. Wenigstens ist das in den letzten zwei Jahren so gewesen.“ Es war ganz furchtbar, wie gut ihre Schwester sie kannte. Vollkommen ätzend war das. „Hab lieber Mitleid mit mir! Ich muss heute Abend ohne dich und ohne Bella auskommen und werde mich tödlich langweilen.“

„Ach, so wie sonst auch? Du bist abends kaum noch im Gemeinschaftsraum.“ Schon vor den Sommerferien hatte ihre Schwester auffallend viel Zeit an einem ihr unbekannten Ort verbracht, doch Narzissa hatte angenommen, dass sie für die Prüfungen lernte und sich dafür in der Bibliothek eingenistet oder in irgendein leeres Klassenzimmer zurückgezogen hatte.

„Ich muss viel lernen. Es ist mein letztes Schuljahr. Ich will nicht, dass meine Zensuren schlechter werden, nur weil ich zu wenig tue und alle Lehrer auf einmal strenger benoten.“ Ihre Schwester war eine sehr gute Lügnerin und obendrein eine entsetzliche Streberin, aber Narzissa fand trotzdem, dass sie ein bisschen zu dick auftrug. „Was? Guck nicht so. So siehst du aus wie Mum.“

„Ich frage mich nur, wofür du so gute Noten brauchst? Es ist ja nicht so, als hättest du irgendwelche großen Pläne für die Zukunft, von denen du irgendwem jemals erzählt hättest. Wenn du wie Bella studieren willst, dann musst du nur in den Fächern gut sein, die du studieren willst und wer will schon etwas studieren, was ihm so richtig schwer fällt? Oder willst du doch Aurorin werden?“ Andromedas Mundwinkel zuckten. Das war ein Witz unter ihr und ihren Schwestern, seitdem Bellatrix in ihrem sechsten Schuljahr im Rahmen einer Berufsberatung die freudige Nachricht erhalten hatte, dass sie alle erforderlichen ZAGs hatte, um sich nach ihrem Abschluss in der Aurorenzentrale zu bewerben. Mit Kusshand würde man sie nehmen, hatte die arglose Hexe von der ministeriellen Berufsberatung verkündet und sich darüber gewundert, dass ihre Schwester lachend aufgestanden und gegangen war.

„Ich will eben alle Möglichkeiten haben. Dad behauptet zwar immer, die Welt würde uns offen stehen, aber das stimmt doch eigentlich nicht. Irgendwann werden alle von uns erwarten, dass wir heiraten und Kinder haben und wenn wir bis dahin nichts erreicht haben, dann werden wir nie irgendetwas erreichen.“

„Das ist doch Unsinn!“ Andromeda lacht auf und streicht mit ihren Fingernägeln über Narzissas Unterarm. Ebenso gut könnte sie ihr den Kopf tätscheln und ihr sagen, wie naiv sie doch war.

„Das ist kein Unsinn. Bella hat es auch kapiert – oder was denkst du, warum sie sich ausgerechnet in Moskau um einen Studienplatz beworben hat? Sie will Abstand, sie will etwas schaffen. Vielleicht hofft sie auch, Mum und Dad vergessen, dass sie existiert, wenn sie nur lange genug wegbleibt.“ Widerwillig musste sie sich eingestehen, dass das sehr einleuchtend klang. War sie nicht erstaunt gewesen, dass ihre Schwester förmlich ans andere Ende der Welt ging, nur um zu studieren? Hätte sie dahinter nicht einen größeren Plan erkennen müssen? War sie denn wirklich so blind gewesen? Und so dumm, dass sie den Abschied ihrer Schwester nicht richtig ernst genommen hatte?

„Bella wird zurückkommen. Sie hat hier immer noch viele Freunde.“

„Bella kann überall viele Freunde finden. Du kennst sie doch. Wahrscheinlich hat sie längst fünf russische Genies, die sich vor ihr auf die Knie werfen und ihr Rosen nachschmeißen.“

Zum ersten Mal bemerkte sie einen Hauch von Bitterkeit in Andromedas Stimme. Eigentlich hatte sie immer angenommen, dass nur sie sich neben Bellatrix und ihrem Charme und ihrer Klugheit manchmal klein und unbedeutend vorkam. Schließlich fühlte sie sich in Andromedas Gegenwart doch auch immer noch ein bisschen klein und ein wenig unbedeutend. Ihre beiden Schwestern waren groß gewachsen und hatten die glänzenden, schwarzen Locken ihrer Mutter geerbt, während Narzissas eigene Haare ärgerlich glatt und merkwürdig blond waren. Nicht einmal goldblond, sondern ganz fahl, irgendwie ausgeblichen, fast schon weiß, wenn sie im Sommer zu viel Zeit draußen verbrachte.

„Aber wir sind hier. Uns wird Bella bestimmt nicht vergessen. Selbst wenn irgendein sibirischer Prinz ihr Herz erobern will!“ Das waren ihren tiefsten Überzeugungen, doch mit einem Mal glaubte sie nicht mehr daran. Wusste sie denn wirklich, was ihre Schwester bewegte? Woran ihr Herz hing? Und was sie einfach nur ertrug?

Gänzlich unerwartet fingen ihre Augen an zu brennen, ihre Hände zitterten und der süße Kuchen zog ihre Kehle zusammen. Schnell nahm Andromeda ihre Hand und drückte sie an ihr eigenes Gesicht, küsste ihre Finger wie früher als sie noch kleine Kinder gewesen waren und oft zu heftig gezankt hatten.

„Es tut mir leid, Zissy. So hab ich es nicht gemeint. Bella vergisst uns nicht. Ganz bestimmt nicht. Briefe an uns sind bestimmt schon unterwegs und an Weihnachten kommt sie gewiss auch nach Hause!“ Narzissa entzieht ihrer Schwester die Hand und richtet sich gerade auf. Sie ist kein kleines Kind mehr. Sie ist fast volljährig und sie weiß, dass ihre Schwestern und sie nicht für alle Zeiten jeden Moment miteinander teilen werden. Das hat sie doch wirklich kurz vergessen.

„Ist schon gut. Ich bin sentimental, ich bekomme bald meine Tage.“ Andromeda nickt verständnisvoll, greift noch einmal ihre Hand und drückt sie kurz. „Ich wünschte, ich könnte gleich einfach ins Bett gehen.“ Sie weiß, dass sie jammert und dass es sinnlos und obendrein anstrengend ist, wenn sie sich ständig beschwert, darum presst sie die Lippen aufeinander und zwingt sich zu lachen, als Andromeda ansetzt, die Geschichte eines Trolls zu erzählen, der in Gringotts einbrechen will. Die Troll-Scherze ihrer Schwester sind das Allerletzte, kein bisschen komisch, aber plötzlich kann sie aufrichtig über die Vorstellung lachen, dass so eine plumpe, grunzende Gestalt durch die sterile Eingangshalle der Magischen Zentralbank wankt und mit den Ohren in einem Kronleuchter hängen bleibt.

* * *



Anders als sonst ist der Gemeinschaftsraum noch brechend voll, als sie mit der Patrouille beginnen muss. Vergeblich hält sie nach Albert Ausschau und entscheidet sich schließlich dazu, vor dem Gemeinschaftsraum auf ihn zu warten. Sie hofft, dass er einen ähnlichen Gedankengang hat und freut sich schon, als etwas Silbernes im Dunkel der Kerker aufblitzt, doch dann tritt Lucius Malfoy aus dem Schatten heraus und sie spürt förmlich, wie ihr Lächeln einfriert und die Anspannung nach ihr greift.

„Albert hat sich wohl den Magen verdorben und fühlt sich nicht in der Lage, heute die Patrouille zu absolvieren. Ich habe ihn ins Bett geschickt und mich bereit erklärt, einzuspringen. Ich hoffe, das macht dir nichts aus?“

„Warum sollte mir das etwas ausmachen?“

„Du sahst ein wenig erschrocken aus, um ehrlich zu sein.“ Also hat ihr Gesicht sie wirklich für einen Moment verraten. Sie zwingt sich zu lächeln.

„Ich habe nur nicht erwartet, dich zu sehen. Es ist sehr pflichtbewusst, dass du deinen Halloweenabend opferst.“ Das hätte er nicht tun müssen. Er hätte Albert, der sicher nur unvorsichtig mit dem Punsch gewesen ist oder – ganz wie sie selbst – zu viel Zucker intus hat, auch einfach zwingen können, sich zusammenzureißen. Mit einem Mal wird ihr bewusst, dass ihr Herz lächerlich schnell schlägt. Sie ist gestresst. Von seiner puren Gegenwart. Unter dem weiten, bequemen Pullover, den sie nach dem Abendessen über eine weiche Stoffhose gezogen hat, wölbt sich ihr Bauch. Bella behauptet immer, sie sähe nach viertem Monat aus, wenn Narzissa in diesen Zustand gerät und ihre Mutter behauptet steif und fest, das wäre eine Lebensmittelunverträglichkeit. Aber in ihrer Familie gäbe es sonst keine Unverträglichkeiten oder Allergien. Sie zieht den Bauch ein und hofft, dass er abschwillt und sie nicht etwa mitten in der Nacht zur Toilette muss. Körperliche Bedürfnisse sind das Normalste auf der Welt, sie weiß das, aber trotzdem ist es ihr irgendwie unangenehm, wenn irgendeines dieser Bedürfnisse, abgesehen von Schlaf und Hunger, von Anderen bemerkt wird. Sie wird ja schon bei dem bloßen Gedanken daran rot. „Wollen wir dann?“

„Sicher.“ Zielstrebig geht sie in Richtung der Eingangshalle und bemerkt im Augenwinkel, dass er Schritt hält und sie sehr genau beobachtet. Sie hofft, dass er entweder gleich sagt, was ihm auf der Zunge liegt oder es einfach runterschluckt. Aber diesen Blick kann sie nicht unbegrenzt lange ertragen. „Geht es dir gut?“

„Ja!“

„Ich meine ja nur… wenn du dich auch schlecht fühlst, dann kann ich auch Priscilla fragen. Oder jemanden aus einem anderen Haus.“ Das reicht. Sie muss ein Zeichen setzen.

„Sag mal, macht dir das irgendwie Spaß, mir zu unterstellen, es würde mir nicht gut gehen? Findest du das nicht ein wenig bevormundend? Wenn ich mich nicht in der Lage fühle, zu patrouillieren, dann werde ich das wohl selbst wissen, oder?“ Sie ist sehr stolz auf sich. Sie klingt nicht zickig, sie hat die Stimme nicht erhoben, sondern zeigt ihm ganz ruhig seine Grenzen auf. Okay, vielleicht klingt sie doch wie eine Zicke, aber das wird er schon vertragen können. Priscilla ist schließlich auch kein Sonnenschein und er verliert nach einem Jahr gemeinsamer Vertrauensschülertätigkeiten kein böses Wort über sie.

„Entschuldige.“

„Entschuldigung angenommen.“ Ihr Magen grummelt leise und verräterisch, aber sie wird nichts dazu sagen. Sie wird nicht einräumen, dass sie zu viel gegessen hat. Oder behaupten, dass sie Hunger hat. Das wäre ja auch lachhaft nach so einem Festmahl. „Du musst dir nicht so viele Gedanken um mich machen. Oder versuchen, für mich zu denken.“ Sie überreagiert. Die Erkenntnis trifft sie wie ein Blitz. Sie rastet grundlos aus – auch wenn sie ihre Stimme im Griff hat. Und er lässt es ihr aus irgendwelchen Gründen durchgehen. Entweder es ist ihm egal, dass sie gerade alles ein bisschen zu persönlich nimmt – oder er hat Angst vor ihr. Beinahe ist sie versucht, auf Angst zu tippen, aber das ist nur die hoffnungsvolle Optimistin in ihr, die ihr einreden will, dass sie irgendjemanden das Fürchten lehren kann.

Bevor sie darüber nachdenken kann, ob es vielleicht angebracht wäre, wenn sie sich ebenfalls entschuldigen würde, ertönt auf einmal ein Klirren. Ihre Füße haben sie bis in das vierte Stockwerk getragen. Neben ihnen sind die Klassenzimmer für den Verwandlungsunterricht und am anderen Ende des Korridors ist der Zugang zur Bibliothek. Die Statue von Gregor dem Kriecher scheint ihr aus einer dunklen Ecke heraus zuzuzwinkern und auf einmal zieht sich ihr Magen ganz unangenehm zusammen. Was tut sie hier eigentlich? Eine Patrouille sollte einfach nur eine langweilige Pflichtübung und keine emotionale Angelegenheit sein. Warum steigert sie sich schon wieder so in alles rein? Nur, weil sie mit Lucius irgendwie nicht so leicht zurechtkommt?

„Ich denke, das kam aus der Bibliothek. Wir sollten nachsehen.“ Die Spitze seines Zauberstabs ist hell erleuchtet und er wartet nicht darauf, dass sie ebenfalls nach ihrem Zauberstab sucht, sondern geht voran. Sie folgt ihm und versucht, das Schlurfen zu überhören, das sich ihnen nähert, obwohl niemand zu sehen ist.

Auf einmal hat Narzissa das Gefühl, als würde jemand direkt neben ihr vorbeilaufen. Sie spürt einen kalten, kaum merklichen Windhauch und dreht sich um, als von der Bibliothek her wieder ein lautes Klirren ertönt. Lucius ist weitergegangen und sie steht allein auf dem dunklen Gang. Rasch schließt sie zu ihm auf und bewundert die Selbstverständlichkeit, mit der er die gespenstisch leere Bibliothek betritt und „Wer ist hier?“ in den Raum hineinfragt. Seine Stimme ist so sonor, dass sie unwillkürlich zusammenzuckt. Mit dieser Stimme könnte man Glas zerschneiden.

Niemand reagiert und das beunruhigt sie. Wenn es Peeves wäre, dann hätte der Poltergeist sich bereits mit dem typischen, hohlen, hellen Kichern verraten und wahrscheinlich einen Schwall Wasser oder Konfetti auf sie hinabregen lassen. Lucius schweigt, während er eine Bewegung mit dem Zauberstab vollführt. Wenige Sekunden später ist die gesamte Bibliothek hell erleuchtet. Das Licht ist unnatürlich grell und beinahe ein bisschen grünlich. Es klickt leise und dann ist es wieder dunkel.

„Was war das?“

„Ein Entblößungszauber. Wenn jemand hier wäre, dann hätten sich die Lichtverhältnisse geändert und uns zu dem Eindringling geführt. Aber hier ist niemand. Wir müssen in die falsche Richtung gegangen sein – oder sie sind uns im Gang entgegengekommen. Wahrscheinlich ältere Schüler, die Desillusionierungszauber beherrschen.“ Er gerät ein bisschen ins Dozieren, aber sie ist schon froh, dass er nicht mehr so forsch klingt, sondern wieder in Zimmerlautstärke spricht. „Vielleicht begegnen sie uns heute nochmal.“

„Vielleicht.“ An Halloween war sicher mehr los als in normalen Nächten. Wahrscheinlich würde sie noch ein halbes Dutzend Mal erschrecken, ehe der Morgen anbrach und sie ins Bett konnte. „Das ist ein praktischer Spruch. Kannst du ihn mir beibringen?“

„Natürlich.“ Und ohne jede weitere Aufforderung beginnt Lucius, ihr die Handbewegung zu zeigen und ihr zu erklären, welche verbale Formel eigentlich dazu gehört. Für einen Moment ist es ganz egal, dass es vielleicht wieder irgendwo klirrt und sie eigentlich eine Aufgabe haben. Es spielt auch keine Rolle, dass sie zu viel gegessen hat und sich am liebsten flach auf ihr Bett legen würde. Sie ahmt seine Handbewegungen nach und obwohl sie weiß, dass ihr lautlose Zauber in den meisten Fällen misslingen, will sie es unbedingt versuchen und triumphiert im Stillen, als das Licht flackert. „Nicht schlecht! Ich hab drei Versuche gebraucht, ehe überhaupt etwas passiert ist.“ Zum ersten Mal an diesem Abend muss sie aufrichtig lächeln und versucht sich ein zweites Mal an der entschiedenen Handbewegung. Die Bibliothek ist in grünes Licht getaucht und sie kann unschwer verbergen, dass sie stolz ist. Bella und Andromeda würden sie jetzt eine Angeberin schimpfen, doch Lucius sieht aufrichtig beeindruckt aus. „Du bist ja richtig gut.“

„Dieser überraschte Unterton gefällt mir nicht.“ Sie löscht das Licht und stellt fest, dass er ein wenig errötet ist. „Du hast es auch sehr gut erklärt.“

„Trotzdem. Ist Zauberkunst zufällig dein Lieblingsfach?“

„Ich bin gut darin, aber ich weiß nicht, ob ich es als mein Lieblingsfach bezeichnen würde. Professor Flitwick ist sehr kompetent, aber ich finde es frustrierend, dass wir so wenige Zaubersprüche lernen. Wir arbeiten ja nicht einmal einen Bruchteil unseres Buches  im Unterricht durch – und ich will mich nicht beschweren, aber es ist manchmal wirklich langweilig, vier Stunden denselben Zauber zu üben.“

„Das kann ich mir vorstellen… wenn man nur fünf Minuten braucht… na ja, nach den ZAG-Prüfungen bleiben ja nur diejenigen in den Kursen, die auch gut genug sind. Dann wird alles ein bisschen anspruchsvoller und Professor Flitwick geht auch deutlich schneller voran.“ Er betrachtet ihre Hand, in der sie den Zauberstab locker festhält. „Du lernst durchs Zusehen und nicht durchs Ausprobieren, oder?“ Sie nickt. Es ist erstaunlich, dass er das direkt bemerkt hat. „Bewundernswert. Mir erschließen sich Zauber meistens erst, wenn ich sie selbst versucht habe. Mit Erklärungen in Büchern oder den Handbewegungen anderer Leute kann ich herzlich wenig anfangen. Aber da hat wohl jeder seine eigenen Strategien.“

„Als meine Schwester Bella ihr erstes Schuljahr beendet hat, habe ich ihre Schulbücher durchgelesen und sie hat mir gezeigt, wie man die Wörter betonen und den Stab halten muss. Und ich habe meine Eltern und Hauselfen früher schon beobachtet. Ich finde es spannend, welche Arten von Magie Minderjährigen vom Ministerium verboten werden und welche Magie in diesem Falle nichts zählt.“ Sie klingt wie die allerletzte Streberin und ihr will niemand in ihrem Alter einfallen, der sich über ihren beflissenen Tonfall nicht lustig machen würde, doch er nickt nur verständig.

„Wie viele Hauselfen hat deine Familie?“

„Oh, im Moment nur eine Einzige. Wretcha war schon bei unserer Familie, als mein Vater noch ein kleiner Junge war. Sie ist sehr liebenswert. Ihr Bruder Kreacher dient bei einem anderen Wohnsitz der Familie, aber er gehört auch zu uns.“

„Er gehört zu euch? Du meinst, er gehört euch?“ Diese Verbesserung seinerseits missfällt ihr, doch er hat natürlich Recht. Narzissa weiß, dass sie mitunter zu betulich von Wretcha und Kreacher spricht, doch sie erinnert sich noch gut an die Zeit, in der sie selbst so groß wie die beiden Elfen gewesen ist, die von ihrer Mutter dazu verpflichtet wurden, mit ihr Verstecken zu spielen, weil ihre Schwestern schon Lesen und Schreiben lernen sollten.

„Ja, das meinte ich. Gehen wir weiter? Hier ist ja niemand.“

* * *



Um drei Uhr früh ist Narzissas Bauch wieder so flach und weich wie immer und im Schloss ist Ruhe eingekehrt. Kurz vor Mitternacht haben sie zwei lachende Erstklässler aus Gryffindor in der Großen Halle erwischt und mit ganz blassen Gesichtern bei ihrem Gemeinschaftsraum abgeliefert. Der Verlust von insgesamt nur zwanzig Hauspunkten ist gnädig bemessen, aber es ist ja immerhin Halloween. Und wenn Professor McGonagall es für angebracht hält, dann wird sie sich schon eine hübsche Strafarbeit ausdenken.

Innerhalb der letzten drei Stunden sind ihnen unzählige Geister begegnet, die für den Geburtstag von Sir Nicholas angereist sind und sich nun auf den Heimweg zu ihren Ruinen, Herrenhäusern und Burggräben machen – wenigstens stellt Narzissa sich vor, dass all diese gut geschmückten, durchsichtigen Personen keine profanen Hausgeister sind, sondern zumindest den Dachstuhl einer Kathedrale heimsuchen.

Für gewöhnlich schlägt die Schlossuhr nur zwischen sechs Uhr morgens und sechs Uhr abends, doch in dieser Nacht verkündet sie jede Stunde, sodass es sehr schwer ist, die Zeit zu vergessen. Sie ist müde und ihre Füße sind schwer, aber die Gegenwart von Lucius hält sie wach. Er hat angefangen, über Quidditch zu sprechen, sie hat es ertragen, und sie haben ausführlich darüber spekuliert, woher dieser oder jener Geist stammt und wer er wohl in seinem Leben gewesen ist. Es ist beinahe als nettes, einträchtiges Geplauder zu bezeichnen, bis sie auf einmal ein ganz und gar nicht totes Kichern vernehmen. Sie befinden sich im ersten Stock und zu ihrem Leidwesen erkennt Narzissa den bezopften Geist von Myrthe Warren.

Myrthe ist ein großnasiges, neugieriges Mädchen, das kein Verständnis von Privatsphäre hat. Aber sie ist auch eine sehr gute Geschichtenerzählerin und Narzissa muss zugeben, dass Myrthe es schon mehr als nur einmal geschafft hat, sie beim Händewaschen mit einer ihrer Anekdoten zu bannen.

„Oh!“ Sie schlägt verzückt die Augen auf und wirbelt um Lucius herum, der keine Miene verzieht. Unterdessen kann Narzissa kaum ein Seufzen unterdrücken. Sie hat vergessen, wie besessen Myrthe von Jungs ist. In ihren garstigen fünf Minuten hat Bella sie eine hysterische Jungfrau genannt und diese Titulierung wird Narzissa seitdem nicht los, wenn sie an Myrthe denkt, was glücklicherweise nicht allzu häufig der Fall ist. „Noch ein Liebespaar!“

„Wir patrouillieren, Myrthe.“ Täuschen sie ihre Ohren oder klingt Lucius verstimmt? Sie kann nicht genauer hinhören, denn Myrthe quietscht und kichert und dreht noch eine Runde um Lucius, der nervös blinzelt.

„Ja ja, das sagen sie doch alle! Aber wenn ihr zu tun habt, dann verschwinde ich… und kauere mich in einen Abfluss… und denke nicht daran, dass mich niemand auf der Welt liebt.“ Myrthe schnieft und sie fährt zusammen, als Lucius sie ganz leicht am Arm berührt und den Korridor hinab schiebt. Wenn sie alleine wäre, dann würde sie Myrthe nie im Leben stehen lassen, doch so folgt sie ihm und dreht sich nicht einmal um.

„Du hast doch nicht etwa Mitleid mit ihr?“ Myrthe ist nicht mehr in Hörweite. Aus der Mädchentoilette, in der sie sich bevorzugt aufhält, ertönt ein lautes Platschen und ein leises Heulen. Und ein Kichern. „Die spielt doch nur Theater.“

„Das kann ja sein, aber nur weil sie ein Geist ist, muss man ja nicht gleich unhöflich sein. Auch Geister haben ein Recht, ernst genommen zu werden.“ Die Rechte von Geistern. Ach du Schande. Das Fass wollte sie gar nicht öffnen, aber sie hat es doch getan. Ganz leichtfüßig im Nebensatz.

Sie ist beinahe froh, als sie das Murmeln zweier eindeutig menschlicher Stimmen vernimmt. Blitzschnell nimmt sie ihren Zauberstab aus dem Stiefel und leuchtet wahllos in eine Richtung. Jemand schreit auf und wieder streift sie ein Windhauch. Sie greift mit der Hand nach der kalten Luft, doch sie fasst ins Leere. Lucius hat ebenfalls einen Leuchtzauber gesprochen und tatsächlich erkennt sie nun das Gesicht eines Jungen mit strubbligen, blonden Haaren und einer verrutschten Brille. Er sieht nett aus. Und sehr peinlich berührt. Er trägt weder einen Schlafanzug, noch eine Schuluniform.

„Lass mich raten, du bist ein Schlafwandler?“ Mit drohendem Gestus tut Lucius einen Schritt auf den anderen Jungen zu. „Oder welches Märchen hast du heute für mich, Tonks?“

Auf den zweiten Blick erkennt Narzissa nun auch Edward Tonks, einen Hufflepuff, der hauptsächlich deshalb auffällt, weil er einen Kopf größer als die meisten anderen Schüler ist. Narzissa weiß nicht viel über ihn, außer dass er im Koboldsteinclub ist, angeblich auch brillantes Zauberschach spielen soll und dementsprechend vermutlich einen ausgeprägten Faible für Brettspiele hat. Außerdem ist er muggelstämmig. Und ein Sechstklässler, der es besser wissen müsste. Einer, der die Schulregeln ganz sicher kennt und scheinbar nicht zum ersten Mal bricht.

„Schönen guten Morgen… ich vermute, meine Uhr geht falsch und das Frühstück ist noch nicht gedeckt?“

„Dreißig Punkte Abzug für Hufflepuff. Aufgrund mutwilligen Brechens der Ausgangssperre und wiederholter Dreistigkeit. Brauchst du eine Eskorte zu deinem Gemeinschaftsraum?“

„Nein, danke.“ Edward Tonks verneigt sich und seine Mundwinkel zucken. „Es war wie immer eine Freude, Malfoy.“

Lucius schnaubt verächtlich und sieht dabei zu, wie Edward Tonks ohne Leuchtzauber in der Dunkelheit verschwindet. Narzissa staunt. Auch nach Stunden im dunklen Schloss hat sie das Gefühl, dass ihre Augen sich an jede Lichtquelle heften und sie außerhalb davon nur Umrisse erkennt. Mehr als einmal ist sie über irgendeine Kante oder ihre eigenen Füße gestolpert. Der Hufflepuff muss die Augen einer Katze haben.

„Passiert das häufiger?“

„Mit bestechender Regelmäßigkeit. Ich habe keine Ahnung, was sein Problem ist, aber es interessiert mich auch nicht. Allmählich bin ich mir sicher, dass er eine Beziehung zu irgendeinem Hausgeist pflegt. Oder einer ähnlich unsichtbaren Existenz. Im letzten Schuljahr habe ich ihn beinahe jeden Monat erwischt. Mr. Filch war sein Name ebenfalls ein Begriff.“

„Ein Wiederholungstäter also.“

„Ein Serientäter. Ein ignoranter Dummkopf, den seine Hauspunkte herzlich wenig kümmern.“

Chapter 4: Wiederholungstäter

Chapter Text

4 –Wiederholungstäter



Es weihnachtet und Hogwarts wird pünktlich zum vierten Advent eingeschneit. Die staunenden Erstklässler drücken sich die Nasen an den Fensterscheiben in den Treppenhäusern platt und bewundern, wie Hagrid die hohen Tannen fällt und in die Große Halle schleppt. Die ignoranten Drittklässler veranstalten Schneeballschlachten und Narzissa maßregelt sie nur dann, wenn sie Anstalten machen, den Schnee mit ins Schloss zu tragen. In drei Tagen fährt sie nach Hause und noch immer hat sie kein Wort von Bellatrix gehört. Nicht einmal an ihrem Geburtstag. Sie würde sich Sorgen machen, wenn es nicht Bella wäre. Doch weil es Bella ist, die nur durch monumentale Katastrophen ein wenig zu schockieren ist, ist sie einfach nur sauer. Und beleidigt, weil es scheint, als hätte ihre große Schwester sie einfach vergessen. Andromeda gibt sich alle Mühe, ihren Zorn zu zerstreuen, doch Narzissa hat nicht übel Lust, die Ferien erstmalig im Schloss zu verbringen und damit ein Zeichen zu setzen. Allerdings würde dieses Zeichen vermutlich nur ihre Eltern treffen. Es ist immerhin gar nicht gesagt, ob Bella für die Feiertage überhaupt heimkehren wird.

Beinahe zum Ausgleich für das Versäumnis ihrer Schwester hat Rabastan Lestrange sie an ihrem Geburtstag ganz unerwartet mit einem Strauß Lilien beschenkt und sie gefragt, ob sie am Nikolaustag mit ihm nach Hogsmeade gehen möchte. Sie hat mehr aus Schreck abgesagt und weniger deshalb, weil sie es wirklich nicht wollte. Die Vorstellung, dass jemand wie Rabastan mit ihr ausgehen möchte, ängstigt sie mehr als sie zugeben möchte. Ihre Absage scheint ihn nicht gekränkt zu haben, im Gegenteil, sie hat beinahe das Gefühl, sich damit versehentlich interessant gemacht zu haben. Das ist noch ein Grund, warum sie sich Bella her wünscht. Oder wenigstens eine Bella in Papierform. Mit ihr ist es viel leichter über solche Dinge zu sprechen als mit Andromeda, die immer alles furchtbar ernst nimmt und sie ständig daran erinnert, wie bedeutsam es ist, mit wem sie ihre Zeit verbringt und dass es von großer Wichtigkeit ist, wer der erste Junge ist, mit dem sie ausgeht. Wenn Bella da wäre, dann würde sie sich über Narzissas schwaches Nervenkostüm lustig machen, sie eine Hysterikerin nennen und überhaupt alles ein bisschen ins Lächerliche ziehen.

Doch so ist das Einzige, was wirklich und wahrhaftig lächerlich ist, ihr eigenes Verhalten. Aus Verzweiflung hat sie sich mit Diana Harvey angefreundet, der sie zwischen den Unterrichtsstunden und im Gemeinschaftsraum kaum mehr von der Seite weicht, insofern Andromeda nicht in Sichtweite ist. Es ist wahrscheinlich ein Irrtum, dass Diana als eine Art Puffer fungiert und purer Zufall, dass Rabastan sie immer nur dann anspricht, wenn sie alleine ist, aber Narzissa redet sich gerne ein, dass sie in Diana vielleicht eine Freundin, aber ganz sicher doch einen Schutzschild gefunden hat.  

Diana scheint sich darüber zu freuen, dass Narzissa nach fünf Jahren urplötzlich entschieden hat, dass sie ihre Mitbewohnerin vielleicht doch gut leiden kann, aber das ändert nichts daran, dass Diana ihre eigenen Freunde und Hobbies hat. Das ändert rein gar nichts daran, dass Narzissa am vierten Advent auf einer Fensterbank sitzt und Hagrid, die Tannen und das Schneetreiben betrachtet, als sie aus dem Augenwinkel auf einmal die große, dunkelhaarige Gestalt von Rabastan bemerkt, die sich ihr mit bedrohlicher Geschwindigkeit nähert.

Eine Fluchtmöglichkeit gibt es nicht mehr, deshalb bleibt sie ganz still sitzen, verbietet es sich, ihre Haare aus dem Gesicht zu streichen oder mit ihren Händen nach imaginären Falten ihrer Bluse zu suchen.

„Eine fabelhafte Aussicht, nicht wahr?“

„Absolut.“ Sie lächelt und wendet ihren Blick betont langsam von den Ländereien ab. Wo ist eigentlich ihr Problem? Sie ist sechzehn Jahre alt. Rabastan ist zwei Jahre älter, ein Siebtklässler, kommt aus einer altehrwürdigen Familie, hat ein symmetrisches Gesicht und macht immer einen gepflegten Eindruck. Sollte sie sich nicht freuen, dass er mit ihr spricht? „Ich liebe Schnee.“ Das ist eine unpersönliche Behauptung. Denn mal ehrlich, was ist denn langweiliger und weniger persönlich als eine Unterhaltung über das Wetter? Rabastan lächelt. Als hätte sie etwas ganz Gescheites und Tolles gesagt.

„Ich auch.“ Und trotzdem war er hier und nicht da draußen. Mochte er genau wie sie keine nassen Füße? War ihm der Schnee in Schneekugeln auch der liebste? Oder ging er auch lieber dann raus, wenn niemand sonst dort war und man noch nicht überall Fußabdrücke und die kugeligen Körper von halbfertigen Schneemännern erspähen konnte? „Ich wollte dich fragen, ob du morgen Abend Zeit hast? Professor Slughorn veranstaltet eine kleine Weihnachtsfeier und ich würde mich freuen, wenn du meine Tanzpartnerin wärst.“ Am liebsten hätte sie laut losgelacht. Ihr klingelt noch das Echo von Lucius Malfoys Frage aus dem letzten Jahr in den Ohren. Was ist das nur mit Professor Slughorn und dem Vorvorweihnachtsabend? „Hättest du Lust?“

Sie weiß nicht warum, doch auf einmal weiß sie, dass sie ihm zusagen will. Vielleicht, weil er so viel weniger umständlich fragt als Lucius Malfoy es getan hat. Vielleicht aber auch, weil sie ein Jahr älter ist? Oder weil es sich so anfühlt, als könnte sie dieser Weihnachtsfeier sowieso nicht auf ewig entgehen? Oder es liegt daran, dass Rabastan sie nicht zum ersten Mal fragt und sie eigentlich gar nicht so überrascht ist, dass er sie einladen möchte. Wenn sie gewusst hätte, dass auch er zum Kreis von Slughorns Lieblingen gehörte, dann hätte sie doch genau diese Situation erwarten können, oder nicht? Narzissa nickt und staunt darüber, wie breit sein Lächeln wird.

„Es wäre mir eine Freude.“

„Die Freude wird ganz auf meiner Seite sein! Slughorn hat für Punkt sechs Uhr eingeladen, aber die letzten Jahre haben gezeigt, dass es klug ist, ein wenig unpünktlich zu sein, darum werde ich dich um halb sieben im Gemeinschaftsraum erwarten. Wäre dir das Recht?“ Er drückt sich zwar förmlich aus, doch man kann ihm ansehen, dass er aufrichtig glücklich darüber ist, dass sie zugestimmt hat, ihn zu begleiten. Und doch strahlt er eine gewisse Selbstsicherheit und Leichtfertigkeit aus. Sie vermutet, dass er sich über die Zusage eines anderen Mädchens ebenso sehr gefreut hätte und dass sie vielleicht die Erste ist, die er gefragt hat, aber auch nicht die Letzte gewesen wäre.

„Das klingt gut. Wie festlich ist diese Veranstaltung?“ Was zieht man für das Abendessen eines Lehrers an, bei dem offenbar auch getanzt wird? Bei einer solchen Gelegenheit erscheinen ihr sowohl eine übertriebene als auch untertriebene Aufmachung desaströs.

„Also Slughorn putzt sich für seine alten Freunde immer ganz ordentlich heraus, aber du musst dir keine besondere Mühe geben. Trag Schuhe, in denen du tanzen kannst. Alles andere ist unwichtig.“ Alles andere ist lebenswichtig, aber sie kann nicht erwarten, dass er dafür einen Sinn hat. Wobei, eigentlich kann sie das doch erwarten. Die Lestranges verkehren in ähnlichen Kreisen wie ihre eigenen Eltern und sie ist sicher, dass sie ihn und seinen Bruder Rodolphus auf mehr als einer Hochzeit und mehr als einem Geburtstag angetroffen hat, ohne darüber allzu genau nachzudenken. „Also, ich muss jetzt auch in die Bibliothek, aber ich hab dich hier so alleine sitzen sehen und da dachte ich, ich frag mal nach, bevor es ein Anderer tut.“ Rabastan lächelt und nun muss sie den Gedanken an Lucius zulassen. Es ist mehr als nur wahrscheinlich, dass er auch bei dieser Weihnachtsfeier sein wird. Doch das wird Rabastan nicht meinen, er wird an keine bestimmte Person denken, sondern tut einfach so, als wäre sie schwer begehrt. Eine schmeichelhafte, aber unwahre Annahme. Narzissa ist sich sehr sicher, dass abgesehen von Lucius Malfoy und ihm noch nie jemand darüber nachgedacht hat, sie zu einer solchen Veranstaltung mitnehmen zu wollen. „Ich freue mich auf morgen!“

So schnell wie er aufgetaucht ist, so schnell ist er wieder verschwunden. Sie sieht ihm nach und überlegt, ob sie ihn wirklich attraktiv findet oder ob sie da nur der allgemeinen Meinung über ihn zustimmt, als sie ein Räuspern aus ihren nicht besonders gehaltvollen Gedanken holt. An derselben Stelle, an der Rabastan eben erschienen ist, steht ihr Cousin Sirius, der in die erste Klasse geht und von dem sie trotzdem nicht allzu viel mitbekommen hat. Weil er vom Sprechenden Hut nach Gryffindor geschickt wurde. Sirius sah nicht aus wie jemand, der damit rechnete, dass er in wenigen Tagen am Esstisch gevierteilt wurde, doch sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihre Tante und ihr Onkel diese universelle Verfehlung ihres ältesten Kindes einfach so hinnehmen würden. Andromeda und sie hatten im September und Oktober vergebens darauf gewartet, dass ein Heuler ihrer Tante Walburga seinen Weg ins Schloss fand. Dennoch ging keine von ihnen davon aus, dass es an Weihnachten besonders friedlich im Grimmauldplatz Nummer 12 zugehen würde.

Für sein Alter besaß Sirius bereits eine erstaunlich Dreistigkeit – und einen sehr trockenen Sinn für Humor. In wenigen Jahren, da war sie sich sicher, würde ein ungesunder Zynismus hinzukommen. Doch ihre Vorstellungen eines heranwachsenden Sirius wurden von dem knapp zwölfjährigen Exemplar in den Schatten gestellt, das sie angewidert betrachtete.

„Ist der jetzt dein Freund?“ Es stand außer Frage, dass Sirius sie belauscht hatte. Darin hatte er es schon früh zu einer gewissen Meisterschaft gebracht, genau wie sein kleiner Bruder Regulus.

„Unsinn. Er hat mich nur zu einem Abendessen eingeladen. Und das geht dich überhaupt nichts an, aber das weißt du ja selbst, oder?“ Sirius grinst und zuckt mit den Schultern. Natürlich weiß er in der Theorie, was Privatsphäre ist, doch das bedeutet ja nicht gleich, dass er sich in der Praxis darum schert. Sie kann nicht anders und grinst ein bisschen zurück. Eigentlich mag sie Sirius. Eigentlich hatten sie immer ein gutes Verhältnis, eine gute Basis, obwohl er so viel jünger ist als sie. Am ersten September hat sie sich darauf gefreut, ihm alles zeigen zu können und sich einmal ein bisschen als die allwissende, große Schwester aufspielen zu können, doch dazu war es nie gekommen. Slytherin und Gryffindor, das war irgendwie doch eine Grenze, die sie nicht als Erste übertreten wollte. „Wie geht es dir? Setzt du dich einen Moment zu mir?“ Sie klang wie ihre eigene Mutter, wenn sie jemanden an den Tisch fesseln und ausfragen wollte. Sirius, der diese gruselige Parallele unmöglich nicht bemerken konnte, zuckte wieder mit den Schultern und kletterte dann zu ihr auf die Fensterbank. „Also?“

„Also was?“

„Na, wie ist es so in Gryffindor? Sind die Leute nett? Kommst du klar?“ Die letzte Frage erübrigte sich eigentlich, doch Narzissa stellte sie trotzdem. Natürlich kam Sirius klar. In dieser Hinsicht ähnelten Bella und er sich auf ganz unheimliche Weise. Beide waren sie unverwüstlich – und himmelschreiend ignorant, wenn es um ihre Umwelt ging. Wenn Sirius nicht exakt eine Woche vor ihr geboren wäre, dann würde er wohl auch nicht wissen, wann sie Geburtstag hatte, doch so hatte er ihr hastig quer über den Flur gratuliert und sich im selben Atemzug für die Schokolade bedankt, die sie ihm zwischen Tür und Angel geschenkt hatte.

„Es ist schon ganz okay… aber es ist leichter sich mit denen anzufreunden, die Muggeleltern haben. Die haben nämlich keine Ahnung, wer Mum und Dad sind.“ Wer die Blacks waren. Narzissa war in ihrem ersten Schuljahr davon überrascht worden, dass nicht nur die Lehrer direkt von Anfang an wussten, wer sie war, sondern auch ihre Klassenkameraden. Es war vielleicht ein wenig engstirnig gewesen, davon auszugehen, dass Andromeda und Bella irgendwie unauffällig waren, doch selbst die Mädchen in ihrem Schlafsaal hatten allesamt etwas mit ihrem Nachnamen anzufangen gewusst.

„Hast du Angst vor Weihnachten?“

„Nein!“ Die Antwort kam ein bisschen zu schnell. Beinahe hastig. Sirius verzieht das Gesicht. „Also schön wird es bestimmt nicht, aber wann war Weihnachten schon mal schön? Ich hab überlegt, einfach hier zu bleiben, aber Regulus hat mir geschrieben und meinte, es wäre dumm, wenn ich nicht nach Hause kommen würde… das würde alles noch schlimmer machen…“ Obwohl sie weiß, dass sie damit seinen zwölfjährigen, männlichen Stolz kränken wird, beugt sie sich nach vorne, nimmt seine Hand, die ein bisschen klebrig ist, so als hätte er eben noch Zuckermäuse gegessen, und drückt sie. „Lass das.“

„In Gryffindor zu sein, bedeutet nicht, dass deine Mum und dein Dad dich nicht mehr lieben. Du bist immer noch ihr Kind und es ist nur ein Schulhaus. Du bist kein anderer Mensch, nur weil dein Pullover und deine Krawatten eine andere Farbe haben als bei mir oder Andromeda.“ Das hätte sie direkt am zweiten September sagen sollen, aber besser spät als nie. Sirius presst die Lippen aufeinander und sieht damit aus wie ein kleiner, alter Mann. Sie drückte seine Hand ein bisschen fester.

„Und was ist, wenn ich gerne ein anderer Mensch wäre? Ich… ich hab dem Hut gesagt, ich will nicht nach Slytherin.“ Das wundert sie gar nicht. Der Sprechende Hut ist eine Institution – und sehr traditionsbewusst. Sie hat schon am Abend der Vergabe gewusst, dass der Hut nicht ohne Sirius' Zutun auf die Idee gekommen ist, ihn als ersten Black in der Geschichte der Blacks, wenigstens soweit es ihnen allen bekannt war, nach Gryffindor zu schicken. „Das darfst du aber niemandem sagen… versprochen?“

„Natürlich nicht.“

„Schwörst du es mir?“

„Ich schwöre es dir.“ Ein eigenartiges Kribbeln geht durch ihre Hand und Sirius grinst sie unschuldig an. „Was war das denn jetzt?“ Sie bekommt ein drittes Schulterzucken als Antwort. Mit dem Gefühl, gerade mehr als nur ein loses Versprechen abgeliefert zu haben, lässt sie seine Hand los und sieht ihm dabei zu, wie er lässig von der Fensterbank rutscht.

„Du könntest einen viel cooleren Freund haben als Rabastan Lestrange, aber das weißt du ja selbst, oder?

* * *



Auf dem Weg vom Gemeinschaftsraum bis zu den Räumlichkeiten von Horace Slughorn macht Rabastan ihr fortwährend Komplimente, obwohl sie sich nicht einmal besonders viel Mühe gegeben hat. Anlässlich des 44. Geburtstags ihrer Mutter im vergangenen Sommer hatte sie deutlich mehr Zeit investiert. Sie konnte nur hoffen, dass sie mit dem schlichten, schwarzen Kleid, das weit um ihre Knie schwang und sich eng an ihre Schultern schmiegte, und der dezenten Anwendung von Puder und Rouge nicht zu wenig getan hatte. Ihre Strumpfhose war nicht ganz blickdicht und die Schuhe hatten keine besonders hohen Absätze. Schuhe, in denen sie tanzen konnte.

Ihre Mutter pflegte immer wieder zu behaupten, sie sei zu jung für Schwarz und überhaupt sei diese Farbe doch für Begräbnisse und andere traurige Anlässe reserviert, doch Narzissa gefiel sich in Schwarz am besten. Und künftig könnte sie ja Rabastan zitieren, der es darauf anlegte, keine Pausen entstehen zu lassen und sie mit gut gemeinten Bemerkungen überhäufte, bis sie im überheizten, übervollen Büro von Professor Slughorn standen, das weniger aussah wie ein Büro und mehr wie ein Salon. Es gab sogar einen Kronleuchter, kleine Sessel und Sofas und anscheinend auch so etwas wie eine Bar, an der eine pflichtbewusste Hauselfe die Getränke ausgab.

„Rabastan, was haben Sie mir da für eine bezaubernde Begleitung mitgebracht? Guten Abend, Miss Black!“ Slughorn verneigt sich so tief es sein Bauch zuließ und schenkte ihr ein freundliches Lächeln. Lederne Hosenträger schneiden in seine Schultern und sein Gesicht ist leicht gerötet. Als wäre der Koboldlack schon vor einer geraumen Zeit geöffnet worden. „Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“

„Was möchtest du?“ Rabastan sah sie freundlich an, ganz der aufmerksame Begleiter. Sie machte eine abwehrende Handbewegung. Ihre Eltern erlaubten ihr zwar seit ihrem vierzehnten Geburtstag ab und an ein Glas, wenn sie selbst auch Wein zu einer Mahlzeit tranken, aber abgesehen davon hatte sie keine besonderen Erfahrungen mit alkoholischen Getränken.

„Ich habe gerade keinen Durst, danke.“ Prompt kam sie sich wie eine Spielverderberin vor, doch Slughorn nickte nur eifrig, zwinkerte Rabastan zu, behauptete, der Abend sei noch jung und kam binnen zwei Minuten mit drei Gläsern Feuerwhiskey zurück, von denen er nur eins für sich beanspruchte. Narzissa umklammerte ihr Glas und wartete ab, dass Slughorns Aufmerksamkeit nicht länger Rabastan und ihr galt. Sobald sich der Gastgeber einem grauhaarigen Hexer mit wilden Locken zugewandt hatte, hielt sie Rabastan stumm ihr volles Glas hin. Er leerte es ohne zu zögern.

„Du trinkst nicht?“

„Nicht auf nüchternen Magen.“ Das entsprach sogar der Wahrheit, obwohl es nun doch so klang, als würde sie regelmäßig trinken. Der Blick, mit dem er sie plötzlich musterte, gefiel ihr gar nicht. Merkte er, dass er sie eigentlich gar nicht kannte? Dass sie vielleicht nicht jede Erwartung, die er an ihre Person hatte, erfüllen würde? Schwante ihm das? Narzissa wusste nicht, wie gut er Bella kannte und ob Bella über sie gesprochen hatte oder ob er einfach annahm, dass sie und ihre große Schwester einander ähnelten?

„Sehr vernünftig. Ich sehe schon, warum du Vertrauensschülerin geworden bist.“ Er grinst sie an und sie ist sich nicht sicher, ob das nun nett gemeint gewesen ist. Oder ob sie nicht vielleicht doch soeben beleidigt worden ist. „Da drüben ist der ehemalige Direktor von Gringotts… Slughorn spricht seit Monaten davon, dass er mich ihm vorstellen möchte. Ich bin in zwei Minuten wieder da, versprochen.“

Ein Versprechen von Rabastan Lestrange bedeutete rein gar nichts. Diese Lektion lernte sie in der folgenden, ausgesprochen zähen Viertelstunde, in der sie ein wenig verloren am Rand einer kleinen Tanzfläche stand und nicht wusste, wohin mit ihren Händen. Schließlich wurde sie von einer freundlichen Hauselfe angesprochen, die sich zur Feier des Tages goldenes Lametta um die Ohren gewickelt hatte.

„Kann Missy etwas bringen?“ Missy. Im ersten Moment hatte sie geglaubt, dass die Elfe ihren eigenen, mal geliebten, mal ungeliebten Spitznamen trug. Aus großen, treuherzigen Augen sah die Elfe zu ihr hoch.

„Gibt es auch Kürbissaft?“

„Natürlich! Missy hat alles, was Miss Black sich wünscht.“ Die Elfe verbeugte sich hastig, verschwand hinter der kleinen, improvisierten Theke und kam sogleich mit einem Glas zurück, das normalerweise ganz eindeutig für Wein oder Champagner genutzt wurde. Feierlich überreichte die Elfe Narzissa den Kürbissaft in seinem dekadenten Behältnis.

„Danke, Missy.“ Das kleine, festliche geschmückte Wesen zuckte zusammen und Narzissa biss sich entschuldigend auf die Lippe. Manche Elfen empfanden es als eine schwere Kränkung, wenn man ihnen dankte. Das vergaß sie oft, weil Kreacher und Wretcha nicht so empfindlich darauf reagierten, wenn man sie mit höflichen Floskeln überfiel. Verlegen nippt sie an ihrem Kürbissaft und schaut sich in dem Büro um.

Die meisten Gäste kennt sie vom Sehen, doch sie kann sich längst nicht an alle Namen erinnern. Viele sind in der sechsten oder siebten Klasse oder in anderen Häusern. Professor Hoopka, die Lehrerin für Astronomie und Sternenkunde, unterhält sich mit einem runzligen Hexer und Professor Sprout, die junge, dralle Hauslehrerin der Hufflepuffs, wird von einem rothaarigen, nicht besonders schönen Mann in einem auffälligen, orangefarbenen Umhang, der sich ganz schrecklich mit seinen Haaren beißt, bezirzt. Alle scheinen Spaß zu haben. Es vergeht kaum eine Minute, ohne dass irgendwo klirrend angestoßen wird oder irgendjemand kichernd über die Tanzfläche schwebt. Rabastans dunklen Haarschopf und das weiße Hemd, das er trägt, kann sie nahe dem Kamin in Slughorns Windschatten ausmachen. Er lächelt und nickt und fährt sich immer wieder nervös durch die Haare, ohne ihre Blicke zu bemerken.

In ihrem Augenwinkel nimmt sie eine Bewegung wahr und wundert sich kaum, als sie Lucius Malfoy erblickt, der sie mit einem unergründlichen, aber nicht unfreundlichen Gesichtsausdruck betrachtet. Er trägt ein schwarzes Hemd und wenn man bedenkt, dass seine Haare nur unwesentlich dunkler als ihre eigenen sind, dann müsste ein ahnungsloser Beobachter glauben, sie hätten sich abgesprochen. Oder sie für Bruder und Schwester halten.

„Tanzt du mit mir? Oder wartest du noch eine halbe Stunde ab, ob er sich daran erinnert, dass du existierst?“ Das war nicht die nette Art zu fragen. War das gekränkte Eitelkeit oder entsprach es einfach Lucius' Art, die unangenehme Wahrheit auszusprechen, nach der niemand verlangt hatte? Oder übte er sich darin, Salz in Wunden zu streuen?

„Ich wünsche dir auch einen guten Abend, Lucius.“ Ohne ihre Begrüßung zu erwidern oder seine barsche Aufforderung abzumildern, bot er ihr seine Hand an und sie wusste nicht genau wieso, doch sie griff danach und ließ sich von ihm auf die Tanzfläche führen. Seine Hand war angenehm kühl und sie bewunderte, mit welcher Selbstverständlichkeit er sie in die richtige Position brachte und sich sekundenschnell in den Takt des laufenden Liedes einfand. „Du kannst Rabastan nicht leiden? Oder klang das gerade nur so?“

„Es ist unhöflich, sich nicht um seine Begleitung zu kümmern.“ Das war eine ausgesprochen diplomatische Antwort, die er ohne zu zögern hervorbrachte. „Nicht, dass ich mich nicht über eine Gelegenheit freuen würde, mit dir zu sprechen. Trotzdem bleibt es unhöflich von ihm.“ Wenn sie an seiner Stelle gewesen wäre, dann hätte sie sich grundlegend anders verhalten. Sie wäre sich selbst aus dem Weg gegangen und hätte sich mit der Frage gequält, warum sie ihn abgewiesen hatte und Rabastan nicht. Sie würde sich in endlose Vergleiche stürzen, doch vielleicht unterschätzte sie Lucius' Selbstbewusstsein. Womöglich hatte er sich ihre Absage nie zu Herzen genommen und verspürte nun einfach tiefes Mitleid mit ihr, weil sie kein Händchen für Verabredungen hatte.

„Was ist mit deiner Begleitung? Oder bist du in der Hoffnung hergekommen, dass jemand seine Tanzpartnerin vergisst?“ Seine Mundwinkel zucken. Als wäre es ganz und gar unverschämt von ihr, ihm ein solches Kalkül vorzuwerfen. Das Lied wechselt und anders als er gerät sie aus dem Takt. Sie stolpert gegen ihn und hofft, dass sie nicht errötet. „Verzeihung.“ Rasch bringt sie wieder einen angemessen Abstand zwischen sich und Lucius' Oberkörper. Er ist so freundlich, sie in eine Drehung zu entlassen und gerade als sie glaubt, ganz normal weiteratmen zu können, landet sie mit ihrem Rücken direkt an seiner Brust. Das ist zu nah. Nach wenigen Sekunden, in denen sie die Luft anhält, vollführt er die Drehung erneut und sie befindet sich wieder in der Ausgangsposition.

„Um ganz ehrlich zu sein, ich bin mit der Hoffnung hergekommen, dass Rabastan dich vernachlässigt. Er trinkt bei Slughorns Abendessen für gewöhnlich zu viel.“ Er lächelt und hebt ganz kurz die Augenbrauen. So als wollte er fragen, ob das nun etwas zu ehrlich war. Ob sie ihn etwa für einen Lügner hält.

„Mich direkt zu fragen, das ist dir wohl zu umständlich gewesen?“

„Sei ehrlich, du hättest mir ohne Skrupel wieder einen Korb gegeben. Ob aus Prinzip oder um zu sehen, ob ich es im nächsten Jahr wieder versuche.“ Also hatte er sich auf die Unzuverlässigkeit eines Mitschülers, eine in seiner Welt bekannte Variable, verlassen? Und dabei nicht einmal die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass sie ihn schlicht und ergreifend nicht ausstehen konnte? Sie wusste nicht, was sie von so viel Spekulationsgeist halten sollte, aber sie konnte auch nicht leugnen, dass sie sich ein wenig geschmeichelt fühlte.

„Du kennst mich nicht.“

„Oh, ein bisschen kenne ich dich doch. Du hast deine Prinzipien. Und aus irgendeinem Grund scheinst du mir keine Chance geben zu wollen, dich kennenzulernen. Habe ich dir irgendeinen Grund geliefert, um mich nicht leiden zu können?“ Stumm schüttelt sie den Kopf. Gerne würde sie ihm erklären, dass es keine Frage von Sympathie oder fehlender Sympathie ist, doch auf einmal fehlen ihr die Worte. Auf einmal kann sie sich gar nicht mehr erklären, warum sie in seiner Gegenwart dazu neigt, sich unnahbar zu geben. Und zu unter Gleichaltrigen überflüssigen Höflichkeiten greift.

„Genauso wenig wie ich dir irgendeinen Anlass geboten habe, um mich leiden zu können. Also woher kommt überhaupt dieser Wunsch, mich besser kennenzulernen? Woher willst du überhaupt wissen, dass ich jemand bin, den man kennen möchte?“

„Das ist nur so ein Gefühl.“ Sein Lächeln ist ganz und gar unverbindlich, doch sie kann ihm nicht ausweichen. Gerne würde sie an seinem linken oder rechten Ohr vorbei sehen, sich auf einen Punkt hinter ihm konzentrieren, doch stattdessen sieht sie ihm geradewegs in die Augen und versucht, gleichmäßig zu atmen. „Du gibst nicht viel von dir preis. Andere Mädchen würden sich damit brüsten, wenn sie so begabte Hexen wären, aber du nicht. Andere Mädchen würden sich auch etwas darauf einbilden, so schön zu sein.“ Nun ist es endgültig um ihre Nonchalance geschehen. Ihre Wangen werden heiß und sie ärgert sich darüber, dass sie so wenig mit der Situation umgehen kann. Ihre Hände zittern und er spürt es, weil ihre eine Hand auf seiner Schulter liegt und ihre andere Hand von ihm festgehalten wird.

„Mit Schmeicheleien kommst du bei mir nicht weit.“

„Das werden wir ja noch sehen.“ Abrupt lässt er sie los. „Aber vorläufig überlasse ich dich deinem Begleiter und bedanke mich für den Tanz und die bezaubernde Unterhaltung.“

Mit halb offenem Mund sieht sie dabei zu, wie er von der Tanzfläche verschwindet. Es kommt ihr so vor, als hätte sie kaum Zeit zu blinzeln, ehe ein schwankender Rabastan vor ihr steht. Kaum hat er den Mund geöffnet, kann sie den süßlichen, brennen Alkohol riechen. Grob schlingt er einen Arm um sie und zieht sie an sich, sodass Lucius ausfälliger Tanzschritt ihr mit einem Mal regelrecht harmlos vorkommt.

„Was wollte Malfoy von dir? Seid ihr befreundet?“

„Nicht wirklich, wir haben uns nur unterhalten.“ Eine spitzfindige Bemerkung könnte den Moment endgültig zerstören und jeglichen Anflug von weihnachtlicher Harmonie zerschlagen, doch ihr war nicht danach, sich zurückzuhalten. Höchstwahrscheinlich würde er sich am nächsten Tag sowieso nicht Wort für Wort an das erinnern, was sie jetzt sagte. „Und du warst ja anderweitig beschäftigt.“ Er nahm ihre Hände in seine und drückte sie so fest, dass sie beinahe leise aufgeschrien hätte.

„Ich weiß, ich weiß! Und das tut mir auch so so leid… ich… ich… das hier ist nicht so leicht für mich. Das ist alles nicht so einfach, weißt du? Nein, das weißt du natürlich nicht, das verstehst du nicht. Für dich ist schließlich immer alles spielend leicht, oder? Wenn ich nicht hier bin, dann ist das nicht schlimm, weil sich sofort jemand findet, der dir deine Zeit stehlen will, oder? Deine Gesellschaft ist ein kostbares Gut, du bist… kostbar.“

„Du bist betrunken.“ Er lacht und drückte ihre Hände noch ein bisschen fester.

„Das ist verdammt richtig. Tanzt du trotzdem noch mit mir?“ Er beugt sich so weit vor, dass sie Schwierigkeiten hat, sein Gesicht als Ganzes wahrzunehmen. Die Wolke des süßen Gestanks hüllt sie ein und sie will einen Schritt zurückweichen, doch sie kann nicht, weil sich seine Finger wie steinerne Klauen um ihre Handgelenke gelegt haben. Betrunkene Männer sind gefährlich. Das ist eine Weisheit, die sowohl von ihrer Mutter im nüchternen als auch von ihrem Vater im nicht mehr ganz so nüchternen Zustand stetig wiederholt worden war. Von betrunken Männern sollte man Abstand halten. Genau wie von Drachen. Und anderen, klar erkennbaren Bestien.

„Ich glaube, ich würde gerne zu Bett gehen. Ich bin müde.“

„Ist das dein Ernst? Der Abend hat noch nicht mal angefangen!“

„Ja, das ist mein Ernst, Rabastan. Ich hätte nicht herkommen sollen.“

„Nicht mit mir herkommen sollen, meinst du wohl? Hat es dir besser gefallen, von Malfoy begattet zu werden?“ Seine Aussprache ist feucht und es ist eine Grenzüberschreitung, seine Spucke in ihrem Gesicht zu spüren.

„Lass mich bitte los.“ Wie auf Kommando löst sich der Druck um ihre Handgelenke und er gibt sie frei. „Dankeschön. Ich wünsche dir noch einen vergnüglichen Abend… und ein frohes Weihnachtsfest.“

„Nichts anderes wünsche ich dir, Narzissa.“ Er grinst zähnebleckend für sie und als sie im Hintergrund des Geschehens Lucius Malfoy bemerkt, der sich mit einem schmalen, groß gewachsenen Mädchen aus Ravenclaw unterhält, deren Name Ann ist, insofern Narzissa nicht alles täuscht, fasst sie einen Entschluss. Lucius Malfoy möchte sie kennenlernen? Dann soll er sie kennenlernen.

Entschlossen geht sie auf Lucius und das große Mädchen zu und versucht, sich nicht allzu bleich und winzig vorzukommen. So klein ist sie eigentlich gar nicht. Neben Rabastan kam sie sich auch ein wenig zwergenhaft vor, während sie Lucius beim Tanzen in die Augen sehen konnte, ohne sich allzu sehr anstrengen zu müssen. Sie baut sich vor der Ravenclaw auf und versucht, so gerade wie möglich zu stehen.

„Ich möchte gehen. Bringst du mich zum Gemeinschaftsraum?“ Für den Bruchteil einer Sekunde tut er ihr den Gefallen und sieht überrumpelt aus, doch dann fängt er sich und nickt gewissenhaft. Ohne allzu viele Worte verabschiedet er sich von Ann, die nicht sehr traurig darüber scheint, und wirft einen ratlosen Blick in Richtung von Rabastan, der sich zur Theke bewegt hat und schon wieder ein volles Glas in der Hand hält. Lucius' Hand liegt kaum merklich über ihrem unteren Rücken und er dirigiert sie durch die schwatzenden, fröhlichen Weihnachtspartygäste. Auf dem Weg hinaus nickt er Slughorn zu, der gar nicht zu bemerken scheint, dass sie eigentlich zu Rabastan gehört. Einen Wanderpokal nennen Andromeda und Bella solche Mädchen, die von Woche zu Woche einen neuen Freund brauchen, um sich nicht zu langweilen. Narzissa weiß nicht, warum ihr dieser schmähende Ausdruck ausgerechnet jetzt in den Sinn kommt, doch sie denkt das Wort beinahe zwanghaft oft. Wanderpokal. Wanderpokal. Wanderpokal.

Auf dem Korridor weiß sie nicht, was sie sagen soll. Im Hintergrund hört man noch immer die Musik und das dumpfe Gelächter aus dem Büro. Wortlos hakt sie sich bei ihm ein und entscheidet, dass sie ja nicht unbedingt den direkten Weg zum Gemeinschaftsraum wählen müssen.

„Fährst du in den Ferien nach Hause?“ Das ist eine normale Frage, die sie am letzten Schultag jedem ihrer Mitschüler stellen könnte. Ihre Hand liegt auf Lucius' Unterarm und wenn sie wollte, dann könnte sie seinen Puls fühlen, doch sie tut es nicht, sondern sieht nur ganz normal geradeaus.

„Du bist mir ein Rätsel, weißt du das?“

„Ich dachte, mit den schmeichelnden Worten wären wir fertig?“ Er lacht auf und sie kann gar nicht anders, als ein bisschen mitzulachen. Das tut gut, es mildert ihre Verlegenheit. Im Angesicht von Rabastans offensichtlicher Unfähigkeit, aufrecht zu stehen, hat sie sich so mutig gefühlt, doch nun ist sie mit Lucius allein und sie beginnt, sich selbst zu hinterfragen. Ist es wirklich so eine gute Idee, einen Schritt auf ihn zuzumachen? Bedeutet das jetzt etwas? Bedeutet ihm das etwas?

„Dieses Jahr werde ich nicht nach Hause fahren.“ Seine Stimme klingt ein wenig belegt. So als würde er sich sehr viel Mühe geben, irgendeinen Unterton zu unterdrücken. Es ist schwer zu sagen, ob er sauer oder traurig ist oder ob er ihre Frage schlichtweg ungern beantwortet. „Im Sommer ist meine Mutter verstorben. Mein Vater und ich haben kein so gutes Verhältnis und wir legen beide keinen gesteigerten Wert darauf, die Feiertage miteinander zu verbringen, also bleibe ich hier.“

„Das tut mir sehr leid.“ Reflexartig streichelt sie mit ihrer freien Hand über seinen Unterarm so wie sie es auch bei Sirius und Regulus früher oft getan hat, wenn die beiden zu heftig gespielt und sich verletzt haben. „War sie krank?“ Er nickt zögerlich. Es ist offensichtlich, dass es mehr zu sagen und zu erfragen gäbe, doch sie will ihn nicht bedrängen. „Danke, dass du mir das erzählt hast.“

„Fährst du zu deiner Familie?“ Seine Stimme klingt noch immer irgendwie merkwürdig und sie staunt darüber, wie schnell sich diese Unterhaltung gewandelt hat. Bei den beiden gemeinsamen Patrouillen sind sie stundenlang durch das Schloss gelaufen, ohne einander allzu Persönliches anzuvertrauen – und auf einmal braucht es nur wenige Silben?

„Ja. Ich will für meinen Cousin da sein… er geht in die erste Klasse und ist ein Gryffindor.“ Dieser kleine Skandal, ein Black in Gryffindor, ist für sie mittlerweile eine Selbstverständlichkeit und sie bewundert, wie überrascht er aussieht. „Seine Eltern sind nicht begeistert und… na ja, ich hoffe einfach, dass es trotzdem ganz nett wird. Und ich würde meine Schwester gerne wiedersehen. Du weißt ja wahrscheinlich, dass Bella im Sommer ihren UTZ-Abschluss gemacht hat.“ Er nickt, denn natürlich weiß er das. Sirius Black ist nur einer von vielen Erstklässlern und vielleicht hat er bei der Zeremonie am ersten September gestutzt, dass ein Black nicht nach Slytherin kommt, aber vielleicht hat er auch nicht allzu viel darüber nachgedacht. Der Nachname ist immerhin nicht einzigartig, es wird auch Muggel und Muggelstämmige geben, die so heißen. Doch Bellatrix Black, die kennt er, natürlich kennt er sie. „Ich vermisse sie.“

„Verstehst du dich mit ihr besser als mit Andromeda?“

„Nein, so würde ich das nicht sagen. Wie kommst du darauf?“ Es stimmt, aber so würde sie es trotzdem nicht sagen. Früher hat sie keinen Unterschied zwischen Bella und Andromeda gemacht, aber nun, wo Bella weg ist, da merkt sie erst, wie schwer es ihr manchmal fällt, sich mit Andromeda zu unterhalten. Irgendetwas fehlt. Irgendetwas fühlt sich in diesem Schuljahr einfach anders an, aber die Vorstellung, dass jemand außer ihr das bemerkt haben soll, erschreckt sie.

„Es ist nur, weil ihr so unterschiedlich seid. Ich kann das nicht so genau benennen, es war nur mein Eindruck… entschuldige, wenn ich das irgendwie falsch aufgefasst habe.“ Er entscheidet, dass sie nach links gehen, obwohl die Treppe in Richtung der Kerker auf ihrer rechten Seite ist und sie lässt es zu. Sie will auch mehr Zeit. Sie will noch nicht vor ihrem Gemeinschaftsraum stehen und nicht wissen, wohin mit ihren Händen und Füßen. Der Moment kommt noch früh genug. Darauf kann sie noch ein bisschen warten.

„Andromeda mag dich nicht besonders.“ Sie glaubt, Lucius seufzen zu hören, doch als sie den Kopf dreht und ihn ansieht, da schmunzelt er.

„Ich weiß.“

„Warum mag sie dich nicht?“

„Wir sind wohl einfach recht verschieden.“ Diese Antwort ist nicht besonders gut und sie glaubt, dass ihm das auch bewusst ist. Er ist schließlich nicht blöd. Er kann sich konkret ausdrücken.

„Das ist doch kein Grund. Man kann doch gut miteinander auskommen, auch wenn man grundverschieden ist. Wir sind doch auch grundverschieden.“ Und sie kamen wenigstens jetzt in diesem Moment miteinander aus. Zumindest schienen sie einander nicht zu langweilen. Lucius sieht beinahe belustigt aus, wie er so die Augenbrauen hebt und sich ein Grinsen verkneift.

„Ach, meinst du wirklich, wir sind uns nicht doch ein bisschen ähnlich?“

„Offenbar nicht. Ich mag meine Schwester. Auch wenn es uns an allzu vielen Gemeinsamkeiten fehlen mag.“ Ihr eigener Trotz trifft sie ein wenig unvorbereitet. Normalerweise hat sie nicht so schnell das Gefühl, sich vor jemandem rechtfertigen zu müssen – aber normalerweise stellt auch niemand das Verhältnis von ihr und ihren Schwestern in Frage. „Du hast keine Geschwister, oder?“ Lucius schüttelt den Kopf. „Cousins oder Cousinen im selben Alter?“ Das Kopfschütteln hält an. „Dann kannst du das gar nicht verstehen. Andromeda und ich könnten jede Grundsatzdiskussion auf der Welt führen, die Welt könnte untergehen – und wir würden immer noch miteinander sprechen.“

„Was wäre, wenn sie einen Muggel heiraten würde? Würde das gar keinen Unterschied machen?“ Andromeda, der Besen, die größte Realistin, die Narzissa überhaupt kennt… es ist undenkbar, dass Andromeda so eine dumme, irrationale Entscheidung treffen würde. Selbst wenn sie insgeheim eine große Romantikerin ist, das will Narzissa ja gar nicht bezweifeln.

„Das würde niemals passieren. Aber selbst wenn, sie wäre immer noch meine Schwester. Selbst wenn sie sich irgendwann mal in eine andere Hexe verlieben sollte!“ Sie weiß gar nicht, wie sie nun ausgerechnet darauf kommt, aber es ist ja nicht unvorstellbar. Und immerhin ein ähnlich drastisches Beispiel wie das von Lucius gewählte Gedankenspiel.

„Okay.“

„Ich muss dir gar nichts beweisen.“

„Nein, das musst du nicht.“ Es fühlt sich seltsam an ihn so anzugehen, wenn sie noch immer eingehakt neben ihm läuft und sie durch einen Teil des Schlosses gehen, in dem es nichts zu tun oder zu sehen gibt.

„Wir sollten zum Gemeinschaftsraum zurück. Ich bin wirklich müde. Ich möchte schlafen.“ Beflissen nickt Lucius und schlägt den kürzesten Weg in Richtung der Kerker ein. Es fühlt sich so an als würden die Mauern des Schlosses an ihr vorbeifliegen, obwohl sie nicht einmal besonders schnell zu Fuß sind. Binnen weniger Minuten stehen sie im menschenleeren Gemeinschaftsraum vor den Treppen zu den Schlafsälen und sie entzieht ihm ihren Arm. Auf einmal fühlt es sich merkwürdig an, so nah bei ihm zu stehen und sie dreht sich so, dass sie ihn geradewegs ansehen kann. „Vielen Dank für deine Eskorte. Ich wünsche dir ein frohes Weihnachtsfest, falls wir uns nicht mehr sprechen sollten.“ Sie würden sich nicht sprechen, ehe sie morgen Vormittag in den Zug steigen würde. Warum um Himmels Willen sollten sie einander sprechen? Wieso gab sie nur solchen Unsinn von sich?

„Ich wünsche dir auch schöne Ferien.“

„Gute Nacht, Lucius.“

„Gute Nacht.“ Erst als sie die Treppen zu den Mädchenschlafsälen hinaufsteigt, bemerkt sie, wie warm ihr eigentlich ist. Wie sehr ihre Knie zittern. Wie schnell ihr Herz schlägt. Was Lucius Malfoys bloße Gegenwart mit ihr macht.

Chapter 5: Vice Versa

Chapter Text

5 – Vice Versa



„Warum kannst du Lucius eigentlich nicht leiden?“ Der Kopf ihrer Schwester ist nur wenige Minuten nach Beginn der Zugfahrt hinter einem Buch verschwunden und Narzissa hat sich eine Stunde Zeit gelassen, um sicher zu sein, dass ihr nicht bloß langweilig war, sondern ihr diese Frage wirklich unter den Nägeln brannte.

„Er ist rücksichtslos.“ Langsam lässt Andromeda das Buch sinken und sieht ihr unumwunden in die Augen. Darauf war Narzissa vorbereitet. Sie hat sich eine undurchdringliche, fast gleichgültige Miene erarbeitet, ehe sie den Mund aufgemacht hat. „Ich sage ja nichts gegen ein bisschen Egoismus, aber jemand wie Lucius Malfoy wird immer nur das tun, was gut für Lucius Malfoy ist. Er hat nicht ohne Grund keine Freunde.“

„Ich habe auch keine richtigen Freundinnen.“ Nachdem sie vier Monate lang ohne ein Wort von Bella gelebt hatte, war ihr das erst so richtig klar geworden.  Die Mädchen in ihrem Schlafsaal waren da und natürlich konnte sie sich mit ihnen unterhalten und ihre Zeit mit ihnen verbringen, aber Freundinnen waren sie nicht.

„Du bist eben eine Einzelgängerin. Wenn du wolltest, wäre jedes Mädchen in Slytherin deine beste Freundin. Dich meidet niemand. Dir misstraut niemand, Zissy, die Menschen mögen dich. Das ist der Unterschied.“ Andromeda hat die Augen leicht zusammengekniffen. Sie hat einen Verdacht. Natürlich hat sie den. Ihre Schwester riecht selbst Rauch, wo kein Feuer ist. „Woher kommt die Frage auf einmal? Tanzt du auf zwei Hochzeiten gleichzeitig?“

„Wie bitte?“

„Ich dachte, du wärst mit Rabastan verabredet gewesen. Also warum reden wir jetzt über Lucius Malfoy? Oder tun wir so, als wäre er nicht ein anerkannter Liebling von Slughorn? Oder kein Vertrauensschüler? Eure Wege haben sich in den letzten Wochen sicher ein paar Mal gekreuzt und wenn du jetzt über ihn reden willst, dann hat das ja wohl was zu bedeuten.“ Wenn ihre Schwester doch nur höhere Ambitionen hätte! Narzissa war sich sicher, dass man im Zaubergamot händeringend nach Leuten suchte, die  Verhöre in genau diesem Stil führen konnten.

„Ich wollte lediglich wissen, warum ihr keine gute Meinung voneinander habt.“

„Willst du damit sagen, dass du Lucius Malfoy schon gefragt hast, warum er mich nicht leiden kann? Oder planst du eine solche Unterhaltung nur gerade in Gedanken?“ Nun hat Andromeda ihr Buch endgültig aus den Händen gelegt und dabei noch dazu die Seite verschlagen. Ihre Schwester beugt sich zu ihr vor und ihre Augen sind nicht länger schmale Schlitze, sondern weit aufgerissen. „Das hast du nicht getan!“ Auf einmal hat Narzissa ein schlechtes Gewissen. Sie nickt eingeständig und sieht dabei zu, wie Andromeda die Wangen einsaugt. Das tut sie nur, wenn sie sich selbst beruhigen will. „Und? Was war das Ergebnis dieser Konversation?“

„Kein Ergebnis… es ist nur… mit ihm zu reden ist komisch. Aber es ist auch interessant. Er ist so… anders.“ Sie klang wie ein schlimmes Klischee. Wie eine wandelnde Schnulze. Sie konnte Andromeda ihr Augenrollen nicht einmal verdenken. „Er ist direkt. Und ich weiß nicht, ob er nur so erwachsen tut oder ob er es wirklich ist. Aber mit Rabastan war es furchtbar. Er hat mich alleine zwischen Fremden stehen lassen und zu schnell zu viel getrunken.“

„Das klingt gar nicht nach Rabastan.“ Die Bestürzung ihrer Schwester ist aufrichtig und das beruhigt sie ungemein. Vor dem Einschlafen hat sie noch versucht, sich daran zu erinnern, was sie eigentlich über Rabastan weiß. Wie gut sie ihn eigentlich kennt. Wie schwer sie sich eigentlich verschätzt hat. Wie grob die Täuschung war. „Tut mir leid, dass dein Abend so gelaufen ist… ich dachte eigentlich, er würde sich richtig Mühe geben. Ich glaube, er hat ewig darüber nachgedacht, dich zu fragen… zumindest hatte ich das Gefühl, dass er ständig versucht hat, mit dir zu reden und so was. Vielleicht war er gestern nervös und hat deshalb zu viel getrunken? Bestimmt ärgert er sich schon über sich selbst.“

„Du nimmst ihn in Schutz.“ Eigentlich wollte sie Andromeda noch gestanden haben, dass sie gestern den einen oder anderen Umweg mit Lucius gegangen war, doch dazu hatte sie nun wirklich keine Lust mehr. Nicht, wenn ihre Schwester so eindeutig parteiisch war. So voreingenommen. „Wenn er dir so gefällt, dann solltest du dich vielleicht besser mit ihm verabreden.“

„Du bist aggressiv.“ Eine gute Tochter, eine gute Schwester, war niemals aggressiv. Allerhöchstens mal ein bisschen wütend, so ganz konnte man den Affekten ja doch nicht entgehen. „Ich bin auch gekränkt, weil Bella sich nicht bei uns gemeldet hat. Ich bin auch sauer. Aber lass das nicht an mir aus. Lass das nicht an Weihnachten raus.“

„Und wann soll ich es dann rauslassen?“

„Gar nicht.“ Ungerührt greift Andromeda nach ihrem Buch und Narzissa wünschte, sie wäre nicht hier, sondern woanders. An einem Ort, an dem sie frei atmen oder wenigstens das Fenster öffnen konnte.

* * *



Bella hat ihre Locken so weit abgeschnitten, dass sie knapp über ihren Schultern enden. So kurz hat sie die Haare ihrer ältesten Schwester noch nie gesehen. Es sieht merkwürdig aus, als wäre Bella nicht mehr derselbe Mensch wie im Sommer, doch Narzissa lügt und behauptet, es steht ihr. Nachdem sie sieben Stunden damit verbracht hat, sich elegante Beschimpfungen auszudenken, die sie bei Tisch hervorbringen kann, um ihre Schwester zu beleidigen, ohne ihre Eltern zu brüskieren, freut sie sich einfach nur darüber, dass Bella neben ihrem Vater steht und sie in die Arme schließt. Als wäre gar nichts passiert.

Die Hände ihrer Schwester sind kalt und das wird Bella wissen, doch es hindert sie nicht daran, über Narzissas Wangen zu streichen. „Du bist blass, Zissy.“ Diese Besorgnis ist nicht dazu gedacht, ihr ein gutes Gefühl zu geben. Unwillkürlich tritt Narzissa einen Schritt zurück und hofft, dass ihre große Schwester darin kein Zeichen von Schwäche erkennt. Sie ist verletzt und sie will, dass Bella das weiß, aber irgendwie hoffte Narzissa auch, dass sie es nicht merkt. Dass sie stärker ist. „Ich hab dich vermisst. Ich hätte dir schreiben sollen.“ Das war nur eine Feststellung – und keine Entschuldigung. Den Unterschied würde Narzissa nicht verkennen.

„Ja, das wäre nett gewesen.“ Narzissa knöpft ihren Mantel zu und rückt den Schal zurecht, den sie im Zug nur hastig übergestreift hat. Sie betrachtet die hübschen, schwarz schimmernden Knöpfe und nimmt nur aus dem Augenwinkel wahr, dass Bella und Andromeda sich mit einer verhaltenen Umarmung begrüßen. Als sie wieder aufschaut, steht ihr Vater direkt vor ihr.

Er ist schlecht rasiert und scheint seit dem Sommer um zehn Jahre gealtert. Die Augen hinter den Brillengläsern wirken trüb und müde wie die eines Greisen. Sie versucht, sich ihren Schreck nicht anmerken zu lassen. Es ist in den letzten drei Jahren immer offensichtlicher geworden, dass ihr Vater krank ist. Er altert doppelt, wenn nicht dreimal so schnell wie andere Menschen. Seine Haut wirkt gelblich und spannt sich über sein knochiges, ausgehöhltes Gesicht. Sie presst die Lippen fest aufeinander, um nicht zu schluchzen oder etwas Unbedachtes zu sagen und schließt ihren Vater vorsichtig in die Arme. Er ist immer noch größer als sie, er wird immer größer sein, so hoch hinaus kann sie gar nicht wachsen, aber trotzdem fühlt es sich an, als würde sie vielleicht zu fest drücken.

„Frohe Weihnachten, mein Schatz.“ Sie spürt, wie ihre Augen anfangen zu brennen und verbirgt ihr Gesicht an seiner Schulter. „Ich bin froh, dass ihr nach Hause gekommen seid.“ Langsam lässt er sie los und nickt Andromeda zu. Ihre Schwester hat mit 12 verkündet, dass sie ab sofort nicht mehr von ihrem Vater berührt werden möchte und manchmal vermutet Narzissa, dass sie diesen präpubertären Wunsch bereut, doch ihr Vater hält sich daran.

„Wollen wir dann? Es ist schon wieder entsetzlich voll hier und es stinkt nach Kohle. Andromeda, apparierst du mit mir?“ Bella übernimmt das Kommando und ihre Entschlossenheit ist so altvertraut. Mit einem Nicken hakt Andromeda sich bei ihr ein und Narzissa greift nach dem Arm ihres Vaters. Mit ihrer freien Hand hält sie den Koffer fest, in den sie nur einige Kleider, die ihr nicht mehr gefallen oder nicht mehr richtig passen, Unterwäsche und die Weihnachtsgeschenke für ihre Familie gepackt hat. Sie schließt die Augen, prägt sich das Bild von ihren Schwestern ein, die vor der dampfenden, roten Lokomotive stehen, und steigt mit ihrem Vater durchs Nichts.

Als sie die Augen öffnet, stehen sie im Wohnzimmer. Sie sieht den Weihnachtsbaum und die festlich dekorierte Tafel und es scheint so, als würde Weihnachten dieses Jahr nicht im Grimmauldplatz gefeiert werden, sondern bei ihnen. Es riecht nach Kartoffelsuppe und aus der Küche kann sie die Stimme ihrer Mutter hören, die Wretcha erklärt, dass sie eine Zumutung für jeden ordentlich geführten Haushalt ist. Ihr Herz beginnt zu rasen und sie spürt förmlich, wie der heimische Stress unter ihre Haut kriecht. Sie hat das Bedürfnis, tief Luft zu holen und lässt ihren Vater nur ungern los.

Obwohl es nur der Heilige Abend ist, sie an diesem Abend für gewöhnlich keine Gäste haben und früh ins Bett gehen, hat ihre Mutter eine glitzernde, tannengrüne Robe ausgesucht und zu viel Rouge aufgetragen. Ihre langen, dunklen Haare sind zu einem mädchenhaften Zopf geflochten und sie könnte eher Bellas Zwillingsschwester sein als ihre Mutter. Verglichen mit ihr wirkt ihr Vater beinahe grotesk alt, obwohl er eigentlich sogar jünger als sie ist.

„Narzissa, was stehst du denn schon wieder so krumm da? Du machst dir noch den Rücken kaputt.“ Ihre Mutter meint es gut. Sie will nicht, dass Narzissa später einmal ein Korsett tragen muss. Sie meint es gut. Hastig streckt sie ihren Rücken durch und rollt ihre Schultern nach hinten. Neben ihnen kommen Bella und Andromeda an und ehe sich eine unangenehme Stille ausbreiten oder ihre Mutter etwas zu ihrem unordentlich gebundenen Zopf sagen kann, stellt Bella eine Frage, die den Ablauf des gesamten Abends durcheinanderbringt.

„Ist Rodolphus noch im Garten und raucht seine Zigarren?“ Bellas Stimme klingt ganz eigenartig. Ein bisschen so als würde sie zu wenig Sauerstoff bekommen. Ein bisschen zu hoch. Auf dem Gesicht ihrer Mutter breitet sich ein zufriedenes Lächeln aus.

„Er ist im Gästezimmer. Er wollte noch einige Briefe schreiben. Aber das Essen ist gleich fertig, vielleicht sagst du ihm Bescheid?“ Beflissen nickt Bella und verschwindet aus dem Wohnzimmer. Narzissa weiß, dass sie ihre Mutter anstarrt und sie ist froh darüber, dass wenigstens Andromeda genauso überrascht aussieht wie sie sich fühlt.

„Rodolphus Lestrange ist in unserem Gästezimmer?“ Narzissa weiß, dass ihre Mutter sich an ihrem Tonfall stört und tadelt sie mit Blicken.

„Rodolphus ist an Weihnachten unser Gast. Morgen werden seine Eltern uns ebenfalls besuchen. Eure Großeltern werden morgen Früh anreisen, mittags kommen Walburga und Orion mit den Kindern. Ich erwarte, dass ihr morgen nicht verschlaft, sondern mir helft und euch um unsere Gäste kümmert.“ Es war nicht ungewöhnlich, dass ihre Mutter sie in die Rolle von kleinen Gastgeberinnen und Alleinunterhalterinnen drängte, aber es war doch neu, dass sie an allen drei Weihnachtstagen Verwandte beherbergen würden. Wenn sie ihre Mutter da überhaupt richtig verstanden hatte. Vielleicht blieb ja nur Rodolphus bis zum 27. Dezember. „Nun setzt euch schon hin und lasst die schweren Koffer los. Wretcha kümmert sich darum.“ Kaum war ihr Name gefallen, tauchte die Elfe auf, tischte einen großen Topf mit Suppe, Schüsseln mit Brot und zwei Flaschen Elfenwein auf. Mit den frei gewordenen Händen nahm sie Narzissa und Andromeda die Koffer ab und disapparierte in die Waschküche.

Aus Gewohnheit nahm Narzissa den Platz neben der abwesenden Bella ein und ärgerte sich direkt darüber, denn Rodolphus Lestrange war eine Unbekannte in der Gleichung und es war durchaus denkbar, dass dadurch der ganze Sitzplan  anders geraten würde. Und neben ihm wollte sie nun nicht unbedingt sitzen. Ihre Erleichterung kannte keine Grenzen, als Bella den Stuhl neben ihr beschlagnahmte und Rodolphus sich am Kopf des Tisches, gegenüber von ihrem Vater, hinsetzte. Auf der anderen Seite des Tisches saßen Andromeda und ihre Mutter und es war eigentlich alles wie immer. Wenn sie nur nicht nach links sah.

Rodolphus grüßte förmlich und vornehm in die Runde, doch sie hörte kaum, was er sagte. Wann immer er ihr in die Augen sah, konzentrierte sie sich auf seine Ohren oder sein Kinn. Vermutlich erzählte er gerade eine schöne Geschichte darüber, wie er hier gelandet war, doch sie musste das nicht hören. Es war doch offensichtlich. Es war hier wegen Bella. Weil Bella sich vielleicht das ganze Halbjahr über nicht bei ihr gemeldet hat, die Zeit jedoch keineswegs unter einem Stein oder auf einem einsamen Berggipfel verbracht hatte.

Das Abendessen wurde eröffnet, die Suppe war warm und der Wein, den sie mit Wasser mischte und so laut Rodolphus verdarb, war sauer. Ihr Magen drehte sich, aber ihr war nicht im herkömmlichen Sinne übel. Sie wünschte sich die letzten 24 Stunden zurück. Sie wäre gerne wieder in dem stickigen, lauten Büro von Horace Slughorn und wäre gerne wieder das Mädchen, das die Entscheidung traf, sich von Lucius Malfoy, dem allseits ungeliebten Mitschüler, durch das Schloss spazieren zu lassen.

Mechanisch beantwortete sie Fragen über ihren Stundenplan, über die im Sommer bevorstehenden ZAG-Prüfungen, über ihre Mitschülerinnen und über ihre Gesundheit. Ihr Vater wollte wissen, wie sie mit den zusätzlichen Vertrauensschülerpflichten zurechtkam und während sie ihre eigenen Gesichtszüge unter Kontrolle hatte, war Andromedas Miene einfach nur verräterisch. Ihr Vater stellte keine Nachfragen, ihre Mutter war damit beschäftigt, Rodolphus zu versichern, dass er sie doch bitte „einfach Druella“ nennen sollte, doch Bella bemerkte es. Bella würde nachfragen. Vielleicht. Was wusste sie schon darüber, was ihre Schwester tun oder nicht tun würde.

* * *



Es war absurd, dass sie in ihrem eigenen Bett, ihrem schönen Zimmer, schlechter schlief als in Hogwarts, wo sie keine eigenen Möbel hatte und jede Nacht dem Atmen, Schnarchen und Brabbeln von drei anderen Mädchen zuhören musste. Als Wretcha an ihre Tür klopfte, um sie zu wecken, saß sie bereits auf ihrer Fensterbank und sah dabei zu, wie es langsam hell wurde.

„Guten Morgen, Miss Narzissa. Frohe Weihnachten, Miss Narzissa.“ Irgendjemand hatte der Elfe silberfarbenes Lametta wie Schmuck um Hals und Ohren gebunden.

„Frohe Weihnachten, Wretcha.“ Hastig verneigte sich die Elfe.

„Danke, Miss Narzissa. Ich habe Ihre Sachen gewaschen, getrocknet und so wie üblich sortiert. Brauchen Sie Hilfe beim Anziehen?“

„Ich komme alleine zurecht.“ Sie nickte ihr zu und schenkte der Elfe ein Lächeln. Als Wretcha verschwunden und die Tür wieder geschlossen war, ging es ihr besser. Schon beim Einschlafen hatte sie versucht, sich einzureden, dass es nicht so schlimm werden würde. Dass eigentlich überhaupt nichts schlimm war und sie die Feiertage früher ja schließlich auch nicht als Belastung empfunden hatte.

In weiser Voraussicht hatte sie vor dem Zubettgehen noch gebadet, sodass sie sich nun direkt anziehen und ihre Haare kämmen konnte, ehe sie ins Bad ging, ihre Zähne putzte und ihre Haut im Spiegel nach irgendwelchen Unreinheiten absuchte, die unbedingt überdeckt werden mussten. Ihre Mutter hatte Recht gehabt, sie war wirklich blass. Das dunkelblaue, wollene Kleid für das sie sich entschieden hatte, stand ihr nicht besonders gut. Es ließ ihre Haut und ihre Haare nur noch heller wirken. Obendrein war es ihr etwas zu groß und zugleich so kurz, dass es ihre Knie nicht bedeckte.  Ein suboptimales Kleidungsstück, das sie nicht ohne Grund im Sommer hier zurückgelassen hatte. Dennoch verzichtete sie darauf, sich umzuziehen. Sie war schließlich nicht hier, um irgendjemanden zu beeindrucken. Hier war schließlich niemand, den sie beeindrucken konnte.

Als sie das Esszimmer betrat, wünschte sie sich, ein wenig länger getrödelt zu haben, denn am Tisch saß nur ihre Mutter. Sie trug ihre Lesebrille, blätterte durch den „Tagespropheten“ und nippte an einer Tasse Pfefferminztee. Im ganzen Raum roch es nach dem Tannenbaum und Pfefferminz und vielleicht war es ja doch nicht so fürchterlich.

„Frohe Weihnachten, Mum.“ Ihre Mutter fuhr zusammen, als wäre sie tief in Gedanken versunken gewesen, dabei war sie noch nicht einmal bei der Rätselseite angekommen.

„Oh, du bist schon fertig? Ich habe Wretcha doch gerade erst zu euch geschickt.“ Druella Black war eine gnadenlose Frühaufsteherin, die kein Verständnis dafür hatte, dass jemand nach sieben Uhr morgens aufwachte, doch Narzissa versuchte, den freudig überraschten Tonfall ihrer Mutter nicht wahrzunehmen.

„Ich habe nicht so gut geschlafen.“ Ihre Mutter nickte und schnippte mit den Fingern, um die Teekanne daran zu erinnern, dass es noch mehr Menschen gab, die bedient werden wollten. Narzissa setzte sich, zog die Knie an – eine Sitzhaltung, die nur beim Frühstück toleriert wurde, aus unbegreiflichen Gründen – und trank einen Schluck von dem viel zu heißen Tee. Ihre Kehle brannte und sie versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. Eine Bemerkung darüber, dass sie vorsichtiger sein sollte, brauchte sie jetzt nicht.

„Das Kleid hast du lange nicht mehr getragen.“ Über die Ränder der Lesebrille betrachtete ihre Mutter sie ruhig. „Daran sieht man, dass du zwischenzeitlich doch gewachsen bist. In den Ferien wollte Walburga mit Regulus zu Madam Malkin. Sie wird dich mitnehmen, du brauchst ein paar schöne, neue Sachen, die dir auch richtig passen.“

„Okay.“

„Wenn du hungrig bist, sag Kreacher Bescheid. Er ist seit einer Stunde in der Küche und bereitet das Abendessen vor. Sobald alle angekommen sind, wird ein Frühstück serviert, aber das wird noch eine Weile dauern.“ Ihre Mutter ringt sich ein Lächeln ab – eigentlich verzieht sie nur ihre Mundwinkel, aber Narzissa will wohlwollend sein, sie muss wohlwollend sein, sonst übersteht sie die nächsten zwei Wochen nicht – und steht auf. Sie weiß nicht, ob es eine Erleichterung oder eine Grausamkeit ist, zu wissen, dass ihre Mutter mit ihr genauso wenig anfangen kann wie sie selbst mit ihrer Mutter.

Um Kreacher und ihren Magen nicht übermäßig zu beunruhigen, nimmt sie sich in der Küche einen Apfel und stellt eine Dose mit Keksen auf dem Esstisch ab. Zu ihrem Unglück erscheint Rodolphus vor ihren Schwestern oder ihrem Vater, doch sie hat damit begonnen, das Kreuzworträtsel zu lösen und wird sich dabei von nichts und niemandem stören lassen.

„Guten Morgen.“

„Guten Morgen.“ Sie sieht ihn an, lächelt für eine Sekunde und wendet sich dann wieder dem gesuchten österreichischen Zaubereiminister mit dem Vornamen Gustav zu. Als Rodolphus sich setzt, schiebt sie die Dose mit Kekse ein Stück in seine Richtung, sodass er sie nicht darum bitten muss.

„Es erscheint mir nur fair, dir zu sagen, dass Rabastan später auch kommen wird.“ Nun kann sie nicht anders, als ihn zu beachten.

„Was hat diese Mitteilung mit Fairness zu tun, wenn ich fragen darf?“

„Offenbar hat mein Bruder versucht, sich dir anzunähern und sich dabei nicht besonders geschickt angestellt. Und du wirkst alles andere als begeistert über meine Anwesenheit, wenn man das so sagen darf. Deswegen dachte ich mir, ich warne dich, für den Fall, dass es sonst niemand getan hat und du deine Garderobe noch einmal überdenken wolltest. Oder dir ein geeignetes Versteck suchen möchtest.“ Rodolphus Mundwinkel zucken und er könnte gar nicht deutlicher machen, wie lächerlich er sie findet. Sie und ihren Versuch, über den Dingen zu stehen und sämtliche Mitglieder der Familie Lestrange zu ignorieren. „Ich weiß nicht, was er dir getan hat, aber Rabastan ist ein guter Mensch. Er wäre ein guter Freund für dich.“

„Ich möchte aber vielleicht gar keinen Freund.“ War es denn so ungewöhnlich, dass sie mit 16 Jahren noch nicht davon träumte, ihren zukünftigen Ehemann kennenzulernen? War es so undenkbar, dass es ihr wahnsinnig vorkam, in solchen Dimensionen zu denken? „Was ist mit dir und Bella? Werdet ihr heiraten?“ Auf die offizielle Verkündung der Verlobung zu warten, hielt sie nicht aus.

„Eines Tages, hoffentlich.“ Also hatte irgendjemand noch nicht seinen Segen gegeben? Oder befürchtete er, sie würde es vorschnell allen erzählen und damit den natürlichen Ablauf des Tages stören?

„Warum übernachtest du dann im Gästezimmer?“ Auf seinem Gesicht breitet sich ein feines Grinsen aus, doch er gibt ihr keine Antwort, deshalb wendet sie sich wieder der Rätselseite zu.

„Weil es sich so gehört. Manche Dinge macht man einfach, weil sie sich so gehören. Das solltest du doch eigentlich auch wissen, oder? Du bist schließlich fast erwachsen.“ Beinahe ein wenig belustigt betrachtete er ihr aufgestelltes Knie, das sie aus purem Trotz nicht bewegt, obwohl es ihr unangenehm ist, wie er sie ansieht. „Oder bist du vielleicht doch noch ein stures Kind?“

„Meinst du nicht, dass man mit Sturheit auch alt werden kann?“

„Sicher kann man das, wenn die Rahmenbedingungen stimmen.“ Wenn das Vermögen stimmt. Wenn der Familienname stimmt. Wenn das Geschlecht stimmt. Er muss es nicht einmal laut aussprechen, sie weiß genau, was er meint. Die Vorstellung, dass Bella, die so viel mehr ist als dieser Ausbund an Selbstgefälligkeit, wirklich entschieden hat, diese Person heiraten zu wollen, ekelt sie ganz entsetzlich. Ist das vielleicht der Grund dafür, dass sie ihr nicht geschrieben hat? Konnte Bella erraten, welche Missbilligung Narzissa für Rodolphus Lestrange übrig haben würde? Oder hatte er am Ende entschieden, dass sie lieber nicht so viele Briefe schreiben sollte? „Du guckst so, als wolltest du mir etwas sagen?“

„Du hast sie nicht verdient.“

„Ich weiß es, sie weiß es, du weißt es, aber mal ehrlich, wer hätte sie denn verdient? Wer könnte das schon von sich behaupten?“ Mit so wenig Sarkasmus und so viel Selbstreflektion hat sie nicht gerechnet – und er offenbar auch nicht. Oder er räuspert sich einfach nur so. „Aber nett, dich mal so richtig kennenzulernen.“ So richtig. Wollte er damit sagen, dass sie falsch war, wenn sie ihn zu einer menschlichen Uhrzeit bei einer gesellschaftlichen Veranstaltung traf? Ja, vielleicht wollte er das sagen. Vielleicht war das so.

* * *



Sie genießt es, in den Wolken des Parfüms ihrer beiden Großmütter zu ersticken, Kekse zu essen und sich anzuhören, wie schön es ist, endlich wieder eine Vertrauensschülerin in der Familie zu haben. Ihre Mutter verzieht missbilligend das Gesicht, als ihre Schwiegermutter in ihrer Gegenwart bemerkt, was für ein schönes Kleid Narzissa da trägt, so schlicht, so vornehm. Ihre Großväter nicken anerkennend und behaupten einstimmig, dass sie ja schon ganz erwachsen aussähe und sie verbringt sehr viel Zeit damit, gut gemeinte Geschenke auszupacken. Sie bekommt Kerzen, Seifen, Socken, Bücher, Galleonen, Schmuck, ein überteuertes Parfüm von ihrer Großtante Melania und von ihrer Tante Walburga die Einladung zu Madam Malkins Schneiderei.

Sirius wurde in ein blütenweißes Hemd gesteckt und riecht nach Murtlap-Essenz, mit der zweifelsohne der eine oder andere blaue Fleck noch im Moment der Entstehung verhindert werden sollte. Arcturus Black spricht den ganzen Nachmittag von Regulus, trinkt zu viel Feuerwhiskey und raucht im Wohnzimmer, ohne dass ihre Mutter es verhindern kann.

Die Ankunft der Lestranges stellt keinen echten Tiefpunkt dar. Narzissa ist mit Keksen vollgestopft, überzuckert und hört ihrer Großmutter zu, die sich in Erinnerungen an ihre eigene Schulzeit verloren hat und darauf besteht, dass es noch ein zweites Vertrauensschülerbadezimmer gibt, das viel schöner ist als das, das alle kennen. Den kruden Wegbeschreibungen der alten Dame kann Narzissa längst schon nicht mehr folgen, doch es hat sie besser getroffen als Andromeda, die von ihrem Großvater Pollux in die Mangel genommen wird, der beharrlich danach fragt, was sie denn nach ihrem Abschluss machen will und ob es da nicht einen Jungen gibt, denn sie gucke so, als gäbe es einen.

Die Eltern von Rabastan und Rodolphus werden jedem Einzelnen vorgestellt, obwohl man sich kennt. Bella und Rodolphus scheinen wie zwei Magnete nicht in der Lage zu sein, Abstand voneinander zu gewinnen und auch, wenn Rodolphus es nicht einmal wagt, ihre Hand zu halten, ist es doch sehr offensichtlich, dass die Beiden zusammengehören. Sie will Bella fragen, wie das passieren konnte. Sie will begreifen, warum jemand förmlich ans andere Ende der Welt läuft, nur um Hand in Hand mit Rodolphus Lestrange zurückzukehren.

Rabastan hält sich bei seinen Eltern auf, begrüßt Andromeda und nimmt scheinbar hin, dass sie ihn übersehen will. Als sie einmal hoch in ihr Zimmer geht, um nach einem kaputten Paar Ohrringe zu suchen, von dem Melania behauptet, dass sie es mit einem „Zwinkern und einem Pusten“ reparieren könne, da folgt er ihr wie ein Schatten.

„Darf ich mich entschuldigen? Oder sprichst du nie wieder ein Wort mit mir?“ Er ist am Fuß der Treppe hoch in den ersten Stock stehen geblieben und sie dreht sich erst um, als sie auf der obersten Stufe angelangt ist. Mit großen Augen sieht er zu ihr hinauf. „Es tut mir leid. Ich habe… ich habe mich scheußlich verhalten.“ Selbsterkenntnisse scheinen eine besondere Spezialität der Familie Lestrange zu sein.

„Warum hast du mich überhaupt eingeladen? Es war nicht nötig.“

„Es gibt zwei Antworten auf die Frage. Eine ist gelogen, die andere ist wahr.“ Erwartungsvoll sieht sie zu ihm herunter. „Ich hab angenommen, dass Malfoy dich fragen würde, weil er ziemlich offensichtlich was für dich übrig hat. Ich wollte ihn ärgern.“

„Und das ist die Wahrheit?“

„Das ist die Lüge. Aber es klingt wie etwas, das man glauben kann, oder? Das kann man mir schon zutrauen, meinst du nicht? Ich bin mir wenigstens sicher, dass Malfoy das für die reine und pure Wahrheit hält.“ Rabastan erlaubt sich ein kleines, gemeines Grinsen und sie kann seinen Namen wohl auf die Liste der Leute setzen, die Lucius Malfoy nicht unbedingt ins Herz geschlossen haben. „Eigentlich wollte ich einfach nur mit einem tollen Mädchen dahin gehen, damit Slughorn es sieht, alle es wissen und mein Bruder und meine Eltern davon hören. Ich wollte mit dir dahin gehen, damit alle denken, ich wäre in dich verliebt. Ich wäre gerne in dich verliebt, aber ich bin es nicht. Das hätte ich vielleicht direkt sagen sollen.“

„Warum hast du niemanden gefragt, den du tatsächlich magst? Oder einfach jemanden, mit dem du befreundet bist? Warum nicht Andromeda? Warum mich?“ Das ist die eine oder andere Frage zu viel und eigentlich muss sie das gar nicht interessieren, aber sie kann förmlich fühlen, dass mehr dahintersteckt.

„Du bist ziemlich perfekt. Gerade weil wir eigentlich nicht befreundet sind. Andromeda zu fragen, würde sehr viele Erklärungen und Versicherungen erfordern, aber dir schulde ich keine Rechtfertigung. Oder ich hätte dir keine geschuldet, wenn ich mir nicht die Kante gegeben hätte und dich wegen Malfoy so angegangen wäre. Also bitte entschuldige das. Ich wollte mich vorbildlich verhalten, aber ich hab es nicht geschafft. Mein Scheitern und meine Scham ist dein.“ Seine Verbeugung ist theatralisch, aber offensichtlich ernst gemeint.

„Und jetzt? Was soll das jetzt? Ich habe deine Entschuldigung nicht verstanden, aber ich nehme sie an, wenn dir das wichtig ist.“

„Danke. Also sprichst du wieder mit mir?“ Sie zuckt mit den Schultern. Miteinander reden ist nicht wirklich der Status Quo zwischen ihnen, aber sie ist unsicher, ob sie ihm das vermitteln kann. Er scheint in seinem ganz eigenen Gedankenkonstrukt festzustecken. „Meine Freundin willst du nicht zufällig sein, oder?“

„Du bist ja wohl verrückt geworden.“ Er lacht auf und überrascht sie damit, dass das Lachen irgendwie todunglücklich klingt. Er hustet, nein, er schluchzt und irgendwie ist das ein furchtbarer Klang, sie kann es gar nicht beschreiben. „Was ist los mit dir?“ Auf einmal hat sie Mitleid mit ihm. Einfach nur, weil er dieses grässliche Geräusch von sich gegeben hat. „Was ist dein Problem?“

„Ich bin das Problem. Ich bin 18 Jahre alt und ich habe noch nie ein Mädchen geküsst. Ich komme nicht mit Mädchen klar und ich kann es nicht erklären. Meine Eltern verstehen es nicht, mein Bruder versteht es nicht, ich verstehe es ja selbst nicht. Ich hätte gerne eine Freundin… ich würde auch gerne irgendwann heiraten, damit ich das nie irgendwem erklären muss. Aber welchem Mädchen, welcher Frau, kann man das schon antun?“ Ihr. Ganz offensichtlich hatte er kurz erwogen, ihr das anzutun. Weil sie einander so wenig kannten? Weil sie ihm so wenig wichtig war? Oder weil er sie auch für einen hoffnungslosen Fall hielt?

„Irgendwann lernst du die Richtige kennen. Nach Hogwarts. Die Welt ist doch groß.“ Sind das die Formeln, mit denen sie sich selbst beschwört? Glaubt sie das wirklich? Oder sagt sie das nur, weil sie das irrationale Bedürfnis hat, nett zu ihm zu sein?

„Du kapierst es auch nicht. Die Richtige gibt es für mich nicht.“

„Oh.“ Dieser Laut, diese eine Silbe von ihr, scheint ihm körperliche Schmerzen zu bereiten.

„Ich dachte, du verstehst das vielleicht.“ Er weiß, was er ihr da unterstellt. Er weiß, dass das keine Kleinigkeit ist, sondern eine große Sache. Das ist eine ganz andere Größenordnung als eine schlichte Entschuldigung. Sie spürt, wie ihre Wangen heiß werden und sie wünschte, sie hätte sich geschminkt, dann würde das Puder ihre Verlegenheit kaschieren. „Das klingt jetzt schräg, aber ich hab dich beobachtet und du bist immer so kühl, wenn dich irgendeiner anspricht… und viel netter zu den Mädchen. Aber ich kenne dich nicht, ich hätte mir nicht einbilden sollen, dich zu kennen und ich hab… ich hab unterschätzt, dass Malfoy vielleicht doch eine Chance hat. Oder hast du mit ihm getanzt, weil du etwas demonstrieren wolltest?“

„Er hat mich gefragt, ob ich mit ihm tanze und ich wollte. Ich habe mich gelangweilt. Und ich verstehe, was dein Problem ist und warum du mich gefragt hast…“ Und warum er so viel getrunken hatte. „… aber nur, weil du es mir erklärt hast und ich ein gewisses Einfühlungsvermögen besitze. Nicht, weil ich dein Problem teile.“ Rabastan nickt und sie würde gerne gehen. Jetzt ist alles gesagt, was gesagt werden musste. Vielleicht ist sogar zu viel gesagt worden.

„Also wird es am Ende doch Malfoy?“

„Nein. Aber selbst wenn, was ginge es dich an? Nichts. Nichts ginge es dich an. Aber wenn du willst, kannst du mir ja auch noch erläutern, warum du ihn nicht leiden kannst.“ Das sollte schließlich jeder einmal in aller Ausführlichkeit gesagt haben.

„Ach, eigentlich hab ich gar nichts gegen ihn. Ich halte ihn für einen Aufschneider, aber eigentlich ist der mir ziemlich egal. Wieso? Hat meine Meinung über ihn etwa Gewicht?“

„Ich war bloß neugierig.“ Aus dem Wohnzimmer hört man das schrille Lachen ihrer Großmutter Melania und sie denkt an den kaputten Schmuck, den sie holen wollte. Sie braucht schon zu lange für den kurzen Gang. Hat man bemerkt, dass Rabastan ebenfalls abwesend ist? Hat jemand gesehen, wie er ihr nachgeht? War das seine Absicht? Sein nächster, hinterlistiger Plan? „Ich werde dein Geheimnis für mich behalten.“

„Danke.“

„Aber ich will da nicht mitspielen. Ich will, dass du deinem Bruder klarmachst, dass du kein Interesse an mir hast und ich keins an dir. Ich habe keine Lust auf Gerüchte. Oder Lügen.“ Er seufzt und sie hält es für einen Laut des Bedauerns. Und er bedauert auch. Er bedauert sie und ihr erbärmliches Vorstellungsvermögen.

„Und du meinst nicht, dass so ein bisschen Lügen, so ein bisschen Theater dir auch nützlich sein könnte? Vielleicht ist das ein Anreiz, den Malfoy braucht?“

„Ich möchte Lucius nicht reizen.“

„Vielleicht schreckt es ihn auch ab und du hast deine Ruhe?“ Sie reagiert nicht. Die Vorstellung, dass Lucius und sie nie wieder miteinander sprechen könnten, weil Rabastan Lestrange sie für sich beansprucht, ist einfach schrecklich. Auf so vielen Ebenen. „Ach so. Du willst ihn also auch nicht abschrecken. Ich verstehe.“

„Diese Unterhaltung ist beendet. Deine Entschuldigung ist angenommen.“ So hoheitsvoll wie nur irgendmöglich dreht sie sich um und geht zu ihrem Zimmer, um endlich die verdammten Ohrringe zu holen, deren Reparatur das Ganze nun ganz bestimmt nicht wert gewesen ist.

Chapter 6: Goldene Schnitte

Notes:

Ich glaube, das hier ist eines der wenigen - wenn nicht sogar das einzige - Kapitel, in denen der Name Lucius Malfoy nicht fällt. Genießt es! <3

Chapter Text

6 – Goldene Schnitte



Beim Abendessen war die wenig überraschende Verkündung der Verlobung von Bella und Rodolphus getätigt worden. Der Rest des Weihnachtsfestes wurde von dieser Nachricht überschattet. Rabastan versuchte nicht noch einmal, mit ihr zu sprechen, doch er verabschiedete sich mit einem überzogenen Wangenkuss von ihr, den sie nur tolerierte, weil es nicht danach aussah, als ob sie ihm in den Ferien ein zweites Mal begegnen müsste.

Bis zum Neujahrstag wollte Bella im Lande bleiben und zunächst hatte Narzissa sich ausgemalt, wie Bellas Anwesenheit dazu beitragen würde, dass sich alles normalisierte, doch das Gegenteil war der Fall. Die gemeinsamen Mahlzeiten mit ihren Eltern und ihren Schwestern waren dermaßen steif und unangenehm, dass sie mehrmals behauptete, Bauchschmerzen zu haben und sich heimlich etwas von Wretcha in ihr Zimmer bringen ließ. Sie war beinahe unanständig erleichtert, als ihre Tante Walburga am letzten Tag des Jahres mit Sirius und Regulus vor der Tür stand, um sie abzuholen. Madam Malkin wusste, dass sie kamen und hatte nach dem offiziellen Ladenschluss noch Zeit für sie eingeräumt.

Offenbar hatten sich die Gemüter im Grimmauldplatz ein wenig beruhigt. Walburga schien außergewöhnlich gut gelaunt zu sein, sie lachte sogar zweimal über eine Bemerkung von Sirius, der sämtliche Passanten kommentierte und sich dabei ganz lässig gab. Regulus und sie selbst waren ein gutes Publikum und ihr wurde fast schwindelig vor Erleichterung darüber, dass doch alles gut war. Obwohl Sirius ein Gryffindor war.

Erst als Madam Malkin sich freundlich danach erkundigte, ob Sirius gut in Hogwarts angekommen sei, wurde es ein wenig unangenehm, als ihr Cousin zähneknirschend erzählte, dass er ein Gryffindor war, die Schlossgespenster und den Verwandlungsunterricht sehr mochte. Glücklicherweise war Madam Malkin nicht schwer von Begriff und verstand sich darauf, das Thema zu wechseln.

Während sie Walburga vermaß, die für den Frühling einen neuen Mantel wollte, erzählte sie im Plauderton, welche Farben im kommenden Jahr gefragt wären und ermunterte Narzissa dazu, sich in der Boutique umzusehen. Regulus blieb bei seiner Mutter, doch Sirius folgte ihr wie ein Schatten, als sie zu den Röcken und Blusen herüberging.

„Grün steht dir nicht.“ Prompt ließ sie den hellgrünen, seidenen Stoff los, der sich zwischen ihren Fingern unangenehm dünn angefühlt hatte.

„Was verstehst du schon von Mode?“

Sie wollte schnippisch und souverän klingen, doch sie musste einräumen, dass man Sirius bereits mit zwölf Jahren ansehen konnte, dass er eines Tages ein sehr hübscher Mann sein würde. Für einen Erstklässler sah er fast ein bisschen zu alt aus. Er achtete auf sich. Im Gegensatz zu Regulus, der ein wenig jünger wirkte als er war und immer noch gerne bunte Hosenträger und komische Rollkragenpullover trug. Es war nicht leicht, Sirius' triumphierendes Grinsen zu ignorieren.

„Schön. Also, Grün steht mir also nicht. Und was steht mir dann, Sirius?“ Sie machte eine ausladende Handbewegung und zu ihrem Erstaunen griff er ganz selbstbewusst zu einem dunkelblauen Rock aus Cord, den sie übersehen hatte. Und der ihr tatsächlich gefiel. „Der ist zu kurz.“

„Wieso zu kurz? Du kannst eine Strumpfhose anziehen. Und du bist doch keine alte Frau.“ Er betrachtet ihre Beine mit Kennermiene. „Du hast schöne Knie.“ Sie kann nicht verhindern, dass ihre Wangen heiß werden. Es ist ihr zwölfjähriger Cousin, der das sagt, aber trotzdem kann sie mit so einer Bemerkung nicht umgehen. Hastig nimmt sie ihm den Bügel mit dem Rock aus der Hand.

„Schon gut, ich werde ihn anprobieren. Noch mehr Vorschläge? Vielleicht auch etwas, das deine Mutter mich kaufen lässt?“

„Sie wird dir alles kaufen, was du willst. Du bist fast erwachsen. Und Rabastan soll ja nicht das Interesse an dir verlieren, nur weil du dich wie ein Großmütterchen anziehst.“ Nun kann sie nicht länger an sich halten und verpasst Sirius eine Ohrfeige, über die er nur lachen kann, weil er ihr rechtzeitig ausgewichen ist. Gerade einmal ihre Fingerspitzen haben sein Kinn gestreift.

„Ich ziehe mich nicht wie ein Großmütterchen an! Und es reicht ja wohl, wenn eine von uns einen Lestrange heiratet.“ Eine von uns. Sie weiß nicht, warum sie das so gesagt hat, wo doch Andromeda und Bella gar nicht da sind. Sie weiß nicht, seit wann Sirius zu ihrem „wir“ gehört, doch irgendwie tut er das wohl. Wir Kinder der Familie Black. Wir Hoffnungsträger.

„Also meiner bescheidenen Meinung nach reicht das auch voll und ganz… ich wollte ja nur sagen, dass du dir nicht immer so viele Gedanken machen musst. Sei einfach mal ein bisschen lässig.“ Wie von Zauberhand hat Sirius einen zweiten, noch kürzeren Rock gefunden, der die Farbe von Sonnenblumen hat und sich unter Garantie ganz grässlich mit ihren Haaren beißen wird. Stumm schüttelt sie den Kopf und er präsentiert ihr ein identisches Modell in Dunkelrot. „Darin würdest du wirklich heiß aussehen.“

„Wie redest du denn?! Ich bin deine Cousine!“ Wenn sie so schimpft, dann klingt sie wie ihre Mutter. Sirius grinst und drückt ihr den Kleiderbügel in die Hand.  „Wie wäre es, wenn jeder für sich selbst nach Kleidung schaut? Du am einen Ende des Ladens, ich am anderen Ende?“

„Bin ich dir etwa lästig, Zissy?“

„Nenn mich nicht so.“

„Bella nennt dich so. Andromeda nennt dich so. Wieso soll ich dich nicht so nennen?“

„Du bist mir lästig, Sirius Orion.“ Unwillkürlich gibt er ein Würgegeräusch von sich und sie ist zufrieden. Wenn er ihren Vornamen verkürzt, dann verlängert sie seinen. So leicht ist das. So schnell kann es gehen.

* * *



Ihre Eltern sind dank der Stellung ihres Vaters auf den alljährlichen Silvesterball im Zaubereiministerium eingeladen und eigentlich müsste sich Narzissa darüber freuen, einen ruhigen Abend mit ihren Schwestern verbringen zu können, aber sie ist nicht froh. Ganz und gar nicht. Man kann Bella ansehen, dass sie es mehr schlecht als recht genießt, Zeit mit Andromeda und ihr zu verbringen und nachdem Narzissa ihre neuen, textilen Errungenschaften präsentiert hat, stellt sich eine Langeweile ein, die niemand von ihnen leugnen kann.

Im vergangenen Jahr hätte Bella vorgeschlagen, Cocktails zu mixen, eine Modenschau mit den alten, eingemotteten Kleidern auf dem Dachboden zu veranstalten, Wretcha eine Tanznummer aufführen zu lassen oder irgendwie raus zu gehen, doch sie scheint keinerlei Ambitionen zu haben, diesen Abend weniger ermüdend ausgehen zu lassen als er begonnen hat. Andromeda ist sowieso nicht dafür bekannt, am liebsten so laut und grell wie möglich zu sein und so findet sie sich in der ungewohnten Position wieder, diejenige zu sein, die unbedingt etwas unternehmen will.

„Wir könnten ausgehen. Das Feuerwerk über der Themse ansehen. Uns ein bisschen unter die Leute mischen. Oder wenigstens tanzen gehen.“ Solche Vorschläge kamen sonst aus Bellas Ecke, doch die schüttelte nur lustlos den Kopf. „Was ist los mit dir? Kannst du uns auf einmal nicht ertragen? Sind wir dir so langweilig geworden?“ Bella seufzt, aber sie beeilt sich nicht sonderlich, einen Widerspruch einzulegen.

„Das hat doch nichts mit euch zu tun. Mir geht im Moment einfach alles auf die Nerven. Unsere Eltern… sie sind so scheinheilig. Sie gehen zu diesen albernen Ministeriumsveranstaltungen und tun so, als wäre es eine Ehre, dabei ist das Zaubereiministerium bis oben hin voll mit Scheiße.“ So spricht keine Dame, aber wenn sie zusammen sind, dann geht es sowieso meistens nicht besonders damenhaft zu und sie könnte jubeln, weil Bella flucht. Weil das endlich ein bisschen ehrlich ist. „Wir hatten gottverdammte sechs Jahre einen Muggelstämmigen als Minister und jetzt repräsentiert uns eine bleiche, nichtssagende Hexe, während die Muggel so tun, als würde ihnen die ganze Welt gehören. Widert euch das nicht an? Findet ihr die Vorstellung nicht ekelhaft, dass wir rausgehen und ein billiges, falsches Feuerwerk sehen, obwohl wir ein hundertmal besseres zustande bringen könnten, aber es nicht dürfen, nur weil es rein zufällig mehr Muggel auf der Welt gibt? Und weil irgendein Dummkopf mal entschieden hat, dass Muggel uns gefährlich werden können?“

Schweigend starren Andromeda und sie erst Bella und schließlich einander und dann wieder Bella an. Ihre Augen leuchten, ihre Hände machen große Gesten und zum ersten Mal seit Tagen, seit Monaten, scheint sie richtig wach zu sein. Und aufrichtig enttäuscht.

„Ich wusste es, ihr kapiert es nicht. Ihr kapiert es auch nicht. Das ist Hogwarts. In Hogwarts ist immer alles so schön, so beständig… aber es ist nicht echt. Es ist nicht die echte Welt. In der echten Welt lobt dich niemand, weil du eine Undinenwurzel von einer einfachen Wasserknolle unterscheiden kannst. Nicht einmal die Hälfte von dem, was Flitwick uns beibringt, kann man gebrauchen.“ Das sind nicht Bellas Worte. Das klingt alles ganz und gar nicht nach ihrer großen Schwester, die jede noch so kleine Lektion von Flitwick eifrig gelernt und an sie weitergegeben hat.

„Was ist passiert? War jemand gemein zu dir… in Moskau? Lästern sie dort über Hogwarts?“  Andromeda presst die Lippen aufeinander, sodass sie so blutleer wie der Rest ihres Gesichts sind.

„Nein, niemand lästert. Es ist einfach ziemlich offensichtlich, dass Hogwarts nur eine Blase ist. Eine von deinen schrottreife Schneekugel, wenn du ein besseres Bild brauchst.“ Das wiederum ist typisch Bella. Das Herziehen über ihre Sammlung von Schneekugeln, die ihre besten Zeiten hinter sich haben. Die trüben Schneeflocken und das zersprungene, mit klebenden Zaubern geflickte Glas. Dafür hatte Bella noch nie Verständnis, das fand sie noch nie schön und das ist in Ordnung, denn sie müssen nicht immer einer Meinung sein. Aber Hogwarts, Hogwarts kann man doch nicht plötzlich hassen. „Irgendwann kapierst du es. Und du vielleicht auch, aber hör mal auf mich so anzustarren, ja, wir sind hier nicht im Zoo.“ Andromeda schlägt die Augen nieder.

„Sei nicht so hart, Bella.“ Es fühlt sich falsch an, sich zwischen die Beiden zu stellen, aber Andromeda sieht so betroffen aus, das kann sie kaum ertragen. So sollte dieser Abend nicht sein. „Du bist gemein.“

„Ich bin nicht gemein, ich bin bloß ehrlich. Das ist ein Unterschied.“

„Ich gehe ins Bett.“ Abrupt ist Andromeda aufgestanden und fixiert Bella. „Du hast ja wohl nichts dagegen, wenn ich den Silvesterabend nicht mit Rodolphus Lestranges Marionette, sondern mit meinem Kopfkissen verbringen möchte.“

Erhobenen Hauptes verlässt Andromeda das Wohnzimmer. Als sie noch nicht ganz über die Türschwelle ist, jagt Bella ihr einen gemurmelten Fluch hinterher, den Narzissa nicht ganz entziffern kann, und den Bellas Zielobjekt mit einer blitzschnellen Handbewegung abfängt und zurückschleudert. Bella duckt sich und der Zauber schlägt an der Wand hinter ihr ein. Die Tapete reißt mit einem Krachen ein und das Bild, eine Landschaftsmalerei aus dem 18. Jahrhundert, geht zu Boden. Die Tür hat Andromeda lautlos hinter sich geschlossen.

Mit einem leisen, widerwillig beeindruckten Schnauben sieht Bella sich in dem Wohnzimmer um und betrachtet die Scherben, die Andromeda und sie zustande gebracht haben. „Eins muss ich ihr lassen, sie hat eine wirklich gute Reaktionszeit.“ Sorgsam repariert sie das Bild, das innerhalb weniger Sekunden wieder an seinem alten Platz hängt. Nur wenn man sehr genau hinsieht, merkt man, dass es ein bisschen zu gerade gerückt ist.

„Warum können wir nicht einfach einen schönen Abend miteinander verbringen? Wir haben uns ewig nicht gesehen und dir fällt nichts Besseres ein, als Streit anzufangen.“

„Weißt du, Zissy, es ist schon so manch ein Mensch an Konfliktscheuheit gestorben.“

„So konfliktscheu bin ich gar nicht.“ Kann sie Rabastan nun als Beispiel anführen oder reitet sie sich damit nur tiefer in diese unglückliche Situation? Scheinbar muss sie gar nichts sagen, denn Bella kann ihren zögerlichen, zaudernden Gedanken greifen. Sie wickelt eine von Narzissas Haarsträhnen um ihren Finger. „Meine süße, kleine Schwester. Rodolphus behauptet, du wärst eine unentdeckte Herzensbrecherin.“

„Dein Rodolphus neigt zu Übertreibungen.“ Bellas Mundwinkel zucken und sie lässt die schwere, fahlblonde Strähne fallen. Von einem altbekannten Neid gepackt, stellt sie sich vor, wie es wäre, sich die Haare in dem schönen, glänzenden Schwarz zu färben, in dem Bellas und Andromedas Locken wachsen.

„Ich weiß.“

„Ich verstehe nicht, warum du ihn gleich heiraten musst. Du kennst ihn doch gerade mal ein paar Wochen. Und du bist nicht einmal 20. Ich bin mir sicher, nicht einmal Mutter würde dich drängen, ihn schon im nächsten Sommer zum Mann zu nehmen.“ Am liebsten würde sie die Frage zurücknehmen und sich die Zunge abbeißen. Das geht sie nichts an. Es ist Bellas Leben. Bellas Entscheidung.

„Rodolphus hat mir einen Antrag gemacht und ich möchte ihn annehmen. Ich hätte mich auch gefreut, wenn er mich erst im nächsten oder übernächsten Jahr gefragt hätte, aber es ist doch schmeichelhaft, dass er sich so sicher ist. Außerdem bedeutet es, dass Vater im Falle des Falles keine Entscheidungsmacht über mich hat, sondern Rodolphus. Und das ist mir wesentlich lieber, denn wenn Vater etwas entscheiden muss, dann entscheidet eigentlich unsere Mutter.“ Man merkt deutlich, dass Bella ihre Worte mit Bedacht wählt, doch das ändert nichts daran, dass es keinen richtigen, erfassbaren Sinn dahinter gibt.

„Von was für einem Fall sprichst du? Du bist nicht krank, oder? Es gibt keinen Grund, warum man an deiner Mündigkeit zweifeln sollte oder irgendjemand für dich entscheiden sollte, oder? Oder?“

„Nein, ich bin natürlich nicht krank. Jetzt guck doch nicht so panisch, Zissy, es ist alles in Ordnung. Ich möchte nur ein wenig unabhängiger sein und mit Rodolphus bin ich das. Ich bin frei von unserem Namen und all den Verpflichtungen, die daran hängen. Ich bin meine eigene Person.“ Beinahe sanft streicht Bella ihr über die Wange und zieht sie in eine feste Umarmung. „Warum musst du eigentlich immer so dramatisch sein? Woher hast du das? Du heulst ja fast.“

„Ich heule nicht!“ Aber fast. Weil Bella ihr direkt gegenüberstand und es sich trotzdem nicht so anfühlte, als würden sie wirklich am selben Ort sein.

* * *



Auf der Rückfahrt nach Hogwarts verschwindet Andromeda innerhalb einer halben Stunde spurlos. Nach Bellas und Rodolphus' Abreise in Richtung der Moskauer Akademie hat sich die Stimmung ihrer Schwester merklich gebessert, doch die Anspannung ist geblieben. Auch in der zweiten Hälfte der Weihnachtsferien hat Narzissa deshalb sehr viel Zeit in ihrem Zimmer verbracht, häufig nur in ihrer eigenen Gegenwart gegessen und viel zu oft darüber nachgedacht, ob sie denn überhaupt ihre eigene Person war. Oder ob Bella vielleicht doch nicht übergeschnappt war, sondern einfach nur ein bisschen klüger als sie selbst. Vielleicht wusste Andromeda es auch längst, vielleicht sahen alle außer ihr die Gitterstäbe vor den Fenstern, die unsichtbaren Linien, die man nicht überschreiten durfte, vielleicht waren sie deshalb so sauer.

Allein in ihrem Abteil fühlt sie sich irgendwie unsichtbar. Sie würde sich sogar darüber freuen, wenn Rabastan auftauchen und irgendetwas sagen würde. Einfach, weil dann jemand mit ihr sprechen würde. Aber niemand bleibt bei ihr stehen oder öffnet die Tür zu ihrem Abteil. Erst als sie ihren Koffer, in dem die neuen Kleider frisch gewaschenen und ordentlich gefaltet liegen, zurücklässt und zu den Kutschen geht, hört sie auf einmal, wie jemand ihren Namen ruft. Sie staunt, als sie Samara Greengrass erkennt, die sie freundlich anlächelt.

Mit großen Handbewegungen winkt sie Narzissa zu sich und als sie bemerkt, dass Samara nicht alleine ist, sondern vor einer Kutsche steht, in der Viktor Nott und Rabastan Lestrange sitzen, da würde sie am liebsten wieder umdrehen, doch sie kann ja schlecht so tun, als hätte sie ihre Zimmergenossin übersehen.

Sie zuckt zusammen, als Samara ihr einen überschwänglichen Kuss auf den Mund drückt, ihr ein frohes neues Jahr wünscht, wendig in die Kutsche klettert und Narzissa ihre Hand reicht, um ihr beim Einstieg zu helfen.

„Danke.“ Samara strahlt sie an und klopft auf den freien Platz neben sich. Dankbar setzt sie sich, denn so bleibt ihr die unmittelbare Nähe von Rabastan dann doch erspart. Ihr gegenüber sitzt Viktor Nott, der gewohnt mürrisch aussieht, aber eine Schneeflocke im Haar hat und deswegen ironischerweise weniger eisig wirkt. Ganz hemmungslos fragt Samara sie über ihre Ferien aus und Narzissa antwortet ausführlich, obschon sie in den letzten fünfeinhalb Jahren beide nicht besonders viel Interesse am Leben der jeweils anderen gezeigt haben. Sie verschweigt den Besuch der Lestranges und Rabastan fährt ihr nicht in die Parade, sondern mimt den stillen, höflichen Zuschauer. Sie sind beinahe beim Schloss angekommen, da erkundigt Viktor sich sogar aufrichtig interessiert danach, was eigentlich aus ihrer Schwester geworden ist, was Bella jetzt macht und sie schließt daraus, dass Rabastan und Viktor eher aus Zufall nebeneinander sitzen und nicht miteinander sprechen und wenn sie miteinander sprechen, dann scheinbar doch nicht über potenzielle Verlobungen ihrer Geschwister.

Später beim Abendessen sitzt sie schon wieder neben Samara und ihnen gehen die oberflächlichen Gesprächsthemen langsam aus. Noch immer weiß sie nicht so richtig, wie sie diese soziale Offensive ihrer Zimmergenossin finden soll. Müde erzählt sie von ihrem Besuch bei Madam Malkin und lässt sich von Samara darum beneiden, dass die Schneiderin ihre Türen auch außerhalb der normalen Öffnungszeiten für die Familie Black öffnet.

Chapter 7: Gestecke

Chapter Text

7 – Gestecke



Als Narzissa am Morgen des 14. Februars die Augen öffnet und die Vorhänge ihres Bettes zur Seite schiebt, fällt ihr Blick als erstes auf einen Blumentopf, der am Abend noch nicht auf ihrem Nachttisch stand. Samara, die gegenüber auf ihrem Bett sitzt und ihre halbnassen Haare kämmt, lacht über Narzissas verdutzten Gesichtsausdruck.

„Es gibt keine Karte. Wir haben schon geguckt.“ Es war immer noch ungewohnt zu hören, wie ihre Zimmergenossinnen voneinander als einer Einheit sprachen, doch sie fand es irgendwie rührend und sogar schön, dass zumindest Diana und Samara irgendwie daran interessiert zu sein schienen, mit ihr befreundet zu sein. Einzig und allein Elaine verspürt offenbar nicht den Drang, Teil dieser neuen Dynamiken zu werden und darum tut es Narzissa ehrlich gesagt wenig Leid. Ihrer bescheidenen Ansicht nach ist Elaine nämlich immer noch ausgesprochen langweilig, während es sie allmählich sogar reizt, mehr von Samara und Diana zu erfahren.

„Das sind Hyazinthen, oder?“ Die halb erblühten Stauden haben die Farbe von Veilchen. Sie dreht den Topf. Es gibt tatsächlich keinen Zettel, aber im Grunde genommen braucht es das auch gar nicht. Sie ist sich so oder so ziemlich sicher, dass das hier das neue Zeichen von Lucius Malfoy ist, auf das sie insgeheim seit dem ersten Schultag nach den Weihnachtsferien gewartet hat.

„Ist doch egal, was es ist, du hast definitiv einen Verehrer.“ Samaras Zähne kommen ihr größer und weißer vor als die eines durchschnittlichen, menschlichen Wesens. Besonders in den Momenten, in denen sie von einem Ohr bis zum anderen grinst. Vor knapp einer Woche hat Samara ihr anvertraut, dass Viktor sie gleich nach ihrem 17. Geburtstag heiraten will, aber dass vorher niemand etwas davon erfahren darf, weil Viktors Vater nach Höherem strebt und sich für seinen Sohn mehr wünscht als eine einfache, reinblütige Greengrass.

Vielleicht wäre es sogar eine gute Idee, mit Samara über Lucius zu sprechen. Oder zumindest über die Möglichkeit, dass Lucius ihr Hyazinthen geschickt haben könnte. Doch was, wenn es sich bei den Blumen um ein lieb gemeintes Geschenk ihrer Schwester handelt? Oder ein Präsent von Rabastan, der in den letzten Wochen angenehm unauffällig und distanziert gewesen ist und dem sie gerade deswegen nicht so recht über den Weg traut.

„Von wem auch immer sie kommen, hübsch sind sie.“ Samara nickt und lächelt bekräftigend, doch sie wirkt auch ein wenig enttäuscht darüber, dass Narzissa sich nicht zu einer Spekulation hat hinreißen lassen.

Auf dem Weg ins Badezimmer schwört sie sich, Samara am Abend zu erzählen, von dem die Blumen kommen – falls sie es denn herausfinden sollte.

* * *



Ihre detektivischen Fähigkeiten werden nicht allzu sehr herausgefordert. Beim Frühstück sucht sie den Blickkontakt zu Lucius. Er sitzt drei Plätze weiter neben einer Drittklässlerin, die so guckt, als müsst sie dringend zur Toilette und gegenüber von Priscilla, die sich mit ihm zu unterhalten scheint. Er bemerkt bald, dass sie ihn ansieht und hebt fragend die Augenbrauen. Sie nickt und lächelt, weil sie sich einbildet, dass in diesem kleinen, mimischen Kunststück eine Frage liegt. Haben dir die Blumen gefallen?

Wie in jedem Jahr steht es den Schülern am Valentinstag frei, nach Hogsmeade zu gehen oder für sich allein zu studieren und sie beobachtet, wie sich Paare oder Freundesgruppen zusammenfinden und die Große Halle verlassen, während sie an ihrem Tee nippt. Sie ist satt, sie könnte zurück in ihren Schlafsaal gehen oder in die Bibliothek. Doch sie wartet. Auf das Verschwinden von Priscilla. Auf den zweiten Schritt. Wenn ihr jemand nur Blumen geschickt hat, um sie im Ungewissen zu lassen und in den Wahnsinn zu treiben, dann wird sie den Hauselfen sagen, dass sie zu keinerlei Feiertagen mehr Geschenke annimmt, die nicht von ihrer Familie kommen. Diese Nervosität, diese Verunsicherung braucht sie nicht auf einer regelmäßigen Basis. Sie verabscheut sich selbst ein wenig dafür, wie schnell ihr Herz schlägt, als Lucius sich auf den Platz ihr gegenüber setzt.

„Guten Morgen.“ Ihre Hände zittern. Damit er es nicht sieht, umfasst sie ihre Tasse ganz fest und sieht ihm in die Augen, damit er ebenfalls nur auf ihre Augen achtet und nicht auf ihren hektischen Extremitäten. „Und frohen Valentinstag.“

„Danke. Ich hoffe, ich habe mit den Blumen ins Schwarze getroffen?“

„Sie haben eine sehr schöne Farbe. Aber warum ausgerechnet Hyazinthen? Hat das etwas zu sagen?“ Es gibt sicherlich ein ganzes Buch darüber, welche Blume in welcher Farbe zu welcher Jahreszeit was zu bedeuten hat, doch sie besitzt ein solches Buch nicht und sie kennt niemanden, der etwas davon versteht. Sie hält ihn eigentlich auch nicht für einen gekonnten Botaniker, aber womöglich täuscht sie sich da.

„Na ja, ich dachte mir, Rosen findest du sicher zu einfallslos, Narzissen wären auch ein wenig albern gewesen und dich nach deinen Lieblingsblumen zu fragen, hätte die Überraschung verdorben. Also habe ich geraten.“

Es gefiel ihr deutlich besser, wenn er etwas über sie zu erraten versuchte, als wenn er einfach etwas annahm. Sie hoffte, dass das Lächeln auf ihrem Gesicht nicht zu breit oder zu selbstgefällig, sondern recht anständig war.  

„Also meine Lieblingsblumen sind Hyazinthen nicht, aber es war ein sehr guter Versuch.“ Sie sollte mehr sagen, aber ihr Kopf war leer. Einige Sekunden sorgte sie sich, dass er aufstehen und gehen würde, doch er blieb sitzen und sie beobachteten in aller Stille, wie sich die Halle weiter leerte. „Ich will mehr über dich wissen.“

„Okay.“

„Oder bin ich nur eins von zehn Mädchen, deren Lieblingsblumen du heute zu erraten versucht hast?“ Er schüttelt den Kopf und sieht aufrichtig belustigt über diese Annahme aus. „Dann will ich mehr über dich wissen.“

„Jetzt und hier?“

„Oder wir gehen spazieren. Es regnet nicht.“ Woher diese Entschlossenheit auf einmal kommt, weiß sie nicht so genau, aber sie kann sich ja schlecht selbst belügen. Nach dem seltsamen, aber irgendwie doch sehr persönlichen Gespräch auf der Weihnachtsparty, nach dieser Begegnung hat sie irgendetwas von ihm erwartet. Und es hat sie enttäuscht, dass nichts passiert ist.

„Sehr gerne.“

Selbstverständlich ist sie nicht mit Jacke und Schal zum Frühstück gegangen und deswegen laufen sie vorerst zusammen zum Gemeinschaftsraum. Auf dem Weg zu ihrem Schlafsaal kreuzt sie den Weg von Viktor Nott, der ihr beabsichtigt den Vortritt lässt und immer noch vor der Tür steht, als sie mit offenem Mantel und hastig umgelegten Schal wieder aus dem Schlafsaal kommt. Samara hat auf ihrem Bett gelegen und ihr nicht in die Augen gesehen. Wo Diana und Elaine sind, weiß Narzissa mehr durch Zufall, weil sie Elaine dabei gesehen hat, wie sie mit einem Siebtklässler aus Ravenclaw das Schloss verlassen und Diana ihr erst gestern Abend erzählt hat, dass sie den freien Tag im Quidditchstadion verbringen wird, um in Ruhe zu fliegen. Während sie den Blick von Viktor Nott auf ihrem Hinterkopf spürt, wundert sie sich eigentlich nur darüber, dass Samara sie nicht explizit darum gebeten hat, den Tag außerhalb ihres Schlafsaals zu verbringen.

Neben Lucius durch das Schloss zu laufen, fühlt sich eigenartig vertraut an und trotzdem ist sie unheimlich nervös. Es hat ihr die Sprache verschlagen. Es kommt ihr alles so ungeheuer bedeutsam vor. Und das alles wegen einem Topf mit Blumen drin.

Als sie durch das Schlosstor treten und ihnen der kalte Februarwind entgegenschlägt, vergräbt er die Hände in den Taschen seiner Jacke. Sie hakt sich bei ihm ein und versteckt ihre eigenen Hände ebenfalls in ihren Manteltaschen. Ihre rechten Finger bekommen ein Papier zu fassen, das sie dort vergessen haben muss. Ein Bonbonpapier. Oder das Etikett eines neuen Kleidungsstücks.

„Also, was willst du wissen?“

„Warum hast du keine Freunde?“ Das war mehr eine Unterstellung als eine Frage und sie beeilte sich, die Härte ihrer Worte ein wenig zu mildern. „Man sieht dich nicht oft in Gesellschaft von Anderen, du scheinst meistens für dich alleine zu sein und ich frage mich, warum das so ist.“

„Ich verschwende meine Zeit nicht gerne. Und für mich ist es Zeitverschwendung, mit jemandem zu reden, den ich gar nicht leiden kann. Der Einzige in meinem Schlafsaal, mit dem ich was anfangen kann, ist Benedict Merryweather, aber besonders gesprächig ist er nicht. Außerdem verbringt er den lieben langen Tag in der Bibliothek. Wir spielen dort jeden Dienstagnachmittag Zauberschach. Benedict würde ich als einen Freund bezeichnen.“

Sie konnte behaupten, dass sie mit Benedict Merryweather in ihrem ganzen Leben noch kein einziges Wort gewechselt hatte. Dennoch war sie positiv überrascht, dass Lucius von dem unauffälligen, blassen Jungen mit den leicht abstehenden Ohren als Freund sprach. Das hatte sie nicht erwartet und das war gut so.

„Was sind deine Lieblingsblumen?“ Hatten Jungen überhaupt Lieblingsblumen? Hatte jeder Mensch eine Lieblingsblume oder war das nur dann ein Thema, wenn man eine Mutter hatte, die ab und an glaubte, einen grünen Daumen zu haben und ihr Kind nach einer Blumensorte benannte? „Hast du so was?“

„Nicht wirklich. Aber wenn ich entscheiden muss, würde ich sagen… Rosen. Rote Rosen.“

„Klassisch.“ Und nicht sehr aufschlussreich. „Was ist mit Tieren? Magst du Tiere? Hast du Haustiere? Oder ein Lieblingstier?“ Zu ihrer Verwunderung verfärbten sich seine Wangen rosa und sie witterte ein Geheimnis.

„Du darfst mich nicht auslachen, ja?“

„Versprochen. Ich werde nicht lachen.“

„Pfauen. Ich finde Pfauen faszinierend. Vögel generell. Mein Vater hat einen Kater, aber na ja… er ist keine richtige Hauskatze, sondern eher ein Mäusefänger. Er lässt sich auch nicht streicheln und ist trotzdem irgendwie ständig da, wo man über ihn fällt… darf ich dir eigentlich auch Gegenfragen stellen oder ist das gegen die Spielregeln?“ Er sprach schnell und sie war der festen Überzeugung, dass er nur so ausführlich von dem wenig geliebten Kater sprach, um sie die Pfauen vergessen zu lassen. Pfauen. Wer mochte schon Pfauen? Die konnte man wohl kaum streicheln.

„Das hier ist doch kein Spiel.“ Nimmt sie hier irgendwas zu ernst? Nimmt sie ihn und seine Komplimente und ein Gesteck zum Valentinstag zu ernst? Reflexartig macht sie sich von ihm los, doch als sie einen Schritt nach rechts machen will, nimmt er ihre Hand und sie stolpert in derselben Sekunde beinahe über eine Wurzel, die nicht in ihrem Weg gewesen wäre, wenn sie weiter so dicht neben ihm gegangen wäre.

Sie bleibt stehen und versucht sich klarzumachen, was hier eigentlich passiert. Was sie hier gerade tut. Es ist der 14. Februar und sie läuft mit Lucius Malfoy über die Ländereien. Die Wurzel, über die sie beinahe gestolpert wäre, gehört zu einem der tapferen Bäume, die noch im Umkreis der Peitschenden Weide stehen. Der Weidenbaum wurde im vergangenen September gepflanzt und hat seitdem für mehrere Krankenflügelaufenthalte übermutiger Schüler gesorgt.

„So hab ich das nicht gemeint. Es klingt so albern, aber ich freue mich, von dir ausgefragt zu werden. Für mich ist das kein Spiel, ich hoffe… ich mag dich und ich hoffe, dass du mich auch irgendwie magst. Ich hoffe, dass ich deshalb ausgefragt werde.“ Er hofft es. Er kann ihr also nicht ansehen, wie unkontrolliert und wirr ihre Gedanken sind. Er hat nicht gefühlt, wie schnell ihr Herz schlägt. Wie verrückt sie sich fühlt. Wie mutig.

„Ich kann leider nicht behaupten, dass ich meine Zeit nie an Leute verschwende, die ich eigentlich weder spannend, noch sympathisch finde.“ Es ist faszinierend, wie gut er seine Gesichtszüge unter Kontrolle hat. Es ist nicht nett, so etwas zu sagen. Eine vermeintliche Demütigung schwebt über ihm wie eine graue Wolke, die jederzeit einen Platzregen über ihm ausschütten könnte. Sie denkt an Wolken und begossene Pudel und fragt sich auf einmal, ob Pfauen eigentlich fliegen können – oder ob es auch Vögel gibt, die am Boden leben. „Was für ein Sternzeichen bist du?“

„Steinbock.“

„Oh, dann alles Gute nachträglich. Wann hattest du Geburtstag?“ Seine Hand zittert und irgendwie freut sie das. Es ist erfreulich, dass er nicht seinen gesamten Körper unter Kontrolle hat, sondern nur so gucken kann.

„Am 14. Januar.“

„Also genau vor einem Monat. Ich wünschte, ich hätte das gewusst.“ Sie konnte die Vorstellung nicht ertragen, mit jemandem zu sprechen oder neben jemandem zu sitzen, der Geburtstag hatte, ohne dass sie davon wusste. Das ging gegen ihre Idee von Höflichkeit. Und auch irgendwie gegen ihre Idee von einem Miteinander. Bella hatte ihr erklärt, dass Geburtstage in Hogwarts nicht großartig zelebriert wurden und dass es eine Illusion war, nie einen Geburtstag zu vergessen, doch ein wenig hing Narzissa der Idee immer noch nach.

„Jetzt weißt du es ja.“ Er lächelt ein bisschen und sieht wieder irgendwie verlegen aus. Die Verlegenheit macht etwas mit seinem Gesicht. Er wirkt so viel jünger, so viel nahbarer, so viel… weicher. „Ich würde ja nach deinem Geburtstag fragen, aber eigentlich weiß ich ihn seit Jahren, weil wir in der dritten Klasse am 10. November unsere erste, praktische Astronomiestunde hatten und Professor Hoopka hat gefragt, ob jemandem das Datum, die Sternenkonstellation, etwas bedeutet. Und da hat Andromeda sich gemeldet und erzählt, dass ihre kleine Schwester Geburtstag hat.“ Daran konnte sie sich auch erinnern. An dem Abend war sie nämlich alleine mit Bella gewesen und hatte geschmollt, weil Andromeda nicht bei ihrer kleinen Geburtstagsrunde dabei sein konnte, weil sie Unterricht hatte. Abends. Das war ihr wie eine Ungerechtigkeit des Universums vorgekommen.

„Und das hast du dir gemerkt?“

„Mein Gedächtnis erstaunt mich manchmal selbst.“  Er ist kein besonders guter Lügner und sie kann einfach nicht so tun, als würde sie das nicht bemerken. „Warum guckst du so?“ Ein ungestümes, unaufhaltsames Lachen klettert ihre Kehle hoch und sie ist sich sicher, dass es nur noch eine Frage von Sekunden ist, ehe sie einen hysterischen Anfall bekommt. „Okay, ich habe das Gefühl, ich habe gerade eine jahrelange Obsession preisgegeben und das ist nicht unbedingt das beste Gefühl auf der ganzen Welt. Aber du bist mir aufgefallen. Immer mal wieder. Bellatrix und Andromeda sind auf ihre Art beide sehr präsent in Slytherin und irgendwie… ich weiß nicht, als ich an deinem ersten Schultag deinen Namen gehört habe, da war ich irgendwie überrascht.“

„Weil die Beiden sich so ähnlich sehen und ich so anders aussehe?“ Er nickt und zuckt mit den Schultern. Es ist albern, aber sie weiß noch genau, wie sie an ihrem ersten Schultag auf dem Stuhl saß, den Sprechenden Hut auf dem Kopf getragen und dabei in die Unmengen von Gesichter gesehen hat, die alle ihr zugewandt waren. Das hohe, hohle Kichern des Hutes, der sich darüber wundert, wie bleich und weich ihre Haare sind, hallt immer noch in ihren Ohren. Und wenn ein Hut, ein verzaubertes Stück Herrenbekleidung, schon seine Erwartungen an sie gehabt hatte, wieso sollten dann die Personen, die ihre Schwestern kannten, keine Erwartungen haben? „Du ahnst gar nicht, wie oft ich schon darüber nachgedacht habe, mir die Haare zu färben. Ich würde sterben, wenn ich so perfekte Haare wie Bella hätte, aber sie kämmt sie manchmal nicht einmal, so egal ist ihr das… und jetzt habe ich das Gefühl, zu viel preisgegeben zu haben. Wirklich kein tolles Gefühl. Neid ist keine erstrebenswerte Eigenschaft.“

Noch immer stehen sie in der Landschaft, er hält ihre Hand fest und sie redet von Neid auf die Haare ihrer Schwestern. Kann dieser Tag noch absurder werden? Wie viel braucht sie noch, um sich endgültig lächerlich zu machen, ohne es zu merken?

„Ich glaube, so ganz ohne Neid kommt niemand aus. Und deine Haare sind irgendwie ein Markenzeichen.“

„Deine aber auch.“ Sie lacht und kann nicht anders als eine Strähne anzuheben und neben seine Haarspitzen zu halten. Ihre Haare sind ein kleines bisschen heller als seine, aber der Unterschied ist nur zu erkennen, wenn man ihn auch sehen will. „Meine Urgroßmutter war angeblich ein Metamorphmagus und hatte auch von Geburt an diese fast weißen Haare. Früher haben meine Eltern mich so getröstet, wenn ich mich darüber beschwert habe, und mir versprochen, dass ich auch metamorphmagisch werde, wenn ich erwachsen bin. Als Kind habe ich wirklich eine Zeit lang jeden Unsinn geglaubt.“

„Es ist ja kein Unsinn, wenn es Metamorphmagie in der Familie gibt. Ich habe irgendwo mal von einer Hexe gelesen, deren Augen an ihrem fünfzigsten Geburtstag plötzlich die Farbe gewechselt haben, obwohl sie vorher noch nie etwas in der Art ohne einen Zauberstab ausrichten konnte.“ Es war irgendwie nett von ihm, diese kleine Anekdote hervorzukramen oder zu erfinden. Sie lässt ihre Haarsträhne wieder fallen und weiß nicht mehr, wohin mit ihren Händen. Wohin mit ihren Gedanken.

„Du bist lieb. Bist du wirklich so oder ist das ein Trick?“ Trick. Noch so ein schlimmes Wort. Genau wie Spiel.

„Narzissa-“

„Was würdest du tun, wenn ich dich jetzt küssen würde? Würdest du es ausnutzen oder würdest du dich daran erinnern, dass ich eigentlich nur mehr über dich wissen wollte und deswegen mit dir hier bin?“ Es ist ihr ein Rätsel, woher sie die Dreistigkeit oder den Wagemut oder den Wahnsinn nimmt, um von einem Kuss zu sprechen, von dem niemand gesprochen hat. Sie macht noch einen Schritt auf ihn zu. „Was würdest du tun?“

„Ich würde dir ganz bestimmt nicht ausweichen. Aber ich würde mich auch fragen, woher diese schnelle Überwindung von allen Zweifeln kommt. An Weihnachten hast du mir immerhin noch glaubhaft versichert, dass ich mit netten Worten nicht weit kommen würde. Es käme mir zu einfach vor.“

„Ich mache es dir also schwer und das passt zu mir?“ Sie geht noch einen halben Schritt nach vorne und endlich verrutscht etwas in seinem gut sortierten Gesicht und sie sieht mehr als nur einen Hauch von Unsicherheit. „Soll ich die Frage nochmal wiederholen? Du siehst so aus, als könntest du mir nicht folgen.“

„Versteh das jetzt nicht falsch, aber gerade siehst du Bellatrix mehr als nur ähnlich.“ Er schmunzelt, aber es sieht nach nichts als purer, roher Verzweiflung aus. „Verdammt, ich hätte nicht gedacht, dass ich Angst vor dir haben könnte und gerade trotzdem nirgendwo lieber wäre.“

„Du hast meine Frage nicht beantwortet. Und es ist eigentlich nicht nötig, zu fluchen.“

„Ja. Die Antwortet lautet Ja. Du machst es mir schwer und das passt zu dir und trotzdem würde ich dich ganz sicher nicht aufhalten, wenn du plötzlich beschließen solltest, mir näher zu kommen. Also noch näher.“

„Okay. Gut zu wissen.“ Als sie einen Schritt zurückmacht, spürt sie auf einmal seine Hände, die sich auf ihre Hüften gelegt haben und sie festhalten. Sie kann ein Lächeln nicht unterdrücken. Es ist für sie keine Option, ihn zu küssen. Ihren ersten, richtigen Kuss zu initiieren, das ist unvorstellbar. Doch sie muss zugeben, dass sie neugierig ist, wie er auf die Provokation reagiert. Wie er damit umgeht. Dabei weiß sie nicht einmal so richtig, was genau die bestmögliche Lösung der Situation wäre, die er ihr präsentieren könnte. Sie ist sich nicht sicher, ob sie von ihm geküsst werden will, aber sie muss zugeben, dass es sich gut anfühlt, ihm so nah zu sein. Von ihm festgehalten zu werden. Und ihn einfach nur anzusehen.

Er ist nicht sehr viel größer als sie, doch ein wenig nach oben sehen muss sie aus dieser Entfernung doch. Seine Kiefermuskulatur hat sich verhärtet und er hat die Kontrolle über seine Mimik noch nicht ganz zurückgewonnen, aber es spricht für ihn, dass er ihrem Blick nicht ausweicht. Sie überwindet die letzten fehlenden Zentimeter zwischen ihren Oberkörpern und schmiegt sich an ihn. Es fühlt sich ganz normal und richtig an, mit ihren Fingerspitzen über seinen Mantelkragen zu fahren und dabei einfach nur abzuwarten, wie er sich verhält.

„Hast du immer noch Angst vor mir?“

„Das ist eine rhetorische Frage, oder?“

„Nein.“

„Ich wäre jetzt nirgends lieber. Nirgends.“ Er beugt sich vor, sodass sein Mund direkt an ihrem Ohr liegt und sein Atem ihren Hals oberhalb des hastig umgebundenen Schals kitzelt. „Und ich habe verflucht nochmal Angst, aber ich glaube, das gefällt dir.“ Er drückt einen Kuss auf ihren Scheitel und sie ist froh, dass er nicht spüren kann, wie sich die feinen Härchen in ihrem Nacken und auf ihren Armen aufrichten.

„Vielleicht solltest du mich loslassen.“

„Ist das eine Aufforderung oder nur ein Gedanke?“

„Nur ein Gedanke.“ Er lacht und sie spürt die Vibrationen seines Oberkörpers. „Was ist denn eigentlich so witzig? Habe ich einen Witz gemacht, den ich selber nicht begreife?“ Ein Witz. Ein Trick. Ein Spiel. Gar nichts davon.

„Nein, du hast keinen Witz gemacht. Du hast eine perfekte Zwickmühle gebastelt.“ Er seufzt und sie spürt, wie sein Griff sich lockert und sie schmiegt sich automatisch enger an ihn. „Ich würde nichts lieber tun als dich zu küssen, aber ich bin mir auch ziemlich sicher, dass es irgendwie ein Rückschritt wäre, weil ich dann einfach nur deine Erwartungen erfüllen würde.“

„Und meine Erwartungen zu erfüllen, das wäre schlecht?“

„Du lässt mich ziemlich berechenbar aussehen. Und ungeduldig.“ Entschlossen schiebt er sie von sich weg. „Deswegen habe ich gelacht. Du stellst mich bloß und ich fühle mich auch noch wohl dabei. Und das ergibt eigentlich keinen Sinn.“ Seine Mundwinkel zucken und er streicht ihr eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht. Ihr fehlt die Nähe schon jetzt. Diese Wärme, die nicht ausschließlich etwas mit den winterlichen Außentemperaturen zu tun hat. „Vielleicht können wir trotzdem den Rest des Tages miteinander verbringen? Wir könnten… Hausaufgaben machen? Oder richtig spazieren gehen? Oder was auch immer du gerne tun würdest?“

„Hausaufgaben. Das klingt vernünftig.“ Vernünftig. So vernünftig etwas in Anbetracht der Umstände nur sein kann.

* * *



Die meisten Schüler scheinen sich angesichts des „Studientags“ für einen Besuch in Hogsmeade entschieden zu haben. Eine andere Erklärung dafür, dass die Bibliothek himmelschreiend leer ist, gibt es nicht. Im Lesesaal haben sich einige fleißige Einzelkämpfer verteilt und der Koboldsteinclub tagt in seiner Stammnische. Die übrigen Ecken und Winkel sind frei und Narzissa weiß, dass es vermutlich klüger wäre, sich in den Lesesaal zu setzen, anstatt mit Lucius eine der Nischen zu beziehen, doch schließlich landen sie trotzdem in der Abteilung für Zaubertrankliteratur auf einem Sofa mit einem angenehm großen Tisch, auf dem sie ihre Rezepte für Professor Slughorns Unterricht gewissenlos ausbreiten kann.

Es ist ein gemütliches Abseits an einem Ort, an dem man für gewöhnlich selten alleine ist. Die Regale, neben denen sie sich eingefunden haben, scheinen keine besonders gefragte Literatur zu enthalten – oder man möchte sie nicht stören. Narzissa ist nicht häufig genug in der Bibliothek, um zu wissen, ob es solche unausgesprochenen Regeln gibt.

Ihre Konzentrationsfähigkeit ist mäßig, aber sie schafft es trotzdem, einige Rezepte fein säuberlich herauszuschreiben und die Wirkungsweisen von einigen neuen Kräutern nachzuschlagen, ohne dabei irgendwelche dummen Fehler zu machen. Neben ihr arbeitet Lucius – auf einmal wieder ganz gelassen, fast ein bisschen unterkühlt – an einem Aufsatz für Professor McGonagall.

Es könnte alles so friedlich sein, wenn sie sich nicht so fühlen würde als ob sie einen Stromschlag abbekommen hätte. Daran trägt sie selbst die Schuld, das weiß sie. Schließlich ist sie diejenige, die einen Schritt nach vorn gemacht und seine Nähe gesucht hat. Aber sie konnte ja nicht ahnen, dass sie das so mitnehmen würde. Dass es sie so nachhaltig ablenken würde.

Frustriert legt sie die Feder aus der Hand, verändert ihre Sitzposition und spricht ein kleines Gebet, dass man ihr die Ruhelosigkeit nicht im vollen Ausmaß ansehen kann.

„Alles in Ordnung?“

„Sicher, ich brauche nur eine Pause.“ Er nickt verständnisvoll und sie kommt sich wie eine ganz miserable Schauspielerin vor. Wie kann es sein, dass sie sich selbst so gekonnt aus dem Konzept gebracht hat, während er schon wieder zu seiner üblichen Nonchalance zurückgefunden hat? „Ich vertrete mir mal kurz die Beine.“ Unentschlossen, wohin sie gehen soll, steht sie auf und schleicht in den Lesesaal, der nicht wesentlich voller oder leerer geworden ist.

Sie schüttelt ihre Arme aus und versucht, das Kribbeln zu ignorieren, das sich von ihrem Nacken über ihre Schultern bis in ihre Fingerspitzen ausbreitet. Das kann doch nicht sein. So wenig hat sie sich doch sonst auch nicht im Griff. Plötzlich kommt es ihr sogar komisch vor, wie sie ihren Fuß auf dem Boden aufsetzt und sie probiert durch einen leeren Gang zwischen zwei Regalen rückwärts zu laufen. Der einzige Effekt davon ist, dass ihr schwindelig wird, weil sie sich mehrmals umdreht, um sicherzugehen, dass sie niemand sieht oder sie jemanden übersieht.

Als sie sich dafür entschieden hat, wieder vorwärts zu gehen und ihre Beine nicht mehr ganz so bewusst wahrzunehmen, richtet sie den Blick auf die Buchreihe direkt vor ihr. Eine lexikalische Reihe über Phantastische Tierwesen und ihre Lebensräume. Kein Wunder, dass hier niemand ist.

„Ist wirklich alles okay? Kommst du mit Professor Slughorns Aufgaben nicht weiter?“ Hat Lucius gerochen, in welche Ecke sie sich verlaufen hat oder hat er sie am Ende sogar dabei gesehen, wie sie den Rückwärtsgang eingelegt hat? Sie spürt förmlich, wie ihr ganzes Gesicht heiß wird und tut so, als würde sie konzentriert die Buchrücken studieren. Sie legt sogar den Kopf ein bisschen schief, um überzeugender zu sein. „Zissy?“ Diese Abkürzung bringt sie endgültig aus der Fassung und sie gibt ihre gespielte Konzentration auf.

Sie will sich umdrehen und ihm sagen, dass nur ihre Schwestern sie so nennen und ihr dreister Cousin und dass das kein Spitzname ist, den jeder einfach so übernehmen kann, der ihre Gegenwart drei Stunden ertragen hat, doch sie kriegt den Mund nicht auf. Er steht direkt vor ihr und freut sich sichtlich darüber, sie überrumpelt zu haben. Womöglich hatte er mit seiner vorweihnachtlichen Behauptung, dass sie einander in einigen Dingen ähnelten, gar nicht so falsch gelegen. Zumindest hatten sie beide Freude daran, einander aus dem Konzept zu bringen.

„Ich…“ Sie bricht ab. Ihr Kopf ist wieder so schrecklich leer.

„Ja?“

„Jetzt hab ich Angst vor mir selber.“ Heute war sie sich selbst entschieden zu unberechenbar gewesen und es war irgendwo nur fair, dass sie dafür die Quittung bekam und keine ganzen Sätze mehr bilden konnte.

Er grinst und sie ist fast froh, dass er sich vorbeugt und ihr blitzschnell einen Kuss auf den Mund gedrückt hat und das Grinsen aus seinem Gesicht verschwindet. Der Kuss hat vielleicht eine Sekunde gedauert, vielleicht auch nur eine halbe Sekunde. Genauso gut hätte er mit seinem Finger auf ihre Nase tippen können. Da hat sie schon innigere Geburtstagsküsse von ihrer Tante erhalten. Und zählt es überhaupt als erster Kuss, wenn sie keine Chance hat, darauf zu reagieren?

Sie kann mit ihrer eigenen Empörung nichts anfangen und ehe sie weiß, was sie tut, hat sie sich ein bisschen auf die Zehenspitzen gestellt und mit ihren Lippen einen Kuss in seinen Mundwinkel gedrückt. Das zählt auch nicht so ganz, aber sie zieht sich nicht zurück und jubiliert innerlich, als sie spürt, wie er zögert, sich für einen Atemzug von ihr löst und sie dann schließlich auf den Mund küsst. So richtig. Sie ist sich ziemlich sicher, dass man eigentlich nicht gleichzeitig küssen und lächeln kann, aber irgendwie tut sie doch genau das.

Als er sie näher an sich zieht, bekommt sie das gar nicht so richtig mit, weil sie ganz fasziniert davon ist, wie weich sein Mund ist und wie angenehm es ist, nicht mit ihm zu reden und nicht darüber nachzudenken, dass sie irgendwann wieder miteinander reden müssen, vielleicht sogar über das reden müssen, was gerade passiert, weil es ja unmöglich keine Konsequenzen haben kann. Sie ist einfach nur glücklich und zufrieden, weil ihr Gefühl, dass dieser Tag bedeutsam werden wird, sie nicht getrogen hat.

Chapter 8: Schein und Heiligkeit

Chapter Text

8 – Schein und Heiligkeit



Man müsste es ihr ansehen, denkt sie, aber niemand scheint erraten zu können, dass sie Lucius Malfoy geküsst hat. Beim Abendessen fragt Samara, ob sie einen schönen Tag hatte, doch sie fragt nicht, wo sie gewesen ist. Diana fragt, wo sie gewesen ist, doch sie fragt nicht, mit wem sie zusammen gewesen ist. Elaine stellt überhaupt keine Fragen und Narzissa gießt gewissenhaft die Hyazinthen neben ihrem Kopfkissen.

Die nächsten Tage vergehen, es müsste irgendwie komisch und peinlich sein, weil sowohl sie selbst als auch Lucius darauf bedacht sind, sich ganz normal zu verhalten. Normal, das bedeutet in diesem Fall, dass sie so tun als wäre nichts passiert. Obwohl sie nach dem Abendessen trödelt und er auch, damit sie ein Stück zusammen durch das Schloss, durch die dunklen Kerker laufen können, ohne die Große Halle gemeinsam zu verlassen oder gleichzeitig im Gemeinschaftsraum anzukommen. Normal ist es noch nicht, ihn zu küssen, aber sie staunt trotzdem darüber, wie wohl sie sich dabei fühlt. Wie wenig kompliziert das ist.

Beinahe glaubt sie schon, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben ein richtiges Geheimnis hat, doch da hat sie die Rechnung ohne den siebten Sinn ihrer Schwester gemacht. Wenn die Herausforderung nur groß genug ist, dann verwandelt sich Andromeda in einen Bluthund. Das weiß Narzissa und vielleicht weiß Lucius es auch. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass er exakt eine Woche nach dem Valentinstag keine Anstalten macht, ihr zu folgen, als sie vom Slytherintisch aufsteht und sich auf den Weg in Richtung der Kerker macht.

Sie sieht nur in ihrem Augenwinkel, dass Andromeda sich erhebt und einen halbvollen Teller zurücklässt. Innerlich wappnet sie sich für jede Unannehmlichkeit, jedes bedrängende Verhör, das nun kommen mag, doch das ändert nichts daran, dass sie am liebsten laut aufschreien würde, als sie die Stimme ihrer Schwester hinter sich hört.

„Du läufst vor mir weg. Du läufst wirklich vor mir weg? Hat Bella da irgendwie einen Trend gesetzt oder bist du neuerdings so feige?“ Wenn sie nicht stehen bleibt, dann muss Andromeda ihr nachlaufen. Nur wenn Andromeda stehen bleibt und sie weitergeht, dann läuft sie wirklich weg. „Ich hab euch gesehen.“ Auf einmal sind ihre Füße ganz schwer. Ihre Füße sind aus Stein. Ein Teil des steinernen Gangs.

„Wann?“

„Vorgestern.“ Und dann hatte sie zwei Tage gewartet? Das war nicht bemerkenswert geduldig, doch sie war nicht sicher, ob sie an Andromedas Stelle so viel Zeit hätte verstreichen lassen. „Warum hast du nichts gesagt?“

„Du kannst ihn nicht leiden.“

„Na und? Du bist meine kleine Schwester und ich will wissen, wenn du einen Freund hast! Und vielleicht ändere ich meine Meinung ja noch. Das kann ja auch mal sein. Es geschehen ja schließlich noch Zeichen und Wunder. Und er hat dich zum Lachen gebracht.“ Ganz vorsichtig dreht Narzissa sich um und sieht ihrer Schwester direkt in die Augen.

„Er ist nicht mein Freund.“

„Ach und was dann? Dein Geliebter?“ Von Andromeda verspottet zu werden ist so unangenehm wie wenig andere Dinge auf der Welt. Es ist so subtil, so ironisch und unironisch zugleich. Ihre Füße sind nicht nur so schwer, sondern auch so kalt wie Steine. „Es ist doch irgendwie offensichtlich, dass es eine schlechte Entscheidung ist, wenn du es mir nicht einmal erzählen kannst, oder?“

„Erzählst du mir denn alles?“ Es ist keine ernst gemeinte Frage, sondern eine Verzweiflungstat, doch zu ihrer Verwunderung wird Andromeda aschfahl. Einen Augenblick lang wirkt sie regelrecht panisch, doch dann nimmt sie sich zusammen und ist wieder Andromeda. „Siehst du. Du erzählst mir definitiv nicht alles. Aber bohre ich nach? Verurteile ich dich?“ Einen Stein auf dem anderen lassen. Steine über Steine. Ihr ist schlecht.

„Was hat er gesagt?“ Andromedas Stimme klingt ganz eigenartig. Wie eine gepresste Zitrone. Sauer und doch beklemmt. „Was hat er verdammt nochmal gesagt?!“ Ein Zischen. Eine unbeherrschte Schlange. Die Bilder in Narzissas Kopf überschlagen sich und sie wünschte, ihre Füße wären nur ein wenig leichter. Oder ein wenig wärmer.

„Lucius hat mir überhaupt nichts erzählt. Aber ist es nicht offensichtlich eine schlechte Entscheidung, wenn dich die Vorstellung, ich könnte es wissen, so aufregt?“ Sie hat gar nicht gemerkt, wie wütend sie ist. Und wie enttäuscht. „Du kannst so ungerecht sein. Ich erzähle dir normalerweise alles, wirklich alles! Und ich hätte dir auch alles über Lucius erzählt, wenn du nicht so voreingenommen wärst. Aber über wen von deinen Bekannten habe ich denn eine Meinung, die ich dir unentwegt ins Gesicht sage?“ Andromedas Mund öffnet sich und schließt sich wieder, ohne dass sie ein einziges Wort herausgebracht hätte.

Das Schweigen, das sich zwischen ihnen ausbreitet, kann sie nicht ertragen. Sie dreht sich um und geht zum Gemeinschaftsraum. Ihre Augen brennen und ihre Füße sind taub und kribbeln, aber das ist alles immer noch besser als Andromeda, die kein Wort sagt.

In der Nacht schläft sie kaum und wenn sie schläft, dann wacht sie mit pochendem Herzen und trockenem Hals auf. Am nächsten Morgen brennen ihre Augen und ihr Magen sticht. Sie versucht sich zu übergeben, aber alles Würgen nützt nichts, das Stechen bleibt. Samara beobachtet sie dabei, wie sie sich ein in kaltes Wasser getränktes Handtuch ins Gesicht presst.

„Du siehst krank aus.“

„Es geht mir gut.“

„Soll ich dich zu Madam Pomfrey begleiten?“

„Ich habe gesagt, es geht mir gut!“ Abwehrend hebt Samara die Hände und macht einen demonstrativen Schritt zurück. „Entschuldige, ich bin nur gereizt… ich habe schlecht geschlafen.“ Das verständnisvolle Nicken von Samara rührt sie ganz eigenartig. Es erinnert sie daran, wie Samara in der ersten Klasse für sie da gewesen ist, als Narzissa in der dritten Woche des Schuljahrs unerwartet mitten in der Nacht zum ersten Mal ihre Tage bekommen hat. Sie kannten einander mehr schlecht als recht und Narzissa hatte schluchzend und handlungsunfähig auf dem Rand der Badewanne gesessen und den roten Fleck in ihrer Pyjamahose angestarrt. Wortlos hatte Samara ihr eine frische Hose gebracht, ihren Teil des Badezimmerschranks geöffnet und es Narzissa überlassen, sich dort zu nehmen, was sie brauchte. Am nächsten Morgen hatte sie sich für ihre Hysterie geschämt und sich nie bei Samara bedankt. Das war der Moment gewesen, in dem Samara und sie echte Freundinnen hätten werden können, doch sie hatte es nicht zugelassen. „Es ist nur meine Schwester, wir haben uns ein bisschen gestritten. Es ist eigentlich gar nichts.“

„Okay. Falls es doch mehr als eigentlich gar nichts ist, dann kannst du jederzeit mit mir reden, ja? Und wenn es privat ist, dann kann ich mir auch die Ohren zuhalten und du erzählst es mir trotzdem. Oder du redest mit meinem Kopfkissen. Das kann auch helfen.“ Samaras Mundwinkel zucken. „Du hast ja keine Ahnung, was ich deinem Kopfkissen schon alles anvertraut habe, weil es so einen freundlichen Bezug hat.“ Sie weiß nicht so recht wieso, aber plötzlich muss sie kichern. Sicherlich ist das der Mangel in Schlaf. Der Vorbote einer tagesfüllenden Überspanntheit.

Als sie noch nicht ganz fertig mit dem sinnlosen Kichern ist, nimmt sie auf einmal ein Klopfen an der Tür ihres Schlafsaals wahr. Samara hört es auch und ruft ganz selbstverständlich ein „Herein“ heraus. Hinter der Tür steht Lucius, der sich in seiner Haut nicht besonders wohl zu fühlen scheint.

„Oh, lasst mich raten, es gibt dringende Vertrauensschülerpflichten zu besprechen?“ Mit dem breitesten Grinsen überhaupt zieht Samara ihren Slytherinpullover über die weiße Bluse, nimmt sich ihre Schultasche und entschwindet. Lucius räuspert sich verlegen, als Samara sich an ihm vorbeidrückt.

„Entschuldige, ich will dir keine Szene machen, aber ich vermute, dass Andromeda gestern nicht zufällig gleich nach dir gegangen ist? Ich habe gehofft, dass du noch im Gemeinschaftsraum bist, aber du warst nicht da und ich… ich wollte einfach fragen, ob alles in Ordnung ist?“ Diese Frage muss einfach rhetorisch sein. Wenn ihr Spiegelbild auch nur die geringste Ähnlichkeit mit ihr hat, dann sieht sie aus, als hätte sie Graf Dracula höchstpersönlich erwischt.

„Was weißt du über meine Schwester, was sonst niemand weiß?“

„Es ist nicht mein Geheimnis und deswegen möchte ich dazu lieber nichts sagen. Ich verrate dir liebend gerne alles über mich, aber das ist etwas zwischen Andromeda und dir.“

Es ist nervenaufreibend, wie vernünftig und logisch und erwachsen und ehrenhaft er ist. Es ist mehr als nur ein bisschen kindisch, dass sie anfängt zu schmollen und darum wendet sie sich ihrem Kleiderschrank zu und sucht nach den Einzelteilen ihrer Schuluniform. Bisher hat sie nicht darüber nachgedacht, dass sie in Nachthemd und Morgenmantel vor ihm steht, aber nun werden ihre Wangen heiß und ihr Körper beschließt, Verlegenheit zu demonstrieren.

„Außerdem hat sie mich gefragt, ob du mein Freund bist und irgendwie hatte ich da nicht wirklich eine Antwort für sie, weil ich keine Ahnung habe, ob du das bist. Was du eigentlich bist. Was das alles soll. Bin ich dein Geheimnis oder wie ist das?“

„Ich dachte nicht, dass das noch  eine große Diskussion wert ist.“ Das ist eine Lüge. „Und ich halte nicht besonders viel von Geheimnissen.“ Noch eine Lüge. „Ich wäre gerne dein Freund.“ Das ist die Wahrheit. Vermutlich. Er lächelt. „Falls du so etwas haben darfst.“

Falls ich so etwas haben darf?

„Könnte ja sein, dass deine Eltern etwas dagegen haben. Soweit ich weiß hatte Bellatrix nie einen Freund, obwohl es wirklich mehr als genug Interessenten gab, und nun ist sie gleich verlobt. Andromeda ist vielleicht auch ein paar Mal mit jemandem nach Hogsmeade gegangen, aber das war es auch. Und nichts für ungut, aber ich will dir jetzt nicht direkt einen Heiratsantrag machen, doch ich würde auch kein Verbot deiner Eltern missachten wollen.“

„Meine Eltern sind etwas altmodisch…“ Aber so ein Verbot war nie ausgesprochen worden. Und falls doch, dann nicht für sie. So gutgläubig, dass weder sie, noch ihre Schwestern vor ihrem Schulabschluss Interesse an irgendjemandem haben könnten, würden wohl weder ihre Mutter noch ihr Vater sein. Es war herrlich zu sehen, wie ihr unbeendeter Satz ihn sichtlich nervös machte. „… und ein Verlobungsring wäre schon das Minimum.“

In diesem Moment ist Lucius der Stein, der menschengewordene Stein. Es gelingt ihr knapp zehn Sekunden, ernst zu bleiben und sich an seinem schockierten Gesichtsausdruck zu weiden. Dann kann sie nicht anders und wendet sich lachend von ihm ab. Zunächst wirkt er irritiert, dann erleichtert und dann doch wieder schwerst verunsichert. Sie geht auf ihn und seine wachsende Sinnkrise zu und drückt ihm einen Kuss auf die Wange.

„Keine Verbote. Keine Regeln. Keine rechtlich bindenden Schmuckstücke.“

„Dein Sinn für Humor bringt mich nochmal um.“ Er zieht sie an sich und sie lässt zu, dass er sie auf den Mund küsst. Ein klein wenig selbstzufrieden macht sie sich von ihm los.

„Ich muss mich anziehen. Ich bin schon spät dran.“

„Stimmt. Dann sehen wir uns später?“ Sie nickt und ehe sie die Tür schließt, kann sie nicht widerstehen und küsst ihn noch einmal. Einfach weil es so ein nettes Gefühl ist, ihn nicht in irgendeiner Nische oder in einem dunklen Gang, sondern in ihrem hell erleuchteten Schlafsaal zu küssen. Es fühlt sich weniger nach Geheimniskrämerei an, weniger scheinheilig, einfach ein bisschen ehrlicher.

* * *



Es ist erstaunlich, wie wenig der Rest der Welt dazu zu sagen hat, dass Lucius sich bei jeder Mahlzeit zu ihr setzt und sie manchmal, wenn er eine Freistunde hat, zu ihrem Klassenzimmer begleitet. Samara und Diana geben sich gesprächig und scheinen beide ganz versessen darauf zu sein, mit Lucius warm zu werden. Es ist faszinierend, ihre noch so neuen Freundinnen dabei zu beobachten, wie sie sich bemühen und es gut meinen. Sie fühlt sich eigenartig ungut dabei, diese Bemühungen zu beobachten. Es braucht mehr als nur einige Tage, um dieses seltsame Unwohlsein als Eifersucht zu begreifen. Aber kann sie wirklich eifersüchtig darauf sein, dass Samara, die bildschöne Samara, so charmant sein kann?

Andromeda schweigt und scheint neuerdings sehr viel Freude daran zu haben, allein zu essen. Die einzige Person, mit der sie manchmal zusammensitzt, ist Priscilla und das ist schon irgendwie kränkend. Der Februar schleicht sich aus, Andromeda schleicht sich nicht in ihren Alltag zurück und als der März anbricht, der letzte Schnee des Winters schmilzt und die Temperaturen plötzlich wieder so deutlich über dem Nullpunkt sind, fragt sie sich, ob es von nun an für immer so sein wird. Oder ob Andromeda und sie die Kurve kriegen.

An einem ganz schnöden Samstag im Monat März überschlagen sich dann auf einmal die aufregenden Kleinigkeiten, die über drei Wochen lang ausgeblieben sind. Beim Frühstück glänzt Lucius durch Abwesenheit, doch damit hat sie gerechnet, denn er hat am Abend zuvor seine monatliche Patrouille absolviert und angekündigt, den Tag halb schlafend, halb lernend zu verbringen, um am nächsten Montag vor Professor McGonagall zu bestehen, die am Freitagnachmittag eine mündliche Prüfung für ihre UTZ-Kurse angesagt hat. Womit sie weniger gerechnet hat, ist das offensive Grinsen von Rabastan Lestrange, der es auszunutzen weiß, dass weder Samara noch Diana am Wochenende vor zehn Uhr auf den Beinen sind.

Ehe sie sich das Frühstück mit einem unbequemen Ausweichmanöver verdirbt, ergibt sie sich, macht deutlich, dass sie nicht aufstehen wird, nippt an ihrem Tee und beginnt damit, einen Apfel zu schälen. Rabastans Grinsen könnte kaum breiter sein.

„Na, wie geht’s dir?“

„Gut. Mir geht es gut.“ Der Apfel ist annähernd kernlos und sie fragt sich, ob das normal ist. Ob das gesund ist. Ob sie nicht vielleicht doch auf das Frühstück verzichten oder sich zu Albert, mit dem sie abgesehen von ihren gemeinsamen Patrouillen eher wenig zu tun hat, flüchten sollte. Albert ist ein netter Junge, harmlos – und  wenn es nicht das Gerücht gäbe, dass er ein Parselmund und pathologischer Lügner ist, dann müsste man sich fragen, warum er nicht in Hufflepuff gelandet ist.

„Das freut mich, ehrlich. Und ich wollte mich entschuldigen. Ich hab mich an Weihnachten gleich zweimal irgendwie daneben benommen und… ja, das wollte ich eigentlich gar nicht. Eigentlich finde ich dich nämlich wirklich sympathisch und ich fände es schön, wenn wir Freunde sein könnten.“

„Freunde?“

„Ja – oder ist Freundschaft kein Konzept, das dir bekannt ist?“ Aus dem Grinsen wird ein Lächeln und das erinnert sie daran, dass sie ihn ja nicht immer furchtbar und unangenehm fand. „Hör zu, ich hab… ich bin manchmal ätzend, das will ich gar nicht leugnen, aber es sieht ja stark danach aus, als würden wir in Zukunft die Feiertage miteinander verbringen und es würde mir sehr viel bedeuten, wenn ich wüsste, dass ich nicht auf deiner schwarzen Liste stehe.“

„Ich habe keine schwarze Liste.“ Sie bietet ihm ein Viertel des Apfels an. Es kommt ihr wie ein den Rahmenbedingungen angepasstes Friedensangebot vor. „Aber ich würde mich auch freuen, wenn ich mich darauf verlassen könnte, dass es bei dieser Hochzeit keine Missverständnisse oder unschönen Konfrontationen gäbe.“

„Dann träumen wir denselben Traum.“ Feierlich hebt er das Apfelstück. „Auf einen zweiten Versuch.“

„Auf einen zweiten Versuch.“ Zeitgleich beißen sie in den Apfel und sie kann nicht anders, als über diese seltsame Art der Wiedergutmachung zu lachen. Sie verschluckt sich, aber das ist okay.

„Ach so und Glückwunsch. Ich hab gar nicht erwartet, dass Malfoy so richtig über seinen Schatten springen kann, aber anscheinend hat er doch ein bisschen Mumm.“ Das ist schon wieder dünnes Eis, aber Rabastans Bemerkung hat keinen ironischen Unterton, nicht einmal ein Hauch von Häme schwingt mit. „Anscheinend ist er doch kein formvollendeter Feigling.“

„Du hältst ihn für einen Feigling?“ Rabastan zuckt mit den Schultern, aber wenn er mit ihr befreundet sein will, wenn er diesen Frieden will, dann muss er auch mal merken, dass sie keine überflüssigen, verschenkten Fragen stellt. „Warum?“

„Keine Ahnung. Er hat mir nie das Gegenteil bewiesen. Ich sag ja gar nicht, dass Feigheit und das Vermeiden von Konflikten dasselbe ist… aber na ja, es gab mit Montague und Flint schon die eine oder andere Diskussion, bei der man durchaus mal was hätte sagen können. Und gut, bei Merryweather ist das irgendwie klar, dass der nichts sagt, weil er allen körperlich unterlegen und geistig überlegen ist… aber bei Malfoy hatte das immer so einen Beigeschmack. Ist ja nicht so, als wäre er so zart gebaut oder so.“ Rabastan beobachtete ihre Reaktionen sehr genau, ohne sich zu unterbrechen, doch nun erlaubt er sich wieder ein kleines Grinsen. „Aber so weit seid ihr dann vermutlich noch nicht?“

„Ich muss definitiv länger als fünf Minuten mit dir befreundet sein, um über so was zu sprechen.“

„Das ist legitim.“ Das sagt er, aber so schnell lässt sich Rabastan nicht von der kommunikativen Überholspur drängen. „Trotzdem bin ich mir sicher, dass ich da schon mehr Haut gesehen habe.“

„Das hier wird wieder einmal sehr schnell sehr unangemessen.“

„So bin ich eben, Liebling.“

Es gelingt ihr, das Gespräch in eine harmlose, unverfängliche Richtung zu lenken und irgendwann langweilt sie Rabastan ganz offensichtlich, sodass er sich mit einem Luftkuss verabschiedet und sie ein wenig unruhig und beunruhigt am Slytherintisch zurücklässt.

Sie hat keine fünf Minuten für sich. Es kommt ihr so vor, als hätte sie kaum die Augen geschlossen, ihren lauwarmen Tee in großen Schlucken ausgetrunken und gedanklich ihre Hausaufgaben aufgelistet, als sie hinter sich ein gespielt erwachsenes Räuspern vernimmt und Sirius sich betont lässig neben sie auf die Sitzbank fallen lässt.

„Hi.“

„Hallo. Brauchst du was? Willst du was? Kann man helfen?“ Es ist unwahrscheinlich, dass Sirius ihr nicht anmerkt, dass sie keinen ganz betulichen, schläfrigen Samstagmorgen hinter sich hat. Es ist nicht auszuschließen, dass er mit voller Absicht gewartet hat, bis Rabastan weg ist.

„Alles wunderbar bei mir – ich wollte mir nur mal aus nächster Nähe das Gesicht von jemandem anschauen, der auf zwei Hochzeiten gleichzeitig tanzt. Lucius Malfoy und Rabastan Lestrange. Wow.“ Pest und Cholera – so klingt das bei ihm. „Ich bin fasziniert, ehrlich. Ich dachte, Rabastan hat bei dir verschissen, sah wenigstens stark danach aus.“

„Es zeugt von Größe, wenn man Gnade vor Recht walten lassen kann.“ Sirius verdreht die Augen, lässt ein gequältes Seufzen los und lehnt sich gegen die Tischkante, ohne sie aus den Augen zu lassen. „Du bist echt nur aufgestanden und rübergekommen, um mir zu sagen, dass du nichts von dem Umgang hältst, den ich pflege?“

„So in etwa. Allerdings ist da drüben auch nicht viel los, ist noch zu früh. Und alleine essen ist so langweilig… ich freu mich schon, wenn Regulus nächstes Jahr hier ist.“ Wenn Sirius wirklich glaubt, dass sein kleiner Bruder ebenfalls nach Gryffindor gehen wird, dann kennt er seine eigenen Eltern aber ganz schlecht. Narzissa würde ihre linke Hand dafür ins Feuer legen, dass Regulus in den letzten Monaten umfassende Predigten darüber gehört hat, was Slytherin für einen Black bedeutet. „Aber eigentlich wollte ich mit Andromeda reden. Schläft sie noch?“ Narzissa gibt ein möglichst unbeschwertes Schulterzucken von sich. „Habt ihr Streit?“

„Das kannst du sie ja mal fragen, wenn du sie siehst.“ Und mir dann ihre Antwort verraten.

* * *



Lucius und sie hanen sich den ganzen Tag über knapp verpasst und beim Abendessen war es ihr schließlich inmitten all ihrer Mitschüler irgendwie unpassend vorgekommen, von den morgendlichen Begegnungen mit Sirius und Rabastan zu erzählen, dabei hätte sie zumindest Rabastan und seinen Wunsch nach einer Freundschaft gerne erwähnt. Womöglich war sie nur mal wieder unverbesserlich pessimistisch, aber ihr schwante, dass sie zu einem schnellstmöglichen Zeitpunkt klar und deutlich sagen sollte, dass Rabastan sie vermutlich immer mal wieder überfallartig belagern würde.

Nachdem Lucius und Priscilla vom Freitag auf den Samstag über das Schloss gewacht haben, lag diese Aufgabe in dieser Nacht bei Albert und ihr. Obwohl sie sich gezwungen hat, zwischen dem Aufsatz für Horace Slughorn und den Übungen für Professor McGonagall anderthalb Stunden Mittagsschlaf zu halten, fühlte sie sich irgendwie ausgelaugt.

Albert erwartet sie im Gemeinschaftsraum und sie bemüht sich zu lächeln. Über Albert kann sie wirklich nichts Schlechtes sagen, doch bedauerlicherweise haben sie einander auch nichts zu sagen. Viel bedauerlicher ist eigentlich nur, dass sie sich das beide wohl eingestanden haben, aber sich trotzdem immer wieder an zähen Gesprächen versuchen. Für gewöhnlich stellt Albert eine unverfängliche Frage nach ihrem Wohlbefinden, doch an diesem Abend nickt er nur fragend in Richtung einer der Treppen und so beginnen sie ihren Rundgang.

„Und? Wie geht es dir?“ Ihr entgeht nicht, dass Albert zusammenzuckt und sie fragt sich, wann sie furchteinflößend geworden ist. Wobei es vermutlich gar nicht an ihr liegt, sondern daran, dass er seine schreckhaften fünf Minuten hat.

„Gut, gut… gut, mir geht es gut.“ Viermal gut ist ein bisschen zu viel, doch sie sind schließlich keine Freunde und somit hat sie kein Recht, irgendwelche bohrenden Fragen zu stellen. „Ich bin nur etwas erschöpft. Das ZAG-Jahr ist wirklich… ich hab es unterschätzt. Ich habe zu viele Kurse und ich will meine Eltern nicht enttäuschen.“ Albert räuspert sich und sie wertet es als ein gutes Zeichen, dass er langsamer geht und ihr in die Augen sieht. „Das kannst du wahrscheinlich nicht nachvollziehen, aber meine Zaubergradprüfungen bedeuten meiner Familie alles.“

„Wieso sollte ich das nicht nachvollziehen können? Meinen Eltern ist es auch wichtig, dass ich einen guten, ersten Abschluss mache!“

„Ja, schon, aber es entscheidet nicht wirklich über deine Zukunft. Du bist durch das Vermögen deiner Familie finanziell abgesichert und es ist eher unwahrscheinlich, dass du später auf dein eigenes Einkommen angewiesen bist oder dein Leben lang arbeiten musst.“ So unverblümt hat ihr noch nie jemand gesagt, dass er sie für eine verwöhnte Göre hält und ihr fehlen kurz die Worte. Wenn Albert nicht so entschuldigend mit den Schultern zucken würde, dann würde es sie in den Fingern jucken, ihm eine saftige Ohrfeige zu verpassen. „Ich wollte dich nicht beleidigen. Das ist nur eine ganz sachliche Feststellung.“

„Dann stelle ich jetzt ganz sachlich fest, dass wir heute vielleicht beide unsere eigene Strecke laufen? Ich glaube nicht, dass ich stundenlang die Gegenwart von jemandem genießen möchte, der so über mich denkt.“

„Ich habe doch gesagt, ich wollte dich nicht beleidigen.“

„Ich bin aber beleidigt.“ Es überrascht sie selbst, wie viel Wut sie Albert auf einmal entgegenbringt. „Ich sage ja nicht, dass du nicht Recht hast mit dem, was du sagst, aber du hast nicht das Recht, mir zu erklären, ich könnte ja nicht nachvollziehen, warum die Zaubergradprüfungen wichtig für dich sind. Ich übernehme den Westflügel. Ich wünsche dir eine erfolgreiche Patrouille. Gute Nacht.“ Abrupt biegt sie nach links ab und hört nach wenigen Metern, wie er ihr nachläuft und dann abbremst.

„Narzissa, das ist verboten! Wir dürfen uns nicht trennen! Das ist gegen die Regeln!“ Sie dreht sich um und begegnet ihm mit ihrem höflichsten Sonntagslächeln.

„Dann solltest du vielleicht nicht so schreien, sonst werden wir noch erwischt.“ Er ruft noch einige Male halblaut ihren Namen, doch sie ist nicht nur eine außerordentlich gute Zuhörerin, sie kann auch sehr gut weghören. Überhören. Ein Rauschen heraufbeschwören, das ihre Ohren füllt und alle anderen, unangenehmen Geräusche übertönt und verdrängt.

Erst als sie die verdunkelte Bibliothek erreicht, nimmt sie wieder etwas wahr. Madam Pince hat die Bibliothek vor über einer Stunde verlassen und alle Lichter gelöscht, doch Narzissa bildet sich das Flackern einer Kerze wohl kaum ein. So leise wie möglich betritt sie die Bibliothek und sucht die Reihen nach dem Licht ab. Mit der rechten Hand umklammert sie ihren Zauberstab, mit der linken Hand ist sie notfalls bereit, jemanden zu packen oder abzuwehren.

Das Licht ist nicht verloschen und nun hört sie ein Kichern und gedämpfte Stimmen. Ist es eventuell sogar von Vorteil, dass sie alleine ist? Wenn sie mit Albert patrouilliert, dann plaudern sie ja für gewöhnlich doch – und wenn einer von ihnen etwas sieht oder hört, dann weisen sie einander nicht ganz lautlos darauf hin und kündigen sich so an. Außerdem hat Albert nicht den leisesten Fuß, wenn man es so sagen darf.

Langsam nähert sie sich der Abteilung für die Literatur der Zaubereigeschichte, in der sie die Regelbrecher verordnet. Sie erkennt zwei Stimmen und vermutet, dass es ein Junge und ein Mädchen sind, die miteinander flüstern. Ehe sie um das Regal herum geht und sich zu erkennen gibt, spricht sie mit verschlossenen Lippen den Zauber, den Lucius ihr gezeigt hat – nur für den Fall, dass irgendwelche magischen Maskierungen vorgenommen wurden. Innerhalb von Sekundenbruchteilen ist die Schlossbibliothek taghell erleuchtet und sie sieht direkt in das erbleichte Gesicht ihrer Schwester, die im Schneidersitz auf dem Boden sitzt. Gegenüber von Andromeda kniet ein Junge, der sich den Hals verrenkt, um sie anzusehen. Zwischen den beiden liegt ein Zauberschachspiel auf dem Boden und es sieht danach aus, als würde ihre Schwester in den nächsten drei Zügen gewinnen.

„Zissy.“ Das Gesicht ihrer Schwester ist ganz leer und auf den zweiten Blick erkennt Narzissa, wen sie da vor sich hat. Edward Tonks. Der Serientäter.

„Weißt du, wie spät es ist?“ Ohne zu zögern holt Andromeda eine Taschenuhr unter ihrem Pullover hervor. Ein Geschenk von ihrer Tante Walburga zum 17. Geburtstag. „Das ist also dein Geheimnis? Du brichst die Sperrstunde, um Schach zu spielen? Weil man das ja nicht ebenso gut tagsüber tun könnte?“ In ihren Augen brennen Tränen. Sie fühlt sich betrogen, dabei weiß sie genau, warum ihre Schwester nicht tagsüber mit einem Hufflepuff Brettspiele spielt.

Während ihre Schwester immer noch bleich und wortlos auf dem Boden sitzt, erhebt sich Edward Tonks, klopft sich nicht vorhandenen Staub von der Hose und streckt ihr seine rechte Hand entgegen. „Hallo. Ich glaube, wir haben uns noch nie so richtig vorgestellt. Ich bin Ted.“

Ihren Zauberstab einzustecken, Teds Hand zu nehmen und zu drücken ist wie ein Reflex. Ein Automatismus. „Hallo. Ich bin Narzissa.“ Sie ist eine Maschine. Sie ist mechanisch. Sie müsste eigentlich schon auf dem Weg zu Professor Slughorn sein, um den Regelverstoß zu melden.

„Weiß ich doch.“ Ted schenkt ihr ein verlegenes Lächeln. Er hat Grübchen, fährt sich nervös durch die Haare und auch ohne das verräterische Erröten und den verlegen Blick ihrer Schwester, die ihr nicht in die Augen sieht, wäre es allzu offensichtlich, dass Andromeda in Ted verliebt ist. Und er wahrscheinlich auch in sie. „Bist du alleine unterwegs? Bist du nicht eigentlich mit diesem Lockenkopf auf Patrouillie?“

„Albert und ich haben uns aufgeteilt.“ Das ist ihr ureigener Regelbruch, doch verglichen mit dem spätabendlichen Spiel der Könige, das ihre Schwester und Ted Tonks heute sicher nicht zum ersten Mal miteinander spielen, wirkt er regelrecht harmlos. Trotzdem wäre es klüger gewesen, nicht preiszugeben, dass Albert sich nicht einmal in der Nähe befindet.

„Verpetzt du uns?“ Fragend beißt Ted Tonks sich auf die Unterlippe. Kurzentschlossen schüttelt sie den Kopf. „Danke. Tausend Dank.“

„Aber ich habe eine Frage. Warum… warum trefft ihr euch nachts?“ Diese Frage geht eigentlich an ihre Schwester, aber es ist unwahrscheinlich, dass sie von Andromeda nach all den Wochen – vielleicht sogar Monaten oder Jahren – des eisernen Schweigens nun plötzlich eine Antwort bekommt. Ted zeigt ihr wieder seine Grübchen.

„Ich bin muggelstämmig.“

„Okay.“ Das ist nicht okay. Das ist alles andere als okay.

„Aber jetzt… jetzt können wir uns ja vielleicht auch Mal am helllichten Tag treffen.“ Mit einem bezaubernden Grinsen dreht er sich zu Andromeda um, die noch immer am Boden sitzt und mehr und mehr bestürzt wirkt. Und mit einem Mal begreift Narzissa.

„Die Heimlichtuerei… das macht ihr wegen mir, oder? Weil du glaubst, ich würde Mum und Dad direkt erzählen, dass du einen muggelstämmigen Freund hast.“ Andromeda sieht mehr als nur ein bisschen ertappt aus, doch wenigstens steht sie endlich auf. „Denkst du wirklich, ich könnte meinen Mund nicht halten, wenn du mich darum bittest?! Hältst du mich wirklich für so ein Miststück?!“

„Zissy, ich hab das doch nicht böse gemeint. Du bist nun mal keine gute Lügnerin und ich wollte dich nicht dazu zwingen, für mich zu lügen. Außerdem… ich weiß ja auch nicht, wer von den Anderen es irgendwie für nötig hält, seinen Eltern zu erzählen, dass ich mit Ted… dass ich meine Zeit mit Ted verbringe und wessen Eltern es unseren Eltern erzählen. Das Risiko ist einfach zu hoch, das verstehst du doch, oder?“

„Aber du… du hättest es mir erzählen können! Du kannst mir alles erzählen!“ Sie weiß, wie erbärmlich sie klingt und wie hoch und schief ihre Stimme ist. Ted Tonks macht verlegen einen Schritt zur Seite, als Andromeda auf sie zugeht, doch sie weicht ihrer Schwester aus. Sie will nicht umarmt werden. Sie will nicht beschwichtigt werden. Sie will die ganze Wahrheit hören, wenn es schon auf so eine hässliche Art geschehen muss. „Lucius weiß auch davon, oder?“ Andromeda nickt ganz eingeständig. „Und ihm vertraust du, dass er es niemandem erzählt? Ihm?! Du kennst ihn kaum, du kannst ihn ja nicht einmal leiden und trotzdem erzählst du ihm so was?!“

„Na ja, auch nicht freiwillig. Er hat uns erwischt. Wir waren unaufmerksam und er hat auch diesen… diesen Zauber abgezogen. Das Licht war genauso grünlich wie jetzt. Hat er dir das beigebracht oder habe ich da einfach eine Bildungslücke?“ Der Plauderton ihrer Schwester widert sie an.

„Wer weiß es noch?“

„Niemand.“ Das ist eine Lüge. Sie mag vielleicht wirklich keine gute Lügnerin sein, aber sie hat ein gutes Gehör dafür, wann sie belogen wird. „Sirius. Er und seine Freunde treiben sich spätabends oft draußen rum und sie haben so einen Spruch entdeckt, mit dem man herausfinden kann, wer sich wo im Schloss befindet. Weiß der Teufel was das für ein Zaubertrick ist, aber Sirius hat mich vor ein paar Wochen verfolgt und zur Rede gestellt. Du weißt ja, wie impertinent er sein kann. Das Jüngste Gericht in einer Person.“ Andromeda versucht erneut, sich ihr zu nähern und diesmal wehrt Narzissa sich nicht, als ihre Schwester sie in eine vorsichtige Umarmung zieht. „Es tut mir Leid, wirklich. Ich hatte Angst und ich wusste nicht, was ich sagen soll. Wie ich es sagen soll. Kannst du mir nochmal verzeihen?“

„Nur, wenn du ab sofort keine Geheimnisse mehr vor mir hast. Ich hasse Geheimnisse.“

„Ich übrigens auch.“ Über Andromedas Schultern hinweg erkennt sie Ted Tonks, der sie anstrahlt und mehr als nur ein bisschen erleichtert darüber aussieht, dass sich hier drei Regelbrecher zusammengefunden haben.

 

 

Chapter 9: Schwellenmomente

Chapter Text

9 – Schwellenmomente



Die konstante Nervosität, die Lucius in der Gegenwart ihrer Verwandten ausstrahlt, ist unterhaltsamer als die zeremonielle Trauung selbst. Und es ist schon alles andere als langweilig, Bella dabei zu beobachten, wie sie ein Brautkleid mit derselben Selbstverständlichkeit wie ihre Alltagskleider und Pyjamas trägt. Rodolphus' Stimme zittert, während er sein Ehegelübde vorträgt und überhaupt scheint dieser große Tag von jedem mehr Achtung zu erfahren als von der Braut höchstpersönlich.

Andromeda ist die Trauzeugin und Narzissa könnte schwören, dass ihre Schwester sich ebenso sehr über Bellas Leichtfertigkeit amüsiert wie sie selbst. Als die Trauung endet und sich die strengen Stuhlreihen nach und nach auflösen, verkrampft Lucius sich neben ihr so sehr, dass sie nicht länger widerstehen kann und mit ihrer Hand beruhigend seinen Nacken krault. Das Ergebnis von dieser winzigen Streicheleinheit ist hochkomisch. Lucius fährt zusammen und sieht sie schockiert an. Als hätte sie gerade irgendein essentielles Kleidungsstück abgelegt oder sich auf seinen Schoß gesetzt.

„Entspannst du dich heute nochmal?“ Lucius ist immerhin ehrlich genug, den Kopf zu schütteln. „Niemand wird auf dich achten. Heute dreht sich alles um Bella und Rodolphus. Du und ich, wir sind nur Statisten. Du kannst froh sein, wenn meine Eltern sich später noch an deinen Vornamen erinnern.“

„Es ist nett, dass du versuchst, das Ganze zu verharmlosen, aber dein Vater hat mir eben fast die Hand gebrochen und von dem Blick deiner Mutter träume ich nach der Pensionierung noch.“ Je besser sie Lucius kennt, umso mehr bemerkt sie seinen Hang zur Wehleidigkeit. Und zu Übertreibungen. „Ich will eben einen guten Eindruck bei ihnen hinterlassen. Ist denn das so verwerflich?“ Kreacher, der für die Auflösung der Stuhlreihen verantwortlich ist, bittet die ganze Reihe, sich zu erheben und sie bietet Lucius ihre Hand an, da sie schon kommen sieht, wie er an den Fingernägeln kaut, falls ihre Mutter sich erneut nähern sollte.

„Es ist natürlich nicht verwerflich, aber das Schlimmste hast du schon verpasst. Die Hochzeitsvorbereitungen, die letzten Tagen, das ist hektisch und unangenehm gewesen, aber jetzt hat doch alles reibungslos funktioniert. Schau wie glücklich alle aussehen, wie gut das Wetter ist und wie perfekt dieses Festzelt steht.“ Sie klingt schon wie ihre eigene Tante. Walburga ist in aller Herrgottsfrühe angereist, um den Garten abzuschreiten und zu überprüfen, ob das Zelt auch wirklich an den korrekten Stellen aufgebaut wurde und ob es nicht doch noch irgendwelche Verbesserungsmöglichkeiten gäbe.

In der Nähe des Champagnerbrunnens, der von Wretcha bewacht und verwaltet wird, sieht sie ihre Mutter, die mit einem seligen Lächeln an ihrem Glas nippt und tatsächlich ziemlich friedfertig wirkt.

„Lucius Malfoy – welch eine Ehre!“ Bella, das gehässige Biest, hat sich trotz pompös aufgetürmten Haaren und strahlend weißem Kleid lautlos an sie herangeschlichen und lacht darüber, dass Lucius ihre Hand schlagartig loslässt. „Ich sehe die Angst in deinen Augen.“ Bella spottet, aber das ändert nichts daran, dass sie herrlich selbstzufrieden aussieht.

„Herzlichen Glückwunsch.“ Es dauert einen Hauch zu lange, ehe Lucius sich auf diese höfliche Floskel besinnt und darüber kann Bella nur schmunzeln.

„Dir sollte man gratulieren. Ich nehme an, dir ist klar, dass du erledigt bist, wenn du Zissy in irgendeiner Hinsicht unglücklich machst und mir das zu Ohren kommt?“ Lucius nickt, obwohl Bella und Rodolphus bereits erklärt haben, dass ihr Hauptwohnsitz nach wie vor in Moskau sein wird, auch wenn sie die Flitterwochen an der französischen Mittelmeerküste verbringen wollen. Es ist also nicht so, als wäre Bella mit ihren fünf bis sieben Sinnen irgendwie in Lucius' oder ihrer Reichweite.

„Spar dir deine imposanten Ansagen lieber für Rodolphus auf.“ Bella kichert leise in sich hinein und zieht Narzissa in eine feste Umarmung. Sie ist sich ziemlich sicher, dass Bella über ihre Schulter hinweg einen durchdringenden Blick für Lucius übrig hat und sie wünschte, sie könnte es ihrer Schwester übel nehmen, aber sie kann ja nicht leugnen, dass es seinen Reiz hat, Lucius' Unsicherheit zu beobachten. „Du fehlst mir jetzt schon.“ Sie nuschelt mit Absicht ein bisschen, damit nur Bella sie hören kann. Bella drückt sie noch ein bisschen fester.

„Ich bin doch hier. Außerdem bist du in guten Händen.“

„Denkst du das wirklich?“ Abrupt lässt Bella sie los und grinst sie verschwörerisch an. „Mum und Dad haben sich bisher sehr zurückgehalten, überhaupt etwas zu sagen. Sie haben keine unangenehmen Gespräche gesucht oder irgendwelche… Verbote ausgesprochen.“

„Was sollten sie dir denn verbieten?“ Bellas Grinsen ist unverändert und Narzissa spürt, wie ihre Wangen heiß werden. Es ist kein besonders warmer Sommer und heute Morgen hat sie sich noch darum gesorgt, ob sie in ihrem Kleid nicht frieren wird. Bella kichert, streicht ihr mit der Hand über die errötete Wange und Narzissa hofft inständig, dass ihre Schwester leise spricht und sie niemand sonst verstehen kann. „Ich hab dir in deinem Nachttisch ein Geschenk hinterlassen. Nur für den Fall. Ich weiß ja, dass Zaubertränke nicht dein stärkstes Fach ist.“

Bella entschwindet und überfällt den nächsten Hochzeitsgast aus dem Nichts. Während Lucius, der sicherheitshalber auf Abstand gegangen ist, sich ihr vorsichtig nähert und ganz zaghaft einen Arm um sie legt, hofft sie, dass ihre Gesichtsfarbe sich wieder normalisiert.

„Warum gelingt es mir nie, dich dermaßen in Verlegenheit zu bringen?“ Da spricht eine ganz aufrichtige Faszination aus ihm.

„Du bist eben nicht Bellatrix Lestrange.“ Es ist das erste Mal, dass sie den Namen ihrer Schwester mit dem neuen, fremdartigen Nachnamen ausspricht und sie staunt darüber, wie richtig es klingt. „Möchtest du sitzen? Oder stehen? Oder tanzen?“

„Du fordert mich zum Tanzen auf? Mein Gott, dass ich das noch erleben darf.“ Er legt sich mit dramatischem Gestus eine Hand aufs Herz, doch ehe sie eine Chance hat, sich bockig zu geben, hat er ihre Hand genommen und führt sie zur Tanzfläche, auf der sich bereits einige entfernte Cousins und Freunde von Rodolphus mit ihren Partnerinnen im Kreis drehen. „Wie viele deiner näheren Verwandten werden sich heute eigentlich noch über mich lustig machen?“ Nie in ihrem Leben hätte sie vermutet, dass Lucius Malfoy dermaßen gelassen damit umgehen würde, dass er hier, von ihrer Familie, nicht für voll genommen wurde. War er daran von seinen eigenen Eltern gewöhnt? Sie zögerte nach seinem Vater zu fragen, denn es war offensichtlich, dass er nicht gerne über ihn sprach und sie konnte sich nicht vorstellen, dass es irgendwelche amüsanten Anekdoten gab oder zwischen den Beiden ein heiteres Miteinander stattfand, das ihr verschwiegen wurde.

„Also Sirius kann sich auf keinen Fall den ganzen Tag zusammenreißen… und mein Vater möchte bestimmt auch nochmal richtig mit dir reden, aber er ist eigentlich sehr nett. Oder zumindest höflich. Ansonsten wüsste ich niemanden, der sich heute für deine Existenz interessieren könnte.“ Außer Rabastan. Doch sie hofft ganz inständig, dass Rabastan genug Taktgefühl hat, um sie nicht zu blamieren. Auf dem Papier sind Rabastan und sie seit einigen Monaten Freunde, aber wann immer sie sich mit ihm unterhält, hat sie das Gefühl, über eine papierdünne Eisschicht zu laufen. Es kann ja unmöglich Zufall sein, dass Rabastan immer dann das Gespräch mit ihr sucht, wenn Lucius nicht in ihrer Nähe ist. Das kann unmöglich etwas Anderes als feinsinnige Berechnung sein.

„Was ist mit deiner Mutter?“ Unbedacht zuckt Narzissa mit den Schultern und lässt sich gegen seinen Oberkörper fallen. So muss sie seinem Blick nicht standhalten. So fallen sie aus dem Takt des Liedes, aber der heiteren, klassischen Musik kann sie sowieso nicht allzu viel abgewinnen, wenn sie keine einigermaßen flachen Schuhe trägt. „Du redest häufiger über deinen Vater als über sie.“

„Ist das eine Frage?“

„Es ist nur eine Beobachtung. Und ich frage mich schon länger, ob es dafür irgendeinen Grund gibt. Du musst darüber natürlich nicht sprechen… aber nur für den Fall, dass ich heute durch eine ungünstige Fügung des Schicksals mit deiner Mutter unter vier Augen reden sollte, muss ich irgendetwas wissen?“

„Ich bin nicht ihr Lieblingskind. Wir haben uns einfach nicht besonders viel zu sagen. Aber da steckt kein großes Drama hinter, wir sind einfach nur…“ Zu unterschiedlich. Das kann sie nicht sagen, denn sie erinnert sich noch lebhaft daran, dass die fehlenden Gemeinsamkeiten von Andromeda und ihr gar nichts an ihrem Verhältnis zueinander ändern. Dass sie das im Brustton der Überzeugung erklärt hat „Egal. Das bereitet mir keine Kopfschmerzen. Wir kommen miteinander aus. Sie ist eine gute Mutter.“ Lucius bringt ein wenig Abstand zwischen sie – ob aus Anstand oder damit sie seine mit akrobatischer Skepsis hochgezogenen Augenbrauen sehen kann, das vermag sie nicht zu sagen.

„Für mich musst du doch keine Lügen erzählen.“

„Sie ist okay als Mutter. Und es gibt nichts, was du wissen musst, falls sie beschließt, sich mit dir unterhalten zu wollen. Lass dich nur nicht auf eine Diskussion über den Tagespropheten ein – sie verabscheut diese Zeitung und setzt, wann immer sie den Namen Barnabas Cuffe hört, zu einer flammenden Rede an, deren Kernaussage es ist, dass wahrer journalistischer Geist nur in der Hexenwoche zu finden ist.“ Es ist mehr als ungewohnt, ihre Mutter für jemanden zu charakterisieren. Ihre Person in Worte zu fassen. Es ist Narzissa ein Rätsel, warum sie zuerst an ihre Mutter in der Rolle als Zeitungsleserin denkt. „Und würde es dir etwas ausmachen, mich nicht ganz so weit von dir wegzuschieben? Meine Arme sind nicht so lang wie deine und wenn du auf die Idee kommst, mich zu drehen, kugelst du mir höchstwahrscheinlich die Schulter aus.“ Das ist eine glatte Übertreibung. Es ist zwar wirklich ein wenig unangenehm, sich so strecken zu müssen, aber es besteht nicht die Gefahr, dass sie sich ernsthaft verletzt.

„Entschuldigung… ich erwarte nur immer noch halb, dass mir jemand auf die Finger schlägt, wenn ich dir zu nahe komme.“ Sie kann ein Kopfschütteln nicht unterdrücken. Hat er etwa die Augen geschlossen oder in die falsche Richtung gesehen, als Bella sich einen wenig zurückhaltenden Kuss anlässlich ihrer Eheschließung geholt hat?

Ganz zaghaft zieht Lucius sie ein Stück enger an sich und sie kann nicht widerstehen und drückt ihm einen kleinen, aber deutlichen Kuss auf den Mund. Belustigt beobachtet sie, wie er erstarrt. Mit einem Mal macht er den überkandidelten Eisskulpturen, die wie Schwäne geformt sind, heftige Konkurrenz.

„Allmählich glaube ich ja, du projizierst.“

„Ich tue bitte was?“

„Du projizierst. Ist dein Vater denn so streng, dass du davon ausgehst, dass es meinem Vater übel aufstoßen könnte, wenn du keine Armlänge Abstand von mir hältst?“ Das Wort hat sie neulich in einem Roman gelesen, den Andromeda ihr ausgeliehen hat und es hat sich seither als vielseitig erwiesen.

„Ich habe nie gesehen, wie meine Eltern sich küssen oder sich an den Händen halten oder etwas Derartiges. Und mein Vater hat stets betont, wie peinlich es ist, wenn sich einer von seinen Arbeitskollegen mit seiner Ehefrau bei öffentlichen Anlässen oder privaten Abendessen so vertraulich präsentiert hat. Vulgär war glaube ich das Wort, das er meistens verwendet hat. Also ja, wahrscheinlich hast du vollkommen Recht und ich projiziere.“ Es ist albern, aber sie ist immer ein bisschen stolz, wenn sie das Gefühl hat, dass er einen guten Gedanken nicht vor ihr hatte.

„Vielleicht haben deine Eltern sich auch nur so verhalten, weil sie sich nicht geliebt haben?“ Das hat sie laut ausgesprochen, bevor ihr überhaupt richtig klar wird, was sie da sagt und wie dreist und riskant eine solche Mutmaßung ist. Lucius Augen weiten sich und es ist ganz eindeutig, dass auch er das für eine steile These hält.

„Bedeutet das dann im Umkehrschluss, dass du mich liebst?“ Narzissa hat noch nicht darüber nachgedacht, wann man diese drei kriegsentscheidenden Wörter artikulieren könnte. Sie bringt den Gedanken ja kaum zustande. Und egal wie überschwänglich sie sich fühlt, die Hochzeit ihrer Schwester und ein nüchterner Magen sind sicher nicht die richtigen Rahmenbedingungen, um so eine Aussage anzubringen.

„Vielleicht.“ Sie lächelt und eine Sekunde lang hofft sie, dass er es zuerst sagt. Auch wenn es nicht der richtige Rahmen ist. Auch wenn es einen besseren Moment in naher oder ferner Zukunft geben wird. Doch er schweigt, lächelt ebenfalls und zieht sie endlich so an sich, dass sie ihre Arme um seinen Hals schlingen und dem allzu schnellen Takt der Musik entkommen kann.  

* * *



Früher oder später ist Lucius doch einige Minuten auf sich allein gestellt und als sie das Badezimmer verlässt und sich auf den Weg zurück in den Garten macht, stolpert sie beinahe über Sirius und Regulus, die in ungewohnter, brüderlicher Eintracht direkt neben der Tür wachen, die vom Wohnzimmer in den Garten führt. Irgendjemand, vermutlich Walburga, hat die beiden in identische hellblaue Hemden gesteckt, sodass sie einander ähnlicher sehen als gewöhnlich.

„Warum seid ihr hier? Solltet ihr nicht das Buffet plündern oder irgendjemandem auf die Nerven gehen?“ Eigentlich will sie sich gar nicht mit ihnen verquatschen, sondern zurück zu Lucius, den sie trotz der großen Anzahl dunkelhaariger Menschen nicht direkt ausmachen kann. Doch sie kann ja auch schlecht schweigend an ihren Cousins ersten Grades vorbeigehen.

„Das ist mein Hochzeitsgeschenk. Ich hab Bella versprochen, niemanden zu belästigen und die Aufmerksamkeit aller auf meine Person zu lenken.“ Es ist ein bisschen unheimlich, wie akkurat Sirius den Tonfall ihrer Schwester nachahmen kann. „Reggie ist ein freier Mensch.“

„Es sind so viele Leute.“ Regulus Nasenspitze leuchtet rötlich und am liebsten würde sie ihren kleinen, verschrobenen Cousin drücken. Vor ein paar Jahr haben noch alle gesagt, dass Kinder in dem Alter eben schüchtern sind und dass Sirius‘ extrovertierte Art es seinem Bruder eben schwer macht, für sich zu sprechen und aus sich herauszukommen, aber allmählich glaubt nicht nur Narzissa, dass es sich bei Regulus einfach um einen scheuen Charakter handelt. Vielleicht braucht es auch Hogwarts und die Gesellschaft von freundlichen, gleichaltrigen Personen für einen Durchbruch. Narzissa erinnert sich noch allzu gut an das Jahr, in dem sie ganz alleine mit ihren Eltern gewesen ist, weil ihre Schwestern schon in Hogwarts waren. Ohne die regelmäßige Gesellschaft von Sirius und Regulus wäre diese Zeit noch unerträglicher gewesen.

„Willst du tanzen?“ Früher haben sie und die Beiden manchmal getanzt. Wenn Walburga keine Kopfschmerzen hatte oder außer Haus war. Mechanisch schüttelt Regulus den Kopf und begutachtet seine Hemdsärmel. Sirius grinst sie an, aber er kann trotzdem nicht vor ihr verbergen, dass er sich darum sorgt, wie sichtlich unwohl sein kleiner Bruder sich fühlt.

„Willst du deinen Freund gar nicht retten? Deine Mum hat keine zehn Sekunden gebraucht, um mit einem Gläschen Champagner auf ihn zuzugehen, sobald du deiner schwachen Blase nachgegeben hast.“ Keine zehn Sekunden. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie schon hier stand und mit den Beiden sprach, aber das war auch egal, jede Minute war zu viel.

Um nicht noch mehr kostbare Zeit zu verlieren, lässt sie die beiden auf ihrem Wachposten sitzen und macht sich auf die Suche nach der auffälligen Robe ihrer Mutter und Lucius' Haarschopf. Es fühlt sich so an, als würde sie nur sehr langsam vorankommen und jeder Schritt durch die trinkenden, tanzenden, schwatzenden, schmatzenden Hochzeitsgäste ist so schwer, als würde sie durch einen kniehohen Sumpf laufen.

Schließlich entdeckt sie Lucius, der mit ihren Eltern an einem Tisch sitzt und nicht so aussieht, als wäre ein tätlicher Angriff auf ihn verübt worden. Man kann allerdings auch nicht behaupten, dass er allzu glücklich ist.

Kurz entschlossen geht sie auf den Tisch zu und legt ihre Hand auf Lucius Schulter. Er dreht sich zu ihr und lächelt sie an. „Oh, Zissy.“ Ihre Eltern tauschen einen vielsagenden Blick aus, als sie den Spitznamen hören, den eigentlich nur ihre Schwestern verwenden. Anfangs hat es sich wirklich komisch angefühlt, dass er sie so nennt, aber dieses Gefühl ist längst verschwunden und es wäre lächerlich, immer noch zu behaupten, dass er sie so nicht nennen dürfte, weil das zu persönlich ist.

„Willst du mein Zimmer sehen? Du bist ja schließlich noch nie hier gewesen und ich habe extra aufgeräumt.“ Mit der tatkräftigen Unterstützung von Wretcha und ihren Haushaltszaubern, aber das muss ja niemand wissen. Weder ihr Vater, noch ihre Mutter zetteln einen förmlichen Protest an, um Lucius am Aufstehen zu hindern – aber die fünf Minuten, die sie sicherlich hatten, reichen auch vollkommen für einen ersten Eindruck.

Entschlossen nimmt sie Lucius an der Hand und zieht ihn hinter sich her, zurück in Richtung der Terrasse, an Sirius und Regulus, die sich keinen Zentimeter bewegt haben, vorbei und durch das Wohnzimmer. Im Treppenhaus lässt sie seine Hand los, doch er verschränkt ihre Finger locker in seinen und das ist irgendwie auch nett.

„Alles okay?“

„Ja. Du hattest Recht, dein Vater ist freundlich – und deine Mutter ist auch nicht unheimlicher als du.“ Sie rümpft mit halb gespielter, halb realer Empörung die Nase. Er zieht ihre Hand zu seinem Gesicht und drückt einen vornehmen Kuss auf ihre Fingerknöchel. „Sie waren herzallerliebst und haben sich danach erkundigt, womit mein Vater sein Geld verdient, ob ich Geschwister habe und welche UTZ-Kurse ich besuche.“

„Hast du erwähnt, dass du Arithmantik noch belegst?“ Ein wenig verwirrt nickt er. „Meine Mutter hat immer davon geträumt, Arithmantik zu studieren, aber sie hat die Aufnahmeprüfung an der Magischen Universität Oxford nicht bestanden und etwas Geringeres sollte es nicht sein.“ Lucius nickt, immer noch mäßig irritiert, und sie öffnet die Tür zu ihrem Zimmer.

Als Lucius die Türschwelle überschreitet, stellt sie fest, dass – solange ihre Erinnerungen zurückreichen – noch nie jemand diesen Raum betreten hat, mit dem sie nicht verwandt ist. In Hogwarts hat sie sich mit niemandem gut genug verstanden, um eine Einladung in ihr Elternhaus auszusprechen. Sie kann sich auch nicht daran erinnern, dass ihre Schwestern jemals Freunde oder Freundinnen in den Ferien eingeladen hätten.  Wenn man mal davon absah, dass Bella vor zwei Jahren von Amy Bletchley besucht worden war, mit deren Eltern ihr Vater befreundet war, sodass die Einladung eher von ihm als von Bella ausgegangen war.

„Es ist… gemütlich. Und wirklich ordentlich. Du hast doch nicht allen Ernstes für mich geputzt?“

„Doch, selbstverständlich… mit ein bisschen Hilfe von der lieben Wretcha.“ Im Grunde genommen hatte sie nur die Unordnung aus Pergamenten, Federkielen und Schulbüchern auf ihrem Schreibtisch aufgelöst, während Wretcha den Teppichboden gesaugt, die Bettwäsche gewechselt und die Spinnweben entfernt hatte, die immer wieder zurückkehrten, egal wie gut im gesamten Haus Ordnung gehalten wurde.

Auf einmal ist sie ganz verlegen und hat das Gefühl, ihr Leben, ihr Sommerleben, für ihn auszustellen. Er steht vor ihrem Bücherregal, seine Augen fliegen über die Rücken ihrer Romane und sie hofft inständig, dass sie die zweitklassigen Werke auch in die hintere Reihe verbannt hat. Sie ist nämlich nicht unbedingt stolz darauf,  zerlesene Ausgabe von „Reich der Schatten“ und „Herzen der Finsternis“ zu besitzen. Während er ihre literarischen Abgründe inspiziert, streift sie ihre Schuhe ab, setzt sich im Schneidersitz auf ihr Bett und beobachtet ihn bei seinen Beobachtungen. Es ist eine paradoxe Situation und sie hätte nicht gedacht, dass sie sich dabei so wenig wohlfühlen würde.

„Meinst du, ich dürfte dich auch mal besuchen? Oder sehen wir uns erst im September wieder?“ Die Sommerferien waren vor knapp zwei Wochen eingeläutet worden und nach drei Tagen war der erste Brief von ihm eingetrudelt, aber freundlicher Schriftverkehr war kein Ersatz für echte Unterhaltungen.

„Ich weiß nicht, ob es so eine gute Idee wäre, wenn du zu mir nach Hause kommst… aber falls deine Eltern nichts dagegen haben, würde ich natürlich gerne wieder hierher kommen. Oder wir machen einen Ausflug? Mit Flohpulver wäre es ja kein Problem, einen Tag in London zu verbringen. Oder wo auch immer du gerne hin würdest.“ Er spricht überdurchschnittlich schnell und sie beschließt, das Thema nicht fallen zu lassen, ehe er sie darum bittet.

„Willst du nicht, dass dein Vater mich kennenlernt oder dass ich deinen Vater kennenlerne?“ Es ist nicht auszuschließen, dass Abraxas Malfoy eine schlechte Meinung von der Familie Black hat. Immer wieder scheint es Menschen, ganze Familien sogar, zu geben, die eine sehr klare und sehr negative Vorstellung von dem alten und gar vornehmen Haus der Blacks haben. „Weiß dein Vater, dass ich existiere?“

„Ja.“

„Und was genau ist dann das Problem?“

„Wenn ich ein Mädchen mit nach Hause bringe, dann wird er das sehr ernst nehmen.“

„Ach, und dir ist es nicht ernst mit mir? Habe ich dich da so gründlich missverstanden und das hier ist doch nur eine Spielerei?“ Eigentlich hat sie gar keine besondere Lust, sich aufzuregen und sie weiß irgendwie auch, dass es verschenkte Energie ist, aber mit so einem Satz kann sie ihn nicht ungestraft davonkommen lassen. Allmählich hat er ein feines Gehör dafür bekommen, wann sie ernsthaft sauer ist und wann sie einfach nur einen Punkt machen will, doch die ungewohnte Umgebung, das ungewohnte Thema, scheinen ihn zu verunsichern und er dreht sich alarmiert zu ihr um.

„Du hast es eben schon ganz richtig erkannt. Ich projiziere. Und wenn ich dich mit zu mir nach Hause nehme, dann kommt das für meinen Vater einer Verlobung gleich. Deine Familie scheint ihrem Ruf nicht gerecht zu werden und das ist toll, ehrlich, aber mein Vater ist das komplette Gegenteil von lässig. Ich bin im Winter volljährig geworden. Du hast auch nur noch zwei Jahre in Hogwarts vor dir und bist mit deinen Zaubergradprüfungen durch. Für meinen Vater bedeutet das, dass wir im heiratsfähigen Alter sind und derartige Konversationen möchte ich weder dir, noch mir selbst zumuten.“ Teils liegt es sicher daran, dass ihre Schwester heute Hochzeit feiert, doch der ganze Themenblock erscheint ihr mit einem Mal hyperpräsent. „Du hast gesagt, du wolltest immer schon mal in ein richtiges Musical gehen. Wir könnten gucken, was am Wochenende im Westend gespielt wird.“ Behutsam setzt er sich neben sie auf die Bettkante und sie ist schon froh, dass er nicht explizit um ihre Erlaubnis gebeten hat. Das wäre ihm nach so einem kleinen Sermon über den von seinem Vater verkörperten Ernst des Lebens durchaus zuzutrauen gewesen. Sie deutet mahnend auf seine Schuhe, die er widerstandslos auszieht. „Wenn meine Mutter noch am Leben wäre, würde ich dich ihr ohne zu zögern vorstellen, aber ich habe keinen Einfluss auf meinen Vater. Er hört mir kaum zu. Er wird dich sehen und es wird unvorstellbar unangenehm sein.“

„Ich hab schon verstanden, du kannst aufhören, dich zu rechtfertigen.“

„Ich wusste nicht, dass dir das so wichtig ist.“ Sie lächelt und zuckt mit den Schultern. „Ich weiß nicht, ob dir das so wichtig ist?“

„Geht so. Ich habe heute nur sehr viel von mir preisgegeben und jetzt gerade kommt es mir so vor, als wüsste ich furchtbar wenig über dich… meine Eltern wissen sogar, welche UTZ-Kurse du besuchst!“ So ganz ernst kann sie nicht bleiben und als ihr ein winziges Kichern entfährt, verdreht er die Augen, zieht sie an sich und drückt einen Kuss auf ihren Hals.

„Du kostet mich fünf Jahre meines Lebens. Mindestens.“ Der Stoff des Kleides, das ihre Mutter ihr gestern als angemessen für den Anlass präsentiert hast, ist glänzend und raschelt, als sie auf seinen Schoß klettert und sie rechnet schon halb damit, dass ihn das Rascheln daran erinnert, dass im Garten eine Hochzeitsfeier stattfindet, doch er schiebt sie nicht von sich weg. Ganz im Gegenteil. Ohne jede Zurückhaltung küsst er sie auf den Mund, wandert mit seiner einen Hand über ihren Rücken und lässt seine andere Hand lose auf dem Saum ihres Kleides liegen, der ein Stück über ihre Knie gerutscht ist.

Die Anzahl der Gelegenheiten, zu denen man in Hogwarts wirklich so etwas wie Privatsphäre hatte, waren rar gesät und aus diesem Grund konnte sie die Küsse, die nicht vorzeitig unterbrochen worden waren, an einer Hand abzählen. Es war ein wenig beängstigend zu wissen, dass sie wirklich alleine waren und niemand, abgesehen von der taktvollen Wretcha, einfach so in ihr Zimmer kommen konnte, ohne sich durch das Quietschen der Dielen im Flur zu verraten. Ihre Eltern hatten das Haus so verzaubert, dass keine unangekündigten Besucher dort landen konnten. Es war möglich, in den Garten zu apparieren oder über das Flohnetzwerk den Kamin im Salon zu betreten, doch das war auch alles.

Bislang hatten sie noch nicht einmal darüber gesprochen, was passieren würde, wenn sie ein wenig ungestörter wären, aber angesichts von Lucius' allzu offensichtlicher Prägung durch das Weltbild seines Vaters, musste sie wohl nicht befürchten, dass er sich ihr irgendwie aufdrängen würde. Obwohl sie manchmal doch den Eindruck hatte, er wusste sehr genau, was er tat, wenn er ihren Hals küsste oder überhaupt einmal für einen Augenblick seine Zurückhaltung aufgab.

Ein Kribbeln geht durch ihren ganzen Körper, als er vorsichtig ihren Mund öffnet, sie langsam von seinem Schoß schiebt und stattdessen auf das Bett legt, ohne den Kuss zu unterbrechen. Der leichte Druck, als er sich über sie beugt und doch eher neben ihr liegt, ist angenehm und sie schmiegt sich automatisch enger an ihn. Ihr Kleid raschelt verräterisch, als sie ihr Bein so legt, dass ihr Fuß seine Wade streift.

Ihr wäre gar nicht aufgefallen, dass er trotz allem absichtlich einen gewissen Abstand zu ihr hielt, wenn sie nicht näher zu ihm gerutscht wäre, um die Lücke zwischen ihren Körpern zu schließen, die ihr unangenehm und leer vorkam. Abrupt wich er von ihr zurück und sie kam sich ein wenig blöd vor, wie sie da lag und sich mit einem Arm abstützen musste, um sich einigermaßen aufrichten und ihm in die Augen sehen zu können.

„Das war zu nah.“

„Das habe ich nicht so empfunden.“ Sie sieht ihn herausfordernd an und versucht krampfhaft, sich nicht die Frage zu stellen, was sie falsch gemacht hat. Sie hat nämlich nichts falsch gemacht. Da ist sie sich ziemlich sicher. „Was ist denn auf einmal?“

„Nichts, nichts, ich… das ist nur ein bisschen viel gewesen. Du bist… überwältigend.“

„Wenn du das so sagst, dann hat das einen ganz negativen Unterton.“ Das Einzige, was sie überwältigt, ist ihre eigene Sehnsucht danach, ihn wieder zu küssen und ihm nahe zu sein. Die Lücke zwischen ihnen ist ihr schmerzlich bewusst und sie streckt vorsichtig ihre Hand aus und legt sie auf seiner Brust ab. „Möchtest du wieder nach draußen gehen? Mein Zimmer hast du ja jetzt gesehen.“

„Nein, ich… du hast ja keine Ahnung, was mir das hier bedeutet. Was du mir bedeutest.“ Er beugt sich zu ihr und drückt ihr einen sanften Kuss auf den Mund, der sich irgendwie nach einer Beschwichtigung anfühlt. Da gibt es noch ein Aber, das ihm auf der Zunge liegt. Ein Aber, das sie eigentlich gar nicht so unbedingt hören möchte. Und weil sie es wirklich nicht hören möchte, rutscht sie zu ihm herüber, drückt sich an ihn und vergräbt ihre Zähne in seinem Hals. Er zuckt zusammen und scheint mit sich zu ringen, ob er sie nicht doch von sich stoßen soll, als sie auf einmal bemerkt, wie etwas Hartes gegen ihre Hüfte drückt. Sie stutzt und braucht ein wenig zu lange, um zu begreifen, was da gerade passiert ist. Ihr Gesicht ist dem von Lucius so nah, dass sie spüren kann, wie sich die Wärme auf seinen Wangen ausbreitet. „Tut mir leid, ich kann das nicht kontrollieren… ich wollte nicht, dass du das falsch verstehst.“ Es ist eine halbe Ewigkeit her, dass er sich für sie so um Kopf und Kragen geredet hat. „Also das heißt ja nicht, dass ich mit dir schlafen will. Also nicht jetzt, ich… sag bitte irgendwas. Oder steh auf und lass uns einfach nie wieder davon sprechen.“

„Ich will aber nicht aufstehen. Und es ist in Ordnung. Es stört mich nicht. Ich will jetzt auch nicht mit dir schlafen, aber es stört mich nicht, wenn es dich nicht stört.“ Sie kuschelt sich an ihn, aber sie verzichtet darauf, ihn zu küssen, sondern lässt ihre Hand einfach so liegen, dass sie mit ihren Fingerspitzen über den obersten Knopf seines Hemdes streicheln kann. Sie kann hören, beinahe sogar fühlen, wie schnell sein Herz schlägt. „Es ist wirklich okay.“

„Ich hab mir so oft vorgestellt, wie unangenehm dieser Moment sein würde. Ich hab schon vor mir gesehen, wie du mich wüst beschimpfst und zur Hölle schickst.“

„Manchmal machst du dir wirklich blöde Gedanken, weißt du das?“

„Ja. Ich weiß.“ Er drückt einen Kuss auf ihren Scheitel. „Vielleicht können wir einfach eine Weile so liegen bleiben? Einfach nur so?“

„Bis ich weniger überwältigend bin?“ Sein Oberkörper bebt unter ihr vor Lachen und sie weiß genau, was er als Nächstes sagen wird.

„Du wirst niemals nicht absolut überwältigend sein.“

Chapter 10: Der Vollständigkeit halber

Chapter Text

10 – Der Vollständigkeit halber



Seit dem Ende des Sommers hat sie den nächsten Sommer gefürchtet und nun weiß sie nicht, wo das Jahr geblieben ist. In genau einer Woche wird sie am Bahnhof King’s Cross ankommen. In genau sieben Wochen wird sie nach Hogwarts zurückkehren. Allein. Ohne Lucius und ohne Andromeda. Die Vorstellung ist dermaßen beängstigend, dass sie sich in eine Klette verwandelt hat. Sie weiß, dass sie ihrer Schwester damit auf die Nerven fällt und seitdem Andromeda vorgestern artikuliert hat, dass sie vor dem Sommer gerne noch ein wenig Zeit für sich hätte, hat sie versucht, sich zusammenzureißen. Natürlich könnte sie ihre Zeit auch mit Samara oder Diana verbringen, die sie mittlerweile vorsichtig als gute Freundinnen bezeichnen würde, aber in der Zeit vor und während der Prüfungen haben ihre Zimmergenossinnen und sie sich aneinander satt gesehen.

Sie weiß, dass die Welt im September nicht untergehen wird, aber es fällt ihr trotzdem schwer, sich darauf zu freuen, dass die Sommerferien und ihr Abschlussjahr bevorstehen. Im letzten Sommer hat Lucius ihr bewiesen, dass er ein zuverlässiger, konsequenter Briefeschreiber ist – und sie haben es immerhin geschafft, sich nach Bellatrix' Hochzeit noch ein Dutzend Mal zu sehen. Ihr Vater hat sogar irgendwann eine Bemerkung darüber fallen lassen, ob sie Lucius verhext hätte, weil er immer so pünktlich war und sie nie versetzte.  Trotzdem waren die Erinnerungen an lange, langweilige Nachmittage, die sie lesend im Garten oder allein in ihrem Zimmer verbracht hatte, noch sehr eindrücklich. Die Stadtbummel mit ihrer Schwester oder die müden Versuche, miteinander ins Gespräch zu kommen oder Karten zu spielen, waren vergessenswert und irgendwie anstrengend gewesen. Wenn ihr vor drei Jahren jemand erzählt hätte, dass sie die Gegenwart von Lucius Malfoy einem gemütlichen Abend mit ihrer Schwester vorziehen würde, dann hätte sie ungläubig gelacht  - und geweint.

Die UTZ-Prüfungen haben schon Ende Mai stattgefunden und dementsprechend ist Lucius an das Übermaß freier Zeit bereits gewöhnt. Er hat ihr, trotz blendendem Wetter, an den Nachmittagen in der Bibliothek Gesellschaft geleistet und sich durch irgendwelche langweiligen, politischen Hochglanzzeitschriften und historischen Wälzer gearbeitet. Bisher hat sie nicht so genau darauf geachtet, was für eine Lektüre er da eigentlich durchgeht, aber jetzt, wo ihre eigenen Prüfungen bereits verblasst und Vergangenheit sind, da beginnt sie, auf die Titel und Bücherrückseiten zu achten und sich zu fragen, ob sie ihn doch so schlecht kennt.

Der Himmel ist blau, die Wolken sind weiß und weich wie das Fell von Lämmern und halb Hogwarts hat sich über die Ländereien um den Schwarzen See verteilt. Sie sitzt auf ihrer Jacke und blättert gelangweilt durch eine alte Ausgabe der „Hexenwoche“, die sie von Samaras Nachttisch geklaut hat. Eigentlich hat sie keine Lust, zu lesen, doch Lucius ist so vertieft in seinem Buch, dass sie es nicht wagt, ihn zu unterbrechen. Die Zurückweisung durch Andromeda steckt ihr noch in den Knochen und sie will ihm ja nicht auf die Nerven gehen.

„Du starrst mich an.“ Sie sieht ihn an, doch sein Mund ist geschlossen und seine Augen wandern immer noch konzentriert von Zeile zu Zeile. Fängt es so an mit dem Irrsinn? Hört sie jetzt schon Stimmen? Bildet sie sich ein, dass er mit ihr spricht, weil sie es sich wünscht? Sie atmet erleichtert aus, als er einen Finger auf die Seite legt und das Buch zuklappt. „Was ist los? Ist dir langweilig?“

„Vielleicht.“

„Vielleicht?“ Seine Augenbrauen sind in Richtung seines Haaransatzes gewandert. „Man muss doch wissen, ob man sich langweilt oder ob man sich nicht langweilt?“

„Ich glaube, ich langweile mich. Aber nächstes Jahr würde ich wahrscheinlich töten, um mich mit dir zusammen langweilen zu können.“ Sie weiß, dass sie schmollt und sie geht sich selbst auf den Geist. Sie hätte sogar Verständnis dafür, wenn er allmählich die Geduld verlieren würde, aber er nimmt nur ihre Hand und drückt sie aufmunternd. „Tut mir leid, ich bin schrecklich. Ich kann nur nicht aufhören, an den Herbst zu denken.“

„Wenn ich dir jetzt sage, lebe den Moment, reißt du mir den Kopf ab, oder?“ Sie nickt stumm. „Soll ich dir vorlesen? Vielleicht interessiert es dich ja?“ Skeptisch betrachtet sie das schmucklose, angestaubte Buch, das so aussieht, als könnte es auch bei ihrem Onkel in der Bibliothek stehen.

„Worum geht es denn?“ Sie hatte versucht, den Titel zu erkennen, doch der Einband war unbeschriftet. Sie hatte lediglich eine römische Zwei entdecken können, also ging sie davon aus, dass er sich durch irgendeine Reihe las.

„Die Geschichte des Zaubereiministeriums.“ Unwillkürlich stöhnte sie auf. Sein Interesse für Zaubereigeschichte hatte sie anfangs nicht ganz ernst genommen, denn den Unterricht von Professor Binns konnte man schlichtweg nicht ernst nehmen. Ihr wollte kein einziger Zauberer einfallen, den sie langweiliger fand als den alten, langsamen Professor, dessen schlurfende Schritte man irgendwann auf jedem Korridor zu hören glaubte, auch wenn er gar nicht da war. Sicherlich, eigentlich war Zaubereigeschichte spannend – zumindest gab es spannende Episoden -, doch es ging Professor Binns vollkommen ab, diese potenzielle Spannung zu vermitteln. Es war ihr ein Rätsel, wie er Lucius erreicht und begeistert hatte. „Es ist wirklich interessant. Wusstest du, dass sowohl Vorfahren der Lestranges, der Boots, der Diggorys, der Flints und der Fawleys irgendwann mal Zaubereiminister waren? Und die Einflüsse der Muggelgeschichte auf unsere Geschichtsschreibung sind hochspannend. Die Französische Revolution zum Beispiel, die hat 1789 Porteus Knatchbull den Posten gekostet! Er hat damals versucht, den englischen König vor dem Verfall seiner geistigen Kräfte mit Magie zu heilen und dabei völlig übersehen, wie in Frankreich das Ende der Monarchie von einem Haufen wilder Muggel besiegelt wird. Es ist doch überhaupt interessant, wie die britischen Muggel versucht haben, das monarchische System des Mittelalters zu erhalten, während die Zauberwelt sich bereits seit 1707 demokratisch organisiert hat!“

„Okay, jetzt bin ich mir sicher, mir ist definitiv langweilig.“

„Eine Banausin bist du. Und bildungsscheu.“

„Bildungsscheu, das Wort hast du dir doch gerade einfach nur ausgedacht!“

„Ja, und? Was ist daran so schlimm?“

„Man kann sich nicht einfach Wörter ausdenken.“

„Was denkst du, wie die englische Sprache entstanden ist?“ Da mag er einen Punkt haben, aber sie kann es gar nicht leiden, wenn er ihr mangelnde Kreativität – oder überhaupt einen Mangel an irgendeiner geistigen Fähigkeit – unterstellt. Ehe ihr eine gute Erwiderung einfällt, bemerkt sie Professor Slughorn, der auf sie zukommt. Den rundlichen Professor im strahlenden Sonnenschein und mit hochgekrempelten Hemdsärmeln so schnurgerade auf sie zugehen zu sehen, ist ein ungewohnter Anblick und sie klinkt sich gedanklich schon aus, weil das höchstwahrscheinlich eine Unterredung wird, bei der sie sich weder einbringen kann noch will.

„Miss Black!“ Japsend kommt der Professor neben ihnen zum Halt und sie steht hastig auf, um nicht wie ein erwartungsvolles Kind am Boden zu sitzen. „Wann haben Sie zuletzt mit Ihrer Schwester gesprochen?“

„Vorgestern.“ Seit Andromeda sie hat wissen lassen, dass sie ihre Ruhe haben will, hat sie darauf verzichtet, bei den Mahlzeiten auch nur in der Nähe ihrer Schwester zu sitzen.

„Oh… und seitdem haben Sie Ihre Schwester nicht gesehen?“

„Doch, gesehen schon. Beim Frühstück.“ Nun, wo sie darüber nachdachte, war sie sich gar nicht mehr allzu sicher, ob sie Andromeda an diesem Morgen wirklich gesehen hatte. Sie hatte mit Lucius und seinem Zimmergenossen Benedict Merryweather zusammen gesessen und Benedict, der sich in den letzten Monate an sie gewöhnt zu haben schien, hatte eine sehr unterhaltsame Anekdote über seine Cousine erzählt, die hauptberuflich fleischfressende Pflanzen züchtete. „Ich bin mir nicht ganz sicher. Aber beim Abendessen war sie auf jeden Fall.“ Daran erinnerte sie sich in aller Deutlichkeit, weil Andromeda zum ersten Mal nicht am Slytherintisch gegessen, sondern sich zu Ted Tonks an das äußerste Ende des Tischs der Hufflepuffs gesetzt hatte. „Haben Sie Ted schon gefragt? Er weiß bestimmt, wo sie ist.“

„Ted?“

„Edward. Edward Tonks. Er ist ein Hufflepuff.“ Und muggelstämmig, aber das musste sie ja nicht zwanghaft jedes Mal sagen oder denken, wenn die Sprache auf Ted Tonks kam. Das Thema war zwischen Lucius und ihr kein Thema, denn sie wusste immer noch nicht, wie sie es finden sollte, dass er vor ihr von der Beziehung ihrer Schwester gewusst hatte. „Ich kann Andromeda auch etwas ausrichten, wenn ich sie das nächste Mal sehe, Professor.“ Das Angebot war das Mindeste, was sie tun konnte. Sie verbot es sich, Lucius einen verzweifelten Blick zuzuwerfen. Er war ebenfalls aufgestanden, doch er sagte kein Wort.

„Das wird nicht nötig sein, Miss Black. Doch wenn Sie auch nicht wissen, wo Ihre Schwester sich aufhält, dann müssen wir derzeitig davon ausgehen, dass Sie das Schulgelände ohne Erlaubnis verlassen hat. Heute Morgen ist einer Schülerin in ihrem Schlafsaal aufgefallen, dass der Koffer von Andromeda verschwunden ist und all ihre persönlichen Gegenstände mitgenommen wurden. Seither versuche ich, sie zu finden, doch meine Aufspürzauber innerhalb des Schlosses haben zu keinem Ergebnis geführt. Wüssten Sie vielleicht einen Grund, warum Ihre Schwester Hogwarts so kurz vor dem Ende des Schuljahres verlassen sollte? Die Zeugnisvergabe steht ja nicht mehr aus, aber es ist doch sehr unüblich, das Siebtklässler sich noch vor der Abschlussfeier selbstständig entlassen. Gab es in Ihrer Familie einen Notfall oder dergleichen?“ Mechanisch schüttelt Narzissa den Kopf, doch ihr schwant Übles. Horace Slughorn seufzt entmutigt. „Falls Sie Andromeda sehen, dann richten Sie ihr aus, dass sie keinen Ärger von mir zu erwarten hat, schließlich ist sie volljährig und alles, aber es ist doch nicht die feine, englische Art, sich still und heimlich aus dem Staub zu machen und mir solche Rätsel aufzugeben!“

„Das werde ich tun, aber vielleicht fragen Sie wirklich noch einmal Edward.“ Professor Slughorn winkt ab, als hätte er bereits alle Hoffnung fahren lassen und marschiert, ohne Lucius auch nur eines Blickes zu würdigen, zurück in Richtung des Schlosses.

„So bockig habe ich ihn noch nie erlebt.“ Lucius wartet, bis der Professor außer Hörweite ist. „Aber wahrscheinlich sind seine Hauslehrerpflichten ihm sonst auch nicht so lästig und versauen ihm seinen Sonntag.“

„Ja, wahrscheinlich ist das eine Ausnahme.“ Und Ausnahmen begegnete man in Hogwarts mit Widerwillen, wenn es denn keine außergewöhnlichen Begabungen waren. Oder wenn Slughorn entschied, dass er eine Ausnahme machen wollte.

„Meinst du, sie ist wirklich verschwunden?“ Narzissa versuchte, sich den genauen Wortlaut von dem letzten Gespräch zwischen Andromeda und ihr in Erinnerung zu rufen, doch bei aller Konzentration, es gelang ihr nicht. Lass mir vor dem Sommer noch ein wenig Zeit für mich? Ich brauche vor dem Sommer noch ein bisschen Zeit? Es wollte ihr einfach nicht mit absoluter Sicherheit einfallen. Verabschiedete man sich so von seiner kleinen Schwester? Wenn Andromeda wirklich weg sein sollte – und davon ging sie aus, denn bei aller Subjektivität, Slughorns Aufspürzauber würden nicht mittelmäßig sein – dann würde sie sicher nicht zuhause auf Narzissa warten.

„Es wäre möglich… wenn Ted auch weg ist. Ich wüsste nicht, wohin sie alleine gehen sollte.“

„Möchtest du nach ihm suchen?“

„Nein. Lies mir lieber etwas vor. Ich glaube, ich möchte mich noch ein bisschen langweilen, ehe der Sommer anfängt.“

* * *



Die Laune ihrer Mutter war unterirdisch, aber damit konnte sie umgehen. Mit dem glühenden Zorn ihres Vaters hatte sie hingegen nicht gerechnet und dementsprechend wenig wusste sie damit anzufangen. Schon am Bahnhof war es ihr merkwürdig vorgekommen, dass ihre Eltern kaum ein Wort sprachen, ihren Koffer nahmen und so eilig mit ihr apparierten, dass sie Lucius nur müde zuwinken konnte. Sie hatten sich schon im Zug verabschiedet und er hatte ihr versprochen, dass er ihr am nächsten Tag einen Brief schreiben würde, wenn er wusste, ob sein Vater irgendwelche Pläne für den Sommer gemacht hatte, die ihn miteinbezogen. Lucius ging nicht davon aus, dass das der Fall sein würde, doch er war zu gut erzogen, um nicht erst mit seinem Vater darüber zu sprechen, ehe er irgendwelche Verabredungen traf. Daran, dass ihre Eltern keine Pläne für sie gemacht hatten, gab es eigentlich keinen Zweifel, doch nun zweifelte Narzissa ganz mächtig.

Beim Abendessen sprach ihr Vater dann endlich in ganzen Sätzen. Während ihre Mutter in die Küche ging, um Wretcha anzutreiben, forderte ihr Vater sie auf, sich direkt an den Esstisch zu setzen. Er nahm gleich neben ihr Platz und legte einen Briefumschlag auf den Tisch, auf dem in einer ihr sehr vertrauten Handschrift Mum & Dad stand.

„Deine Schwester hat uns einen Brief geschrieben. Du darfst ihn gerne lesen, obwohl ich nicht sicher bin, ob er für dich auch irgendwelche Neuigkeiten enthält. Offenbar hat deine Schwester seit geraumer Zeit einen Freund.“ Die Augen ihres Vaters verengen sich zu schmalen Schlitzen und die Anklage ist eindeutig. „Hast du davon gewusst?“

„Ja.“

„Und du hast es nicht für nötig gehalten, uns darüber zu informieren, dass deine Schwester unserer gesamten Familie schadet? Sie hat sich mit dem Kind von Muggeln eingelassen. Dafür gibt es viel hässlichere Wörter, aber das sind die Fakten. Hat sie dir verschwiegen, dass die Eltern ihres Freundes Muggel sind?“

„Nein.“

„Dann hast du uns auch belogen.“

„Ihr habt mich nicht gefragt! Und es ist doch nicht mein Leben.“ Ihr Vater presst die Lippen aufeinander. Seine Hände sind zu Fäusten geballt und sie rechnet jede Sekunde damit, dass er ihr eine Ohrfeige verpasst, doch es geschieht nichts. „Was hätte ich tun sollen? Sie ist meine große Schwester – und ihr habt uns nicht zum Petzen erzogen.“

„Aber auch nicht zur Geheimniskrämerei oder zum Blutsverrat!“ Dieses Wort aus dem Mund ihres Vaters zu hören, ist fürchterlich. Am liebsten würde sie auf der Stelle anfangen zu heulen und sich dafür zu entschuldigen, dass sie ihn so enttäuscht und hintergangen hat, aber wusste sie nicht die ganze Zeit, dass sie es ihren Eltern hätte sagen sollen? Und hatte sie es nicht doch mit Absicht verschwiegen, weil sie nicht wollte, dass Andromeda sie hasste? Wäre das nicht die viel schlimmere Situation? „Hier. Lies. Vielleicht begreifst du dann die Ausmaße deines Handelns.“

Mit zitternden Händen öffnet sie den Briefumschlag und liest die kleinen, verschmierten Buchstaben, die mit schwarzer Tinte geschrieben wurden.


Lieber Vater, liebe Mutter,

ich weiß, dass ihr vermutlich sehr wütend auf mich sein werdet, sobald ihr diesen Brief gelesen habt und deswegen sage ich gleich zu Anfang, dass ich euch liebe und es nichts mit euch zu tun hat. Ich werde nicht nach Hause kommen. Wenn ihr morgen – oder übermorgen – in King’s Cross auf mich wartet, dann werde ich nicht da sein. Ich kann euch leider nicht sagen, wo ich bin, weil ich weiß, dass ihr dann versuchen würdet, mich von meiner Entscheidung abzubringen.

Ich habe euch immer gerne von Hogwarts erzählt, doch ich habe euch auch stets eine Sache verschwiegen, einen Menschen. Sein Name ist Ted. Seinen Nachnamen möchte ich lieber nicht nennen und ich hoffe, dass ihr Narzissa nicht zwingen werdet, ihn preiszugeben, sondern mein Schweigen in diesem Punkt hinnehmen könnt. Ted und ich sind ein Paar. Wir werden zusammen in einem kleinen Haus leben, das seiner Familie gehört und glücklich miteinander sein. Im Herbst wollen wir heiraten, denn ich erwarte ein Kind und ich möchte vorher noch Teds Ehefrau sein. Das sind viele Neuigkeiten auf einmal und vielleicht freut ihr euch ein bisschen, aber vermutlich haltet ihr den Atem an und wartet auf den Grund dafür, dass ich euch Ted nicht längst vorgestellt habe. Wahrscheinlich ahnt ihr es aber auch schon: Ted ist muggelstämmig. Ich weiß, dass es für euch unmöglich wäre, ihn in unsere Familie aufzunehmen und deswegen habe ich für mich eine Entscheidung getroffen. Ted ist meine Familie, das Baby ist meine Familie – und falls ihr euch auf wundersame Weise dazu entschließen solltet, über Teds Abstammung hinwegsehen zu können, dann würde ich mich freuen, von euch zu hören. In diesem Fall bittet Narzissa, mir einen Brief zu schreiben. Ihr soll es möglich sein, mich mit einer Eule zu erreichen, gegen euch und Bella und den Rest der Familie werde ich Zauberbanne aussprechen, die Gründe dafür bedürfen wohl keiner zusätzlichen Erklärung.

Ich wünschte, ich hätte in den letzten Jahren irgendein Zeichen dafür entdecken können, dass es in Ordnung wäre, dass ich Ted liebe, aber ich muss befürchten, dass er oder mein Baby in Gefahr wären, wenn ich nach Hause zurückkehren würde. Ich hoffe, es geht euch gut und ihr könnt meine Entscheidung respektieren. Dieser Brief soll weder eine Anschuldigung, noch eine Entschuldigung sein, sondern lediglich eine Erklärung.

Herzlichst,
Eure Andromeda

PS: Anbei eine Kopie meines UTZ-Zeugnis. Der Vollständigkeit halber.



„Und, was hast du dazu zu sagen?“

„Ich habe gar nichts dazu zu sagen.“ Ihre Mutter kommt aus der Küche, hört ihre Antwort und lässt einen Teller Suppe mit einem Knallen vor ihr auf dem Tisch landen. Den Löffel bringt ihr Wretcha, die noch gepeinigter als üblich wirkt.

„Du wirst Verständnis dafür haben, dass du dieses Haus nicht mehr verlässt, ohne uns darüber zu informieren, mit wem du dich triffst, wo du bist und wann du zurückkommst. Dein Zauberstab wird von deinem Vater verwahrt werden, bis du nach Hogwarts zurück musst.“ Ihre Mutter wirkt ungehalten, doch man merkt ihr an, dass sie sich diese Worte, diese Regeln, sorgsam zurechtgelegt hat, um keinen unkoordinierten, hysterischen Wutausbruch abzuliefern.

„Wir würden es allerdings bevorzugen, wenn Lucius hierherkommt und du dich nicht mit ihm wer weiß wo herumtreibst.“ Ihr Vater hebt die Augenbrauen und schenkt ihr ein grimmiges Lächeln. „Oder ist das mit Lucius passé und du hast dir auch einen muggelstämmigen Liebhaber gesucht?“

„Natürlich nicht.“ Sie nimmt den Löffel in die Hand und verbrennt sich direkt beim ersten Schluck die Zunge, aber das wird sie sich nicht anmerken lassen. Und wenn sie ihr schweigend und vorwurfsvoll beim Essen zuschauen wollen, dann sollten sie doch. „Habt ihr Bella auch so ins Verhör genommen?“

„Bellatrix ist nicht diejenige, der Andromeda weiterhin gestatten möchte, Post von ihr zu erhalten! Deine Schwester hat offenbar beschlossen, sämtliche Brücken abzubrechen und dabei nur dich zu einer Ausnahme erklärt. Daraus schließt der gesunde Menschenverstand, dass sie sich von dir eine gewisse Loyalität verspricht, die sie von Bellatrix nicht erwarten kann.“

„Ihr wollt sie doch sowieso nicht erreichen…oder?“

„Wenn sie meint, sie möchte ein Wechselbalg zur Welt bringen und ihr ganzes Leben wegwerfen, um irgendeinen Schlammblüter zu betüddeln, dann soll sie das tun. Wir haben ihr ja bloß alle Möglichkeiten gegeben, die sich eine Hexe nur wünschen kann! Weißt du, wie dankbar ich dafür gewesen wäre, wenn ich jetzt in eurem Alter wäre?“ Ihre Mutter gestikuliert wild und Narzissa kann nicht aufhören, sich daran zu erinnern, dass Andromeda immer so offensichtlich ihr Lieblingskind gewesen ist. Ihre kluge Tochter, ihre ruhige, gehorsame Tochter. Nicht so ungestüm wie Bella – und nicht so… ja, was auch immer sie so genau an sich hatte, was ihrer Mutter immer wieder übel aufstieß.

„Vielleicht ist sie ja glücklich. Vielleicht will sie ja genau das aus ihrem Leben machen? Außerdem kann sie ja immer noch studieren, auch wenn sie ein Kind hat. Oder würdest du auch sagen, dass Bella ihr Leben wegwirft, wenn sie jetzt schwanger wäre? Es dauert auch noch Jahre, bis sie ihr Studium vernünftig abgeschlossen hat und trotzdem hast du dich gefreut, dass sie geheiratet hat! Wo ist denn da der Unterschied?“

Mit dramatischem Gestus drückt ihre Mutter sich die Hände gegen die Schläfen. „Geh mir aus den Augen. Ich kann dich jetzt nicht länger ertragen. Wretcha bringt dir das Essen auf dein Zimmer. Wir sprechen morgen noch einmal über die Regeln.“

Ihr Vater hat nichts hinzuzufügen und sie wünscht sich seine stoischen Fragen und seine geballten Fäuste fast zurück, wenn die Stimme ihrer Mutter dafür ein bisschen weniger schrill wäre. Sie geht hoch in ihr Zimmer und beschließt, dass heute ein guter Abend ist, um einmal den ersten Schritt machen, Lucius zuvorzukommen und ihm einen Brief zu schreiben, ehe ihre Eltern auf die Idee kommen, dass sie ja eigentlich auch ihre Post kontrollieren müssen, wenn sie hermetisch abgeriegelt von der echten Welt, in die Andromeda entschwunden ist, leben soll.

Chapter 11: Turm

Chapter Text

II – A Game Of Chess

 

The chemist said it would be all right, but I’ve never been the same.
You are a proper fool, I said.
Well, if Albert won’t leave you alone, there it is, I said,
What you get married for if you don’t want children?
HURRY UP PLEASE ITS TIME

 

11 – Turm

 

27. Juli 1974



Ihr war so schlecht, sie glaubte, sich jederzeit übergeben zu können. Tapfer stand sie vor dem Spiegel und überpinselte ihre gespenstische Blässe mit Puder und Rouge. Ihre Eltern sollten nicht merken, wie aufgeregt sie war und welche Albträume ihr die bloße Vorstellung von diesem Nachmittag beschert hatte. Nachdem sie sich einen Sommer lang an die neuen Spielregeln gehalten und dann ein Jahr beinahe vor Sehnsucht nach Lucius gestorben wäre, war nun eine gewisse Schmerzgrenze erreicht. Das Ende einer Ära.

Als sie aus dem kleinen, trüben Fenster des Badezimmers sah, konnte sie beobachten, wie Lucius am Ende des Gartens erschien und auch ein wenig bleich wirkte. Gestern hatten sie sich zum ersten Mal seit den Weihnachtsferien wieder gesehen und es war keine Frage gewesen, dass sich etwas ändern musste. Jetzt und sofort. Ihren Eltern hatte sie trotzdem erst beim Mittagessen verkündet, dass Lucius vorbeikommen würde und sie gemeinsam mit ihnen sprechen wollten.

Als sie hinunter in den Salon ging, waren die Mienen ihrer Eltern genauso undurchdringlich wie in der Mittagsstunde und sie bildete sich ein, dass ihre Mutter ein wenig zu genau auf ihren Bauch guckte. Es war lächerlich, allzu lächerlich – und es zeigte nur, wie sehr es ihre Mutter schmerzte, dass sie nur darüber mutmaßen konnte, ein erstes Enkelkind zu haben. Selbst wenn Narzissa Genaueres über das Leben ihrer Schwester gewusst hätte, so hätte sie es ihrer Mutter aus purer Bosheit verschwiegen.

Es läutete an der Tür und ihr Vater, der bei Bedarf ein kühler, aber brillanter Stratege sein konnte, erhob sich und verwies sie auf das Sofa. „Ich werde selbst gehen. Ich muss mir den Jungen nochmal aus der Nähe anschauen.“

Kotzen. Sie könnte kotzen. Auf Knopfdruck. Kotzen, das war kein schönes Wort, aber es war auch keine schöne Situation. Am liebsten hätte sie sich auf ihre Hände gesetzt, doch das würde ihrer Mutter nur verraten, wie angespannt sie war – und da hätte sie sich das sorgsam aufgetragene Puder dann auch sparen können.

Als Lucius zusammen mit ihrem Vater den Salon betrat, stellte sie erleichtert fest, dass ihr Vater nicht so aussah, als würde er ein Hinrichtungskommando leiten. In einem gebührlichen Abstand nahm Lucius auf dem Sofa neben ihr Platz. Er lächelte ihr zu und das beruhigte sie schon ein wenig, aber sie wünschte, er würde wenigstens ihre Hand halten.

„Also? Was hat es mit diesem Theater auf sich? Ich habe einen Stapel Akten auf meinem Schreibtisch und ich wäre froh, vor dem Tee noch etwas zu schaffen.“ Ihr Vater legte die Arme demonstrativ entspannt auf den Lehnen seines Sessels ab.

„Ich möchte mich mit meinem UTZ in Zauberkunst an der Magischen Universität Oxford und der Hochschule für Praktische Hexerei zu Cambridge bewerben. Außerdem möchten Lucius und ich so bald wie möglich zusammenziehen. Vielleicht erinnert ihr euch, dass Lucius an Weihnachten von der geräumigen Wohnung in London erzählt hat, die seinem Vater gehört.“ Vielleicht sieht sie Gespenster, doch sie meint ihren Vater aufatmen zu hören.

„Seid ihr verlobt?“ Mit dieser Frage hat sie gerechnet und doch hat sie es nicht geschafft, sich auszumalen, was sie in diesem Moment sagen oder tun würde. Aber anscheinend muss sie auch gar nichts tun, denn die Augen ihres Vaters fixieren Lucius. Als sie sieht, wie er nickt, fallen ihr fast die Augen aus dem Kopf. „Und was sagt dein Vater dazu?“

„Er ist froh, wenn er die Wohnung nicht an einen Fremden vermieten muss. Es gibt einen Kamin, der an das Flohnetzwerk angeschlossen ist, sodass das Ministerium und jede mögliche Universität sicher zu erreichen sind.“

„Bezahlst du deinem Vater Miete?“

„Es handelt sich eher um einen symbolischen Betrag als um eine tatsächliche Miete. Im zweiten Lehrjahr werde ich mehr verdienen, aber es würde nicht für eine derartige Summe ausreichen.“ Sie kann nicht anders und greift nach Lucius' Hand. Er zieht sie nicht zurück, obwohl sie weiß, dass es ihm ausgesprochen unangenehm ist, sie vor seinen Eltern zu berühren. Ob es an der Geste liegt oder ob ihr Vater mit Lucius fertig ist, weiß sie nicht, doch er wendet sich ihr zu, langsam und bedächtig nickend.

„Wenn das dein Wunsch ist, dann werde ich mich dem nicht in den Weg stellen. Allerdings würde ich die Wohnung gerne mit eigenen Augen sehen… und es wäre nur vernünftig, wenn wir deinen Vater kennenlernen würden, Lucius. Wir sollten einmal alle miteinander zu Abend essen.“ Der Kopf ihres Vaters dreht sich noch ein Stück weiter zu ihrer Mutter, die bisher kein Wort gesagt hat. „Druella?“

„Ihr seid volljährig und auch, wenn es mir natürlich lieber wäre, wenn du noch eine Weile bei uns bleiben würdest, bin ich natürlich sehr froh, dass du dir so sicher bist, was du willst. Eine Bewerbung an einem kleineren College wäre allerdings vernünftig, auch wenn dein Zeugnis so gut ausgefallen ist. Eine gelungene UTZ-Prüfung macht ja noch kein Studium an zwei der renommiertesten Universitäten unseres Landes.“ Noch viel deutlicher hätte ihre Mutter nicht sagen können, dass sie ein Ohnegleichen in Zauberkunst für nichts als pures Glück und ihre jüngste Tochter für einen beschränkten Geist hielt. „Eine Einladung für Abraxas Malfoy halte ich ebenfalls für überfällig.“ Und noch klarer hätte sie nicht ausdrücken können, dass sie Lucius für eine Laune von ihr gehalten hatte. Sie hielt die Luft an und hoffte, dass ihre Mutter so bald wie möglich den Mund schloss, aber nein, sie lächelte und sie lächelte für Lucius. „Hat dein Vater am Sonnabend schon irgendwelche Verabredungen getroffen? Andernfalls wäre das doch ein denkbarer, zeitnaher Termin.“

Mit wenigen Worten einigten sich Lucius und ihre Eltern darauf, dass man sich am Wochenende besser kennenlernen würde, wann immer es allen Beteiligten passen möge. Als sich eine nicht ganz angenehme Stille im Salon ausbreitete, schlug sie zaghaft vor, man könne doch bei dem schönen Wetter einen Spaziergang machen und ihr Vater bescheinigte ihr, was für eine famose Idee das sei – und verabschiedete sich in sein Arbeitszimmer. Ihre Mutter lächelte noch einmal und wirkte dabei etwas weniger verkniffen als an Regentagen und dann nahm sie Lucius an der Hand und zog ihn mit sich in den Garten, in Richtung des kleinen Feldwegs, der den Anfang einer jeden gängigen Spazierroute darstellte.

Ihr Herz schlug unheimlich schnell und Lucius drückte immer wieder ihre Hand, bis er schließlich ein Fazit wagte. „Ich meine, das lief ganz gut, oder? Zumindest bilde ich mir das ein… aber eventuell sind mir missbilligende Zwischentöne entgangen?“ Sie schüttelte den Kopf und lächelte.

„Nein, es lief… um Längen besser als erwartet.“ Sie sah ihn an und wartete gespannt ab, ob er es wirklich ihr überlassen würde, den rosafarbenen Elefanten im Raum anzusprechen. „Aber das mag daran liegen, dass wir neuerdings verlobt sind? Davon wusste ich ja gar nichts.“ Er schenkt ihr ein gequältes Lächeln.

„Was hätte ich sagen sollen? Mein Vater denkt dasselbe, andernfalls würde er sich nicht darauf einlassen, uns zusammen wohnen zu lassen. Aber so freut er sich fast darauf, deine Eltern und dich kennenzulernen. Heute Mittag hat er mir sogar einen leisen Vorwurf gemacht, weil ich dich so lange geheim gehalten habe... er hält zweieinhalb Jahre für eine sehr lange Zeit.“ Narzissa hielt das auch für eine lange Zeit, aber besonders lang gezogen hatten sich nur die Wochen und Monate, in denen sie einander nicht gesehen hatten.

„Wir sind also verlobt?“ Das war eine sehr direkte Frage, die nur ein Ja oder ein Nein als Antwort zuließ und sie spürte, wie er sich scheute, direkt zu reagieren. „Denk ja nicht, dass ich mich in diesem Leben in Richtung irgendeines Traualtars bewege, ehe ich einen anständigen Antrag bekommen habe, bei dem ich sprachlos bin und mir die Tränen kommen!“

Lucius nickt und sie freut sich, dass sie ihn ein wenig eingeschüchtert hat. Sie weiß, dass sie in ihren Briefen gefälliger ist als bei einer direkten Begegnung und sie fürchtet, dass Lucius diese Tatsache über ihr letztes Schuljahr hinweg verdrängt haben könnte, doch er nickt wieder, sehr tapfer.

„Bis dahin bin ich natürlich bereit, mich als deine Verlobte zu bezeichnen, wenn es dem Frieden dient.“

„Ich liebe dich.“ Sie zuckt zusammen. Irgendwann haben sie angefangen, diese drei kleinen, herrlichen Worte an das Ende ihrer Briefe zu setzen, doch er hat sie noch nie laut ausgesprochen und ihr dabei in die Augen gesehen. Er zieht sie an sich und sie stolpert über einen kleinen Zweig, der sich zwischen ihren Füßen verfangen hat. Unsanft landet sie an seiner Brust und ärgert sich darüber, dass sie so überrumpelt ist. Er drückt ihr einen zufriedenen, hochanständigen Kuss auf die Stirn. „Und ich liebe es, dich aus der Fassung zu bringen.“

„Ich merke schon, heute ist der Tag für große Neuigkeiten.“ Sie weiß gar nicht, warum sie so verlegen ist. Warum sie fast lieber einen Brief in den Händen halten würde, als von ihm festgehalten zu werden. „Ich dich auch.“ Sie nuschelt und es ist ihr peinlich, dass ihre Stimme so schwach ist. Lucius zieht sie enger an sich und legt seinen Mund an ihre Ohrmuschel.

„Du kannst es auch flüstern. Ich werde dich nie überhören.“

 

 

 

* * *



Die zwei Stunden, in denen Abraxas Malfoy in ihrem Salon sitzt und sich höflich, ja beinahe freundlich, gibt, ziehen an ihr vorbei wie ein Traum, der einen mit einem mulmigen Gefühl zurücklässt. Sie verspürt eine vage Unsicherheit, sagt die ganze Zeit über nicht viel, achtet auf ihre Tischmanieren und versucht, viel zu lächeln.

Lucius und sein Vater sehen sich viel weniger ähnlich als sie es angenommen hat. Sie kennt Abraxas Malfoy nur aus der Ferne, vom Gleis 9 ¾ und dort hat sie immer nur ganz für sich gedacht, dass er doch eine imposante Gestalt ist. Er ist groß, wirklich groß, hat silbrige, fast weiße Haare, die streng geschnitten sind. Er trägt keine Brille, doch er kneift die Augen zusammen, als würde er eine benötigen. An seiner linken Hand steckt ein schwerer, ausgesprochen wertvoll aussehender Silberring, doch abgesehen davon ist er schlicht gekleidet. Sie weiß nicht, warum es so ist, aber sie hat sich Abraxas Malfoy doch ein wenig anders vorgestellt. Weniger asketisch irgendwie. Ihr fehlt das richtige Wort. Bescheiden gibt er sich nicht, sie hört gerade genug zu, um zu erfahren, dass er nicht nur eine Immobilie in der Hauptstadt hat, sondern Besitzer mehrerer Grundstücke in ganz Großbritannien ist.

Auf einmal erheben sich ihr Vater und Abraxas Malfoy im selben Moment und sie versucht, sich endlich in der Gegenwart einzufinden und sich nicht ständig in irgendwelchen nervösen Gedankenströmungen zu verlieren. Um die allgemeine Stimmung zu erfassen, wirft sie einen Blick in Richtung ihrer Mutter, die ihr ein wohlwollendes Nicken spendiert.

„Dein Vater ist ein sehr freundlicher Mann, Lucius. Und das ist nun gewiss nicht höflich, aber dürfte ich wohl einen Augenblick alleine mit meiner Tochter sprechen?“

„Natürlich, Mrs. Black.“ In einem rasanten Tempo hat Lucius den Salon verlassen. Wer weiß wohin. Vielleicht nutzt er den Moment, um ein wenig frische Luft zu schnappen. Oder er tut das Gegenteil und gesellt sich zu seinem Vater, dem mit ziemlicher Sicherheit eine Zigarre von ihrem Vater angeboten werden wird.

„Ist dir nicht gut?“ Der besorgte Tonfall ihrer Mutter erschüttert sie bis ins Mark. „Du wirkst angespannt. Ich dachte, dieses Abendessen würde dich freuen, doch das scheint nicht der Fall zu sein.“ Es muss eine Ewigkeit her sein, dass der forschende Blick ihrer Mutter ihr so entgangen ist. Offensichtlich hat ihre Mutter weniger auf ihren Gast, sondern auf Narzissa geachtet.

„Ich bin nur nervös. Ich habe Mr. Malfoy auch noch nicht kennengelernt, aber es geht mir gut. Und du hast Recht, er scheint wirklich ein sehr freundlicher Mann zu sein.“ Ihre Mutter nickt und beobachtet sie so genau, dass sie jede unwillkürliche Geste unterdrückt.

„Freundlich bei Bedarf, aber ebenso furchterregend. Diese Art von Männern gibt es häufiger als du vielleicht glauben magst. Vielleicht ist es ein Fehler gewesen, dass wir dich und deine Schwestern nicht öfter mit zu den Abendgesellschaften genommen haben, die von den Freunden deines Vaters in schöner Regelmäßigkeit veranstaltet werden. Dann hättet ihr vielleicht eine realistischere Vorstellung vom Leben. Und von der Ehe.“

„Wie meinst du das jetzt?“

„Lucius ist noch jung. Du kannst jetzt nicht noch nicht wissen, was er für einen Charakter hat. Mit 30 kann man vielleicht sagen, wie ein Mann ist. Wenn er mit beiden Beinen im Leben steht. Vorher kann man nur mutmaßen.“

„Du denkst also, ich sollte nicht in diesem Jahrzehnt heiraten?“ Ihre Mutter schmunzelt. Sie schmunzelt wahrhaftig und Narzissa fragt sich, wann sie in ihren Augen zu einem atmenden und sprechenden Witz geworden ist.

„Das meine ich doch gar nicht. Ich wundere mich nur, dass ihr es so eilig habt. Ihr seid noch Kinder. Und natürlich bin ich verzückt darüber, dass du einen vermögenden, reinblütigen und wohlerzogenen Freund gefunden hast, denn das scheint ja auch nicht mehr selbstverständlich zu sein. Aber du bist zu schwach für ihn. Wenn er auch nur annähernd so wird wie sein Vater, dann wirst du es nicht aushalten. Du brauchst jemanden, der bereit ist, dein Leben lang Rücksicht auf dich zu nehmen und das wird er nicht tun. Auch, wenn er für den Moment sehr vernarrt in dich sein mag.“

Hat sie auch nur eine Sekunde lang geglaubt, dass ihre Mutter sich Sorgen um ihr Glück machen könnte? Oder Sorgen darum, dass sie ihre Entscheidungen überstürzte? Nein, ihre Mutter konnte nur keine Gelegenheit auslassen, um ihr zu erklären, dass sie nicht gut genug war. Ihre Finger hatten sich in der Spitze der Tischdecke verkrallt, die in ihren Schoß hing und sie musste ihre ganze Konzentration darauf verwenden, weder zu heulen, noch unermesslich wütend zu werden und sich in ihr Zimmer zu flüchten. Ganz ruhig blieb sie sitzen und ignorierte das spöttische Lächeln ihrer Mutter.

Es schien eine kleine Ewigkeit zu vergehen, bis Lucius, sein Vater und ihr eigener Vater zurückkehrten. Die beiden Männer waren in eine lilafarbene Rauchwolke gehüllt und Lucius hustete unauffällig in seine Faust.

Ihr Vater blieb hinter ihr stehen und legt seine Hand auf der Rückenlehne ihres Stuhls ab. „Wir haben einen kleinen Ausflug unternommen und Abraxas war so freundlich, mir die Wohnung zu zeigen, die Lucius kürzlich bezogen hat. Die Lichtverhältnisse sind hervorragend und ich denke, du wirst dich dort sehr wohl fühlen.“ Das Lächeln ihres Vaters ist aufrichtig und am liebsten wäre sie aufgesprungen und ihm um den Hals gefallen. Er streicht mit der flachen Hand über ihre Haare, die sie in mühevoller Kleinarbeit gelockt hat. „Ich habe morgen keinerlei Termine und wenn du wirklich möchtest, dann können wir damit anfangen, deine Sachen zusammenzupacken, sodass du im Laufe der nächsten Tage bei Lucius einziehen kannst.“

„Natürlich möchte ich das wirklich! Danke!“ Ihr Überschwang wird von Abraxas Malfoy, der sich vornehm zurückhält, mit einem süffisanten Lächeln bedacht. „Vielen Dank, Mr. Malfoy. Ich bin sehr froh, dass Sie mit unserem Entschluss einverstanden sind.“ Er nickt großzügig.

„Wenn ich bei dem Umzug irgendwie behilflich sein kann, dann lasst es mich wissen. Ansonsten würde ich mich jetzt gerne verabschieden. Ich bin es nicht mehr gewöhnt, auszugehen und lange wach zu bleiben.“ Er trat auf sie zu und reichte ihr die Hand. „Es hat mich sehr gefreut, dich kennenzulernen, Narzissa. Ich hoffe, wir werden uns bald wiedersehen.“

„Das hoffe ich auch.“ Abraxas Malfoy drückt ihre Hand so fest, dass es beinahe schmerzhaft ist, doch sie verzieht keine Miene und glaubt, den Test damit bestanden zu haben. Falls es einen Test gab und das nicht einfach dazu gehört. Zu der echten Welt mit ihren echten Männern.

 

 

 

* * *



„Ich kann es gar nicht fassen.“ London ist in rotes Abendlicht getaucht und sie steht vor einem doppelt verglasten Fenster mit Blick auf mehrere Stränge von Bahngleisen. So sieht Freiheit aus. Lucius steht hinter ihr und hat einen Arm um sie gelegt.

„Ich noch viel weniger. Dein Vater hat wirklich seinen kompletten Sonntag darauf verwendet, dein Zimmer in einen Koffer zu packen und wieder zu entpacken, ohne dass auch nur ein Bilderrahmen zu Bruch oder ein Buch verloren geht. Er muss sich wirklich darauf freuen, das Haus leer zu haben.“ Sie rammt ihren Ellenbogen rückwärts in seinen Bauch und er keucht leise. „Okay, wunder Punkt, schon verstanden. Ich wollte damit nur sagen, dass ich so viel Engagement nicht erwartet habe.“

„Er weiß, dass ich so schnell wie möglich von meiner Mutter wegkommen wollte – und dass sie da auch rein gar nichts gegen hat. Also warum die Prozedur ins Unendliche dehnen und unnötig lange aufschieben?“ Es wäre ihr lieber, wenn sie weniger gekränkt klingen würde. Aber die Worte ihrer Mutter stoßen ihr immer noch bitter auf. „Meine Eltern haben ein bisschen Angst davor, dass du es dir zweimal überlegen könntest, ob du mich behalten willst, wenn du erst einmal merkst, wie nutzlos ich bin. Sie hoffen, dass ich schon einen Ring am Finger habe, wenn der Tag der Erkenntnis gekommen ist.“

„Moment mal, jetzt mach mal einen Punkt.“ Er dreht sie zu sich und versucht, ihr in die Augen zu sehen, aber sie starrt stur auf seine Schulter. „Du denkst doch nicht wirklich, dass deine Eltern so wenig von dir halten? Dein Vater liebt dich abgöttisch! Wenn im letzten Sommer irgendetwas offensichtlich gewesen ist, dann das! Ich hätte schwören können, er würde sich quer stellen und dich unter keinen Umständen so schnell ausziehen lassen.“

„Du kennst meine Familie eben nicht. So funktioniert das nicht.“ Sie verschränkt die Arme vor der Brust und meidet weiterhin seinen Blick. „Mein Vater liebt mich vielleicht, aber deswegen hält er noch lange nicht viel von mir als Hexe. Und meine Mutter wünscht sich, ich hätte Andromedas Fehler gemacht, weil meine Schwester in ihren Augen immer perfekt war – bis sie sich von einem Schlammblut hat schwängern lassen.“

„Heute drücken wir uns aber vulgär aus.“ Er nimmt ihre Hand und drückt einen Kuss auf ihre Fingerknöchel. „Ich habe einen Vorschlag. Wir reden heute nicht mehr über deine Eltern, wir gehen etwas essen und danach darfst du dich in meinem Bett breit machen. Und alle Kopfkissen für dich beschlagnahmen. Wie klingt das?“

„Fast perfekt.“

„Warum nur fast?“

„Dein Bett? Dein, mein… unterhalten wir uns noch in diesen Begriffen? Dir ist vielleicht aufgefallen, dass mein Vater alle möglichen Möbelstücke entpackt hat, aber kein Bett.“ Im vergangen Sommer ist er zwar oft bis spätabends zu Besuch gewesen, aber er hat noch nie bei ihr übernachtet. Und sie hat Malfoy Manor bislang nur von außen gesehen, denn von dem Hausherrn hat Lucius sie sorgsam ferngehalten. Aber darüber können sie auch an einem anderen Tag sprechen.

„Verzeihung. Unser Bett. Daran muss ich mich noch gewöhnen.“

„Ich auch.“ Sie stellt sich auf die Zehenspitzen und drückt ihm einen Kuss auf den Mund. „Gehen wir raus?“ Raus. In ihren ersten Abend in Freiheit hinein.

Chapter 12: Springer

Chapter Text

12 – Springer



Es fühlt sich zwar noch nicht so richtig nach Alltag an, aber was ist alltäglicher als sich die Zähne zu putzen? Sie steht vor dem Spiegel, betrachtet die Seife, die sie selbst ausgesucht hat und gleich daneben die Haarbürste, die sie von ihrer Großmutter zu ihrem sechsten Geburtstag geschenkt bekommen hat, und putzt sich die Zähne. Es klopft an der Badezimmertür. „Kann ich reinkommen?“

Sie spuckt die Zahnpasta ins Becken, trinkt einen Schluck Wasser und gibt ein zustimmendes Geräusch von sich. Obwohl das Semester erst in wenigen Wochen beginnen wird und sie streng genommen keinen Grund hat, sich einen Biorhythmus aufrechtzuerhalten, hat sie versucht, sich an Lucius anzugleichen. Sie geht ein wenig später ins Bett und steht erst auf, wenn er im Badezimmer gewesen ist, um mit ihm zusammen zu frühstücken.

An den Montagen und Freitagen darf Lucius in der Abteilung für Magische Strafverfolgung im Zaubergamot-Verwaltungsdienst aushelfen, die Memos mit den jeweiligen Strafverstößen verarbeiten und den jeweiligen Zuständigen zuordnen. Im ersten Moment klang das für sie nicht besonders aufregend, aber sie findet den Justizapparat der Zauberwelt auch nicht halb so spannend wie Lucius, für den trockene Abhandlungen über Prozesse aus grauer Vorzeit brandaufregende Lektüre sind. An den übrigen Tagen sitzt er in der innerministeriellen Verwaltung, verschafft sich einen Überblick über die Strukturen sämtlicher Abteilungen und deren Aufgaben, begleitet Vorstellungsgespräche und optimiert die jeweiligen Aufgabenbereiche der Abteilungen. Auch das erscheint ihr wenig spannend, aber an manchen Tagen kommt er mit glänzenden Augen zurück, also muss es ihm wohl gefallen. Für die Arbeit im Zaubergamot-Verwaltungsdienst trägt er eine Krawatte, mit der er furchtbar erwachsen aussieht. Fasziniert beobachtet sie, wie er sich die Zähne putzt und es dabei irgendwie schafft, sich nicht zu bekleckern. Ein wenig beschämt reibt sie den schaumigen Fleck von ihrem eigenen Nachthemd und setzt sich auf den Rand der Badewanne.

„Um wie viel Uhr wirst du fertig sein?“ An Freitagnachmittagen passiert im Zaubereiministerium grundsätzlich nicht allzu viel, wenn man von obligatorischem Papierkram einmal absieht. Aus diesem Grund eignen sich die Freitagabende dazu, irgendetwas zu unternehmen und nicht nur in der Wohnung herumzusitzen und zu lesen.

„Wie immer, denke ich.“

„Dann bin ich um vier Uhr im Atrium und warte da auf dich.“

„Perfekt.“ Er beugt sich zu ihr herunter und gibt ihr einen Kuss. „Bis später. Überleg dir, wo du essen willst.“ Narzissa weiß, dass es purer Luxus ist, einmal in der Woche auswärts zu essen, aber dafür müssen sie sich sechs Tage mit ihren eigenen, bescheidenen Kochkünsten begnügen. Obwohl sie beide an die festlichen Mahlzeiten der Hauselfen von Hogwarts gewöhnt sind und in Haushalten groß geworden sind, in denen niemand selber kocht, beschwert er sich nie über die Einfachheit der Gerichte. Manchmal, wenn sie sich besonders bemühen möchte, dann ruft sie Wretcha zu sich und lässt sich von der Hauselfe, die ihr immer noch treu ergeben ist und niemals auf sich warten lässt, einige ihrer eigenen Lieblingsrezepte erklären und bei der Zubereitung unterstützen. Ob ihre Mutter davon weiß und Wretcha vermisst oder zu sich ruft, weiß Narzissa nicht, aber ihre Eltern können ihr ja schlecht verbieten, die Dienste der Elfe in Anspruch zu nehmen, nur weil sie nicht mehr zuhause wohnt.

Für den heutigen Tag hat sie sich jedoch etwas ganz anderes vorgenommen. Es fühlt sich wie eine Art Mutprobe an, als sie den Friseursalon betritt, von dem Samara sieben Jahre lang konstant geschwärmt hat, sodass sie den Namen auch auswendig wüsste, wenn man sie mitten in der Nacht wachrütteln und danach fragen würde. Aber sie ist nicht hier, um irgendjemandem – außer sich selbst – etwas zu beweisen. Sie sehnt sich nach einer Veränderung, auch wenn sie ja nicht gerade behaupten kann, einen langweiligen Sommer durchlebt zu haben.

„Miss Black?“ Eine junge Hexe mit violetten Locken und farblich passenden Wimpern kommt lächelnd auf sie zu. Vorgestern hat sie eine Eule zu dem Salon geschickt und um einen Termin gebeten. Obwohl Birmingham nicht unbedingt in der direkten Nachbarschaft ist, hat es keine sechs Stunden gedauert, ehe sie eine ausgesprochen freundliche Rückmeldung und einen Termin für den heutigen Vormittag erhalten hat.

Sie nickt, lächelt und begibt sich in die Hände einer Person, die hoffentlich nicht der Meinung ist, dass Violett jedem Hexenhaupt steht.

* * *



Nachdem sie den Nachmittag darauf verwendet hat, sich an ihr neues Spiegelbild zu gewöhnen, kann sie es Lucius eigentlich nicht verdenken, dass er sie nicht auf den ersten Blick erkennt, aber sie wundert sich doch ein wenig darüber, als er einfach so an ihr vorbeiläuft. Neben ihm geht eine hübsche, groß gewachsene Hexe, die ihn in ein Gespräch verwickelt hat, das scheinbar so fesselnd ist, dass er das Atrium durchquert, ehe er sich irritiert umdreht und sie dann schließlich doch bemerkt. Ohne den Blick von ihr zu lösen, er starrt ein wenig und sie ist sich nicht sicher, ob sie das schmeichelhaft finden soll, verabschiedet er sich brüsk von der Hexe und kommt auf sie zu.

„Das ist anders.“ Er betrachtet ihre Haarspitzen, die teils immer noch in dem altvertrauten, fahlen Blond glänzen, teils annähernd so rabenschwarz wie die Locken von Andromeda und Bellatrix sind. Die Hexe im Friseursalon hat ihr eine ganze Reihe von Frisuren gezeigt, bei denen der neue Kontrast besonders kunstvoll zum Tragen kommen, doch auch ohne aufwendige Verknotungen sieht es genauso aus wie sie es sich vorgestellt hat. Ein großer Teil ihres Deckhaars hat einen Farbton angenommen, den die Friseurmeisterin liebevoll als „nachtblond“ bezeichnet hat.

„Mir war schon länger danach.“

„Du hättest mich vorwarnen können.“

„Ich war mir heute Morgen noch nicht sicher, ob ich es wirklich mache.“ Sie wickelt eine Haarsträhne um ihren Finger und beobachtet das Farbenspiel. Sie muss an die rot-weißen Zuckerstangen denken, die man in der Weihnachtszeit kaufen kann. „Mir gefällt es.“ Diese drei kleinen Worte bedeuten für Lucius, dass er sich entweder kein Urteil mehr machen muss – oder seine Meinung zumindest für sich behält.

„Tut mir leid, dass ich dich übersehen habe.“ Vorsichtig nimmt er ihre Hand und steuert in Richtung von einem unbesetzten Kamin. „Weißt du, wo du hin möchtest?“

„In die Winkelgasse. Ich muss noch zu Flourish und Blotts, die Bücher für das erste Semester abholen, und ich dachte, wir könnten in die Chimäre gehen?“ „Zur Goldenen Chimäre“ ist ein Restaurant in der Winkelgasse, das gewissermaßen ein Pendant zu dem rosaroten Café von Madam Puddifoot ist – nur eben mit viel Goldlack, herzhaften Mahlzeiten und einem männlichen Inhaber, der durch einen schrägen Akzent und einen herrlichen Schnurrbart bezaubert. Es ist ein Lokal von der Sorte, wie es ihre Eltern nie betreten haben – und wahrscheinlich ist sie gerade deshalb so gerne dort. Wahrscheinlich ist das wieder dieser Drang nach Abgrenzung, dem sie manchmal einfach nachgeben muss.

„Sicher.“ Eigentlich hat sie damit gerechnet, dass Lucius sich ihr widersetzen würde, denn er ist schon kein Freund von Madam Puddifoots Café gewesen. Er hat ihre Hand losgelassen, greift nach dem Flohpulver und konzentriert sich auf eine deutliche Aussprache. Sie würde es ihm nie sagen, aber wenn er sich so konzentriert und sich so viel Mühe gibt, nicht zu nuscheln, dann kann sie sich richtig gut vorstellen, wie er als kleiner, gewissenhafter Junge gewesen ist.

Als sie aus der Buchhandlung kommt und die dicken Lehrbücher in ihrer Tasche verstaut, wirkt er endlich wieder so, als hätte er sich einigermaßen gesammelt. Er nimmt eine Haarsträhne und lässt sie bedächtig durch seine Fingerspitzen gleiten.

„Interessant. Es steht dir irgendwie. Aber warum hast du nie etwas darüber gesagt, dass du ernsthaft darüber nachdenkst, deine Haarfarbe zu verändern?“

„Ich dachte nicht, dass dich so eine Unterhaltung interessieren würde.“ Das ist eine Lüge. Die Zeiten, in denen sie sich in seiner Gegenwart über jedes Wort Gedanken macht, sind längst vorbei. Sie haben schon über so viele Dinge geredet, von denen man nicht meinen sollte, dass sie Lucius Malfoy interessieren – und vermutlich interessieren sie ihn auch nicht, aber darüber sprechen kann er trotzdem.

Nachdem sie eine bequeme Nische in der „Goldenen Chimäre“ gefunden und ihre Bestellung bei der wuseligen, in die Jahre gekommenen Bedienung abgegeben haben, überlegt sie sich, wie sie noch einmal geschickt auf die Szene im Atrium zu sprechen kommen kann. Es endet damit, dass sie eine sehr schlichte Frage stellt.

„Wer war das eben eigentlich? Eine Kollegin von dir?“ Wenn Lucius von seiner Arbeit spricht, dann gebraucht er nicht besonders viele Namen. Sie weiß nicht, ob es daran liegt, dass er über gewisse private Informationen schweigen muss oder ob er davon ausgeht, dass es sie nicht so brennend interessiert, wie all die Leute hinter ihren Schreibtischen heißen. Die Leute, die er beim Namen nennt, sind Persönlichkeiten, die man aus der politischen Berichterstattung des „Tagespropheten“ kennt.

Lucius macht einen Gesichtsausdruck, als wüsste er nun wirklich nicht, wen sie meinen könnte.

„Die große Frau im Atrium. Sie hat etwas Blaues getragen.“ Ihr ist schon häufiger aufgefallen, dass Lucius ein erstaunlich gutes Gedächtnis hat, wenn es darum geht, wie sich Menschen kleiden und ob sie groß oder klein, dick oder dünn sind.

„Ach, das ist Mae. Wir haben gleichzeitig mit der Ausbildung angefangen und arbeiten manchmal zusammen in der Zaubergamot-Verwaltung. Sie wird wahrscheinlich die persönliche Assistentin von Mr. Crouch. Sie spricht Koboldgack, das ist sehr beeindruckend.“

„Sie ist sehr hübsch. Sie könnte auch als Modell laufen.“ Sie selbst fand nicht, dass sie eifersüchtig klang, doch irgendetwas an ihrem Tonfall schien Lucius zu alarmieren. Offenbar durfte man nicht mehr wohlwollend über das Aussehen einer anderen weiblichen Person sprechen.

„Ja, wahrscheinlich könnte sie das.“ Die Vorsicht in seiner Stimme amüsiert sie.

„Aber Mae ist ein schrecklicher Name.“

„Findest du?“

„Es klingt so vulgär.“ Sie erinnert sich einen Artikel in der „Hexenwoche“, der ihr die Schamesröte ins Gesicht getrieben hat. Es war ein Exklusiv-Interview mit einer Hexe, die in aufreizenden Posen fotografiert und damit zum erotischen Kunstwerk wird. Der Zweitname dieser Hexe war Mae, ihren ersten Vornamen hat sie vergessen, weil er so gewöhnlich war. „Warum hast du uns nicht vorgestellt?“

„Ich wusste nicht, dass du Wert darauf legst, meine Arbeitskollegen kennenzulernen.“

„Natürlich lege ich Wert darauf! Ich möchte doch wissen, wie deine Freunde so sind und mit wem du das letzte Jahr verbracht hast! Sonst muss ich ja ein schlechtes Gewissen haben, wenn ich dich im September mit meinen Bekanntschaften aus dem Hörsaal langweile.“ Sie schenkt ihm ein reizendes Lächeln. Er weicht ihrem Blick aus und sieht in Richtung der goldfarbenen Eingangstür, obwohl niemand das Lokal betreten oder verlassen hat und es dort absolut nichts zu gucken gibt.

„Mae und ich sind keine Freunde. Wir unterhalten uns nur ab und an.“

„Warum ist dir das Thema so unangenehm?“ Sie legt eine Hand auf seinen Unterarm und er zuckt zusammen, als ob ihn ein Gnom gebissen hätte. „Willst du mir nicht antworten?“ Er zieht seinen Arm weg und rückt ein Stück von ihr ab.

„Jetzt lass das doch gut sein. Lass mich doch mal einen Moment in Ruhe!“

„Ich kann auch gehen und du isst allein zu Abend, wenn ich dir auf die Nerven gehe.“ Er reagiert nicht, doch als sie Anstalten macht, ihre Tasche zu nehmen und aufzustehen, packt er ihr Handgelenk und zieht sie sanft wieder auf die Sitzbank.

„Entschuldige. Es war ein anstrengender Tag – Mae ist im Übrigen auch anstrengend, aber ich sollte das nicht an dir auslassen. Lass uns einfach über etwas Anderes sprechen, ja?“

„Nein.“ Das freundliche Gesicht, das er aufgesetzt hat, zerfällt in sich und das beschwichtigende Lächeln verschwindet, aber er hält sie noch immer fest. So als könnte sie immer noch weglaufen. Ist das eine Kapitulation? Oder Resignation? Oder gibt es da überhaupt keinen Unterschied, keine Nuancen, mehr? „Wenn du bei einem Thema so komisch wirst, dann will ich den Grund dafür wissen.“

„Na schön, Mae ist ein wenig aufdringlich. Deshalb habe ich es nicht für die weltbeste Idee gehalten, euch miteinander bekannt zu machen und war eigentlich sogar froh, dass ich dich nicht gleich gesehen habe.“

„Also hast du mich absichtlich übersehen?“

„Um Himmels Willen, nein, natürlich nicht. Ich habe versucht, ihr zuzuhören und nach dir Ausschau gehalten. Es war ja auch noch ein wenig zu früh, ich dachte, du wärst vielleicht noch gar nicht da.“

„Du bist direkt an mir vorbeigegangen. Du hast nicht nach links oder rechts gesehen.“

„Zissy, worüber reden wir hier eigentlich? Worauf willst du hinaus? Was soll das werden, wenn es fertig ist? Willst du dich heute unbedingt mit mir streiten?“ Streiten. Das war ein großes Wort. Abgesehen von der ein oder anderen Meinungsverschiedenheit und den üblichen, kleinen Provokationen, hatten sie keine handfeste Auseinandersetzung gehabt. Keinen epischen, sich über Tage dehnenden Krach mit Tränen und Geschrei.

„Nein, das will ich nicht. Ich sag ja gar nichts mehr.“ Die Bedienung kam mit einem Tablett in ihre Richtung, sie löst ihr Handgelenk aus seinem Griff und legt stattdessen ihr linkes Bein über sein Knie und rutscht ein Stück zu ihm herüber.

* * *



Obwohl sie sich vorgenommen hat, das Thema ruhen zu lassen und sie einen ausgesprochen friedlichen, netten Abend mit einem ausgedehnten Spaziergang durch den Hyde Park verbracht hatten, geht ihr der Name nicht durch den Kopf. Mae. Wie kann es sein, dass Lucius diesen Namen noch nie erwähnt hat? Sie geht in ihren Erinnerungen die Briefe durch, die er ihr im letzten Herbst geschrieben hat. Darin hat er viele der anderen Auszubildenden und Vorgesetzten beschrieben, wenn es denn nichts Besseres zu erzählen gab. Namen sind wirklich kaum welche gefallen, doch ihr will auch keine Anekdote einfallen, die zu einer Frau wie Mae passen könnte. Kein Märchen über eine aufdringliche Person, die auch als Modell laufen könnte.

„Hast du darüber nachgedacht, darauf einzugehen?“ Lucius liegt neben ihr, es ist dunkel, doch in London ist es nie so stockduster wie sie es von ihrem alten Zimmer kennt. Es ist auch nicht so leise, aber das leichte, regelmäßige Rauschen der Nachtzüge stört sie nicht. Sie hofft, dass er noch wach ist. Sie weiß nicht genau, wie lange es her ist, dass er das Licht ausgemacht und sich umgedreht hat. Wie lange sie sich schon mit ihren unruhigen Gedanken herumschlägt.

„Worauf?“ Seine Stimme klingt leiser als sonst, aber er wirkt nicht so, als wäre er bereits im Halbschlaf. Er dreht sich um und schlingt träge einen Arm um sie.

„Auf Mae. Du hast gesagt, sie sei aufdringlich. Hast du nicht darüber nachgedacht, es zuzulassen?“

„Du meinst, ob ich…“ Er ringt mit diesem einen Wort, das zwischen ihnen nicht besonders häufig fällt, weil sie es beide sorgsam vermeiden.

„Ja.“

„Ja, ich hab darüber nachgedacht.“

„Du und deine verdammte Ehrlichkeit.“ Wenn es nicht allen Widrigkeiten zum Trotz immer noch irgendwie behaglich wäre, unter der warmen Decke neben ihm zu liegen, dann würde sie aufstehen. Und diesmal würde sie den demonstrativen Abgang auch durchziehen.

„Stell solche Fragen nicht, wenn du die Antwort nicht ertragen kannst. Und natürlich habe ich darüber nachgedacht, aber ich habe es in keiner Sekunde ernsthaft in Erwägung erzogen. Sie weiß auch, dass es dich gibt und dass du hier wohnst.“ Aber das störte eine Frau wie Mae sicher nicht. Wann hatte sie sich so schnell eine so schlechte Meinung über eine Fremde gebildet? „Ich wäre ein Idiot, wenn ich wegen einer… Laune riskieren würde, dich zu verlieren. Nichts als ein Idiot.“ Er seufzt und drückt einen Kuss auf ihre Schulter. „Aber ich will dich auch nicht zu etwas drängen, wozu du nicht bereit bist und ich muss ehrlich zugeben, ich habe unterschätzt, wie schwer das ist, wenn du ständig da bist.“

Sie lacht, auch wenn es eigentlich gar nicht lächerlich, sondern rührend ist, dass er sich so anständig gibt. Doch genau diese vage Vorstellung von Anstand, mit der er erzogen wurde – und sie ja auch – verunsichert sie manchmal. Sie weiß, dass die Ehe ihrer Eltern nicht auf uneingeschränkter Treue, sondern auf Loyalität basiert. Die Namen der Bekanntschaften, die sowohl ihre Mutter als auch ihr Vater pflegen, kennen weder sie, noch ihre Schwestern, doch sie haben einmal, an einem stummen Nachmittag, über das Offensichtliche gesprochen. Die Überstunden ihres Vaters, die Wochenendbesuche ihrer Mutter bei alten Freundinnen, das Netz durchschaubarer, halbherziger Lügen. Narzissa kann sich nicht vorstellen, dass ihre Eltern jemals so richtig verliebt ineinander gewesen waren, aber sie weiß auch, dass es offiziell schon seit langer Zeit keine arrangierten Eheschließungen mehr in ihrer Familie gibt. Allerdings wäre es auch für ihre Großeltern undenkbar gewesen, eine fünfundzwanzigjährige und unverheiratete Tochter zu haben oder eine kinderlose Ehe zu führen. Der Spott ihrer Mutter, die behauptet, sie verstünde nichts von der Ehe, hallt in ihren Ohren und sie ist sich doch sehr sicher, dass Abraxas Malfoy in einer ähnlichen Welt wie ihre Eltern lebt. Vielleicht sogar in derselben Welt mit denselben unausgesprochenen Regeln.

Obwohl sie keinen Zweifel daran hegt, dass Lucius aufrichtig ist, wenn er von seinen Gefühlen spricht und ihr sagt, dass er sie liebt, schließt das im Gegenzug ja nicht unbedingt aus, dass er in Mae eine potenzielle Bekanntschaft sieht. Keine Ehefrau, das sicher nicht, aber vielleicht eine Geliebte.

Sie lacht noch immer, aber der Schmerz in ihrem Bauch, der Knoten in ihrem Hals, rührt nicht daher. Die Hysterie ist nah, das spürt sie genau. Nur ganz nebenbei bemerkt sie, wie er seinen Arm fester um sie schlingt und mit seinen Fingerspitzen beruhigende Kreise auf ihren Bauch malt.

„Lachst du über mich? Oder über dich selbst? Oder ist dir ein guter Witz eingefallen?“

„Ich verstehe dich manchmal einfach nicht. Dabei denke ich, ich kenne dich so gut. Und das ist doch hochkomisch, oder? Wie kann ich hier sein und gleichzeitig keine Ahnung haben, wer du bist?“

„Du sprichst in Rätseln, Liebes.“

„Warum haben wir nie darüber geredet? Wie kannst du davon ausgehen, dass ich nicht mit dir schlafen möchte? Das habe ich nie gesagt, oder?“ Jetzt reden sie wenigstens nicht mehr drum herum. Sie weiß nicht, warum es auf einmal so schwierig ist, ernsthaft darüber zu sprechen. Noch allzu gut erinnert sie sich an Bellas Hochzeitstag und den Moment, in dem sie oben in ihrem Zimmer waren und zum ersten – und letzten – Mal wirklich darüber geredet haben. Es war nie eine Frage, dass sie es in Hogwarts nicht tun würden, weil man ja nicht ignorieren konnte, dass sie niemals alleine im Schloss wären, sondern immer irgendein Mitschüler oder Lehrer oder der fürchterliche Argus Filch in der Nähe sein könnte. Im letzten Sommer waren die rigorosen Hausregeln ihrer Eltern so präsent gewesen, dass es ihr irgendwie auch verkehrt vorgekommen wäre, realistisch darüber nachzudenken, aber nun lebten sie in einer Wohnung. Sie hatten ihre Privatsphäre. Die anderen Menschen, die in diesem Haus lebten, kannten sie nicht, wenigstens ging sie davon aus, auch wenn Abraxas Malfoy natürlich der Vermieter des gesamten Grundstücks war. Aber viel mehr Realität konnten sie nicht teilen, viel realistischer konnte die Vorstellung, mit Lucius Malfoy zu schlafen, nicht mehr werden. Wahrscheinlich war es deshalb nicht mehr so leicht, darüber zu sprechen.

Lucius hat kein Wort gesagt. Er malt immer noch Kreise auf ihren Bauch und sie ist sich nicht sicher, wen diese Kreise beruhigen sollen. Sie oder ihn.

„Wir können diese Unterhaltung auch morgen fortführen, wenn du jetzt nichts dazu sagen möchtest. Aber es stört mich, dass du anscheinend nicht mal überlegt hast, mit mir darüber zu reden. Du hast angenommen, ich würde aus irgendwelchen Gründen nicht wollen. Das finde ich nicht in Ordnung.“ Bisher hat sie konsequent die Zimmerdecke betrachtet, doch nun wendet sie sich ihm zu und sieht ihm direkt in die Augen. Er ist definitiv wach. Es wäre auch unverzeihlich, wenn er einnicken würde, während sie hier die kommunikativen Grundfesten ihrer Beziehung kritisiert. „Glaubst du, ich würde nie daran denken?“

„Ich kann mir nie sicher sein, ob ich dich unter- oder überschätze.“ So etwas zu behaupten war wohl nur fair, wenn sie laut ausgesprochen hatte, dass sie sich so fühlte, als würde sie ihn manchmal gar nicht kennen.

„Dann stelle ich dir jetzt eine ganz einfache Frage. Wenn du die Wahl hättest, würdest du mit Mae schlafen wollen oder mit mir?“

„Was ist das denn jetzt für eine Frage?!“

„Eine ganz einfache Frage. Hab ich doch gesagt.“

Kopfschüttelnd beugt er sich über sie und küsst sie ohne jede Zurückhaltung. So unvorsichtig wie möglich erwidert sie den Kuss. Im vergangenen Sommer sind sie ein paar Mal an dem Punkt angelangt, an dem sie zu platzen geglaubt hat, weil es einfach zu wenig ist, ihn nur zu küssen, doch er hat niemals Anstalten gemacht, einen Schritt weiter zu gehen. Was ihn das gekostet haben muss, kann sie nur erraten, aber wenn sie genauer darüber nachdenkt, dann erinnert sie sich daran, dass er oft früher nach Hause gegangen hat, als er es vorher gesagt hat. Als ob er ihre Nähe nicht länger ertragen könnte.

Weil er auch jetzt nicht die Absicht zu haben scheint, irgendetwas zu überstürzen, nimmt sie seine Hand und führt sie unter das ärmellose Oberteil, das sie bei den milden Temperaturen zum Schlafen angezogen hat. Ihr stockt beinahe der Atem, weil er sich so schleichend langsam herantastet. Sie glaubt, die Nerven zu verlieren, als sein Daumen sanft über ihre linke Brust streicht.

Sie löst ihren Mund von seinem und küsst stattdessen seinen Hals. Ihr Körper zittert, als er seine ganze Hand bewegt und sie drückt sich ihm entgegen. Er stöhnt leise, als ihre Mitte sich an seinem Becken reibt, aber er hört nicht auf, sie zu streicheln. Zwischen ihren Beinen hat sich ein angenehmes Kribbeln ausgebreitet, das stärker wird, als sie seine Erregung trotz zwei Schichten Stoff ganz deutlich spürt. Konzentriert platziert sie einen Kuss in seiner Halsbeuge, als er sie auf einmal packt, sodass auch ihr Oberkörper auf seinem liegt. Seine Hände sind über ihre Hüfte gerutscht und bleiben auf ihrem Po liegen. Ihr ist schon öfter aufgefallen, dass er manchmal – ob absichtlich oder unabsichtlich, da wollte sie bislang keine Vermutungen anstellen – abrutscht, wenn er einen Arm um sie gelegt hat. Narzissa weiß ja, dass ihre Brüste nicht unbedingt von beeindruckender Größe sind und Samara hat auch einmal die frivole Behauptung aufgestellt, dass es solche Jungs gäbe, die sich eher für die Vorderseite und solche, die sich für die Rückseite begeistern konnten, aber ihr wäre trotzdem nicht in den Sinn gekommen, dass irgendjemand diesem Körperteil besondere Beachtung schenkte, das sie selbst nicht sehen konnte.

Es ist doch ein bisschen überraschend, wie gut es sich anfühlt, obwohl sie sich kaum bewegt und eigentlich nur den Druck genießt. Er zieht sie noch ein wenig enger an sich und sie staunt selbst, als sich zwischen ihres Beinen ein herrliches Kribbeln ausbreitet und sie ein unkontrolliertes Keuchen von sich gibt. Wenn sie sich nicht so wohl fühlen würde, dann müsste sie sich glatt schämen, doch so verbirgt sie ihr Gesicht nur vor ihm und presst ihre Wange gegen sein Gesicht, das sich auch unnatürlich warm anfühlt.

Sie fühlt sich wie ferngesteuert als sie ein Stückchen zur Seite rutscht, ihre Hand zwischen ihre Körper schiebt und vorsichtig unter den Bund seiner Schlafanzugshose gleitet. Woher dieser Mut kommt, weiß sie nicht, aber seitdem sie ihn so deutlich gespürt hat, ist sie neugierig, wie es sich anfühlen würde, ihn in der Hand zu halten. Es war schließlich viel üblicher, eine haptische Erfahrung mit ihrer Hand zu machen als mit ihrem Unterleib. Der redensartliche Schlag unter die Gürtellinie kommt ihr in den Sinn und sie muss bei dem Gedanken daran, dass es eher ein Griff unter die Gürtellinie ist, ein albernes, unangebrachtes Kichern unterdrücken. Unter gar keinen Umständen möchte sie jetzt wieder lachen und sich erklären müssen. Ihre Gedanken sind manchmal doch zu albern. Das Lachen vergeht ihr, als sie ihre Hand vorsichtig um seine Erregung schließt. Sie muss doch ganz stark daran zweifeln, dass es möglich ist, etwas so Großes in sich aufzunehmen, aber diese Bedenken kann sie ja vielleicht in einem anderen Augenblick mit ihm teilen.

Als er ihren Kopf zu sich zieht und sie küsst, wirkt er beinahe verzweifelt und sie hätte nie gedacht, dass ein Kuss so nach Gier und Sehnsucht schmecken könnte. Sie kann nicht genau einschätzen, wie viel Zeit vergeht, doch es können auch nur wenige Sekunden gewesen sein, ehe er zusammenzuckt und sie spürt, wie etwas Klebriges auf ihrer Hand landet. In der Theorie ist sie damit vertraut, was passiert, wenn man miteinander schläft und es überrascht sie auch nicht, dass es nur so wenige Berührungen von ihr gebraucht hat, doch sie hat sich keine Vorstellung davon gemacht, wie es sich für sie anfühlen würde, wenn er kommt.

Als ihre Gedanken etwas klarer werden und sie ihre sieben Sinne wieder einigermaßen beisammen hat, da weiß sie auf einmal nicht mehr, wohin mit sich. Wohin mit ihrer Hand. Wohin mit ihren Armen. Ratlos zieht sie ihre Hand zurück und kann nicht besonders viel erkennen, obschon ihre Augen sich an die Dunkelheit des Zimmers gewöhnt haben. Ihr Oberteil ist verrutscht, aber es bedeckt ihre Brüste immer noch so gerade eben. Sie spürt, dass ihre Hose feucht geworden ist und die Vielzahl der ungewohnten Eindrücke überwältigt sie. Es ist nicht zu vergleichen mit den Malen, die sie sich selbst unter der Bettdecke berührt und darauf gewartet hat, dass etwas Umwerfendes geschieht. Etwas Unbeschreibliches, das doch in so vielen Büchern immer wieder umrissen und angetastet wird.

„Alles in Ordnung?“ Sie kann nicht einschätzen, ob er besorgt klingt oder eher peinlich berührt. Oder glücklich. Ihre Ohren hören zwar, was er sagt, aber sie weiß nicht, was sie davon halten soll. Sie nickt und er reagiert mit eindeutiger Erleichterung.

„Ich gehe ins Badezimmer.“

„Natürlich.“

Sie wäscht ihre Hände, ohne allzu genau hinzusehen, streift ihre Hose ab und zieht das Oberteil weiter nach unten, damit sie nicht ganz entblößt zurück zu ihrem Kleiderschrank gehen muss. Ihre Befürchtung, dass Lucius das Licht angemacht haben könnte, bestätigt sich nicht und sie fühlt sich nicht einmal beobachtet, als sie die Schublade mit ihrer Unterwäsche öffnet. Um eine lange, richtige Pyjamahose anzuziehen, ist ihr entschieden zu warm. Hinter ihr quietscht das Bett leise, als Lucius aufsteht und ebenfalls im Badezimmer verschwindet.

Als er wieder zurückkommt, hat sie sich schon wieder unter die schwere Decke gekuschelt, die ihr auf einmal auch ein bisschen zu viel ist. Sie streckt ihr linkes Bein hervor und zieht ihr Knie an, sodass es in Richtung der Bettkante zeigt.

Lucius sagt kein Wort, als er sich neben sie legt und er zieht sie auch nicht näher zu sich, so wie er es manchmal tut, wenn sie beide noch nicht eingeschlafen sind. „Das war schön.“ Sie schmiegt sich mit ihrem Rücken an seinen Oberkörper und freut sich, als er seine Lippen kurz auf ihr nacktes Schulterblatt legt. „Lass uns weiter darüber reden, ja?“ Sie hofft, dass das weniger wie eine zögerliche Nachfrage, sondern mehr nach einem handfesten Vorschlag klingt, denn sie kann und will das glückliche Pochen ihres Herzens, das nur von dem seligen Pochen zwischen ihren Beinen überboten wird, nicht ignorieren. Es kommt ihr so vor, als würden sogar ihre Zehenspitzen glücklich kribbeln.

„Versprochen.“ Zufrieden schließt sie die Augen und denkt nicht mehr länger an das große, hübsche Mädchen in der blauen Bluse, das den Stein ins Rollen gebracht hat.

 

 

 

 

Chapter 13: Läufer

Chapter Text

13 – Läufer



„Wir besuchen heute meinen Vater.“ Überrascht sieht sie von der Samstagsausgabe des „Tagespropheten“ auf, dessen Titelseite den Tod des ehemaligen Zaubereiminister Norbert Leach verkündet. Der Kaffee in ihrer Tasse ist so heiß, dass ihre Zunge sich ganz verbrannt anfühlt, doch Lucius' Ansage erwischt sie eiskalt.

„Warum das?“

„Er wünscht es sich. Die Eule hat mich im Badezimmer aufgesucht.“ Sie bemerkt die rosafarbenen Striemen auf seinem Handrücken und schließt daraus, dass der Vogel entweder nicht allzu freundlich oder ein wenig ungeschickt ist. „Er hat explizit darum gebeten, dass du mich begleitest. Ich kann mir vorstellen, dass er mit dir über dein Studium sprechen möchte.“

„Aber es geht doch erst nächste Woche richtig los.“ Und sie sprach ganz und gar nicht gerne darüber, weil sie allmählich doch ein bisschen aufgeregt war. Ihre blinde Begeisterung darüber, an der Hochschule für Praktische Hexerei zu Cambridge angenommen worden zu sein, verwandelt sich seit einigen Tagen in blanke Panik. Sie hat gewissenhaft die Lehrbücher angelesen und sich an einigen Zaubern versucht, die UTZ-relevant waren, auch wenn sie in ihrer eigenen Prüfung nicht vorgekommen waren.

Lucius zuckt ratlos die Schultern. Es spielt ja auch eigentlich keine Rolle. Wenn Abraxas Malfoy einen Brief schreibt und nach ihrer Anwesenheit verlangt, dann ist es beschlossene Sache, dass sie sich noch einmal vor den Spiegel stellen und überlegen wird, ob sie sich in ihren Kleidern auch wirklich gefällt.  Geduldig beobachtet Lucius sie dabei, wie sie sich gegen den bequemen, gepunkteten Pullover und die weiche Stoffhose entscheidet, die sie an einem anderem Sonnabend getragen hätte und zu einem schwarzen Rock greift, der eine angemessene Länge hat, solange sie sich nicht bückt oder in die Hocke geht. Bedächtig knöpft sie eine dunkelblaue Bluse zu, die schlicht, aber trotzdem irgendwie schick ist. Schließlich greift sie noch zu den Perlenohrringen ihrer Großmutter Melania, die ein gutes Händchen für Schmuck hat und ihr stets bedächtig ausgewählte oder gar keine Geburtstagsgeschenke machte.

Als sie erneut einen kritischen Blick auf ihr Spiegelbild wirft, verliert Lucius endgültig die Nerven. „Du siehst gut aus. Und mein Vater legt ohnehin mehr Wert auf Pünktlichkeit als auf die äußere Erscheinung.“ Mit ziemlicher Sicherheit achtete er auf beides, doch es war nicht ihre Schuld, dass Lucius ihr verschwiegen hatte, dass sie zu einer ganz bestimmten Uhrzeit erwartet wurden. Eilig bürstete sie ihre Haare und entschied sich gegen eine umständliche Frisur, ehe sie ihm in Richtung des Kamins folgte, der in dem Wohnzimmer neben der kleinen Küche war. Der Raum wurde von ihnen überwiegend zum Lesen genutzt und  die Bücher stapelten sich auf dem kleinen Tisch vor dem Sofa. In der Ecke stand aus ihr unerklärlichen Gründen ein Klavier, auf dem Lucius entweder niemals spielte oder gar nicht spielen konnte. Die Tasten waren abgedeckt und dort, wo Notenblätter Platz finden könnten, war eine Akte, die Lucius aus dem Ministerium übers Wochenende mitgenommen hatte.

Sie verteufelte Lucius und seine Manieren, weil er ihr den Vortritt ließ und sie so eine endlose Minute lang im Salon von Malfoy Manor stand und von Abraxas Malfoy stumm belächelt wurde. Der Hausherr saß, vollständig in Schwarz gekleidet, in einem Sessel und beobachtete den Kamin wie ein mäßig interessantes Schauspiel. Als Lucius hustend ankam, erhob Abraxas sich und ging auf sie zu. Aus einem Reflex heraus reichte sie ihm ihre Hand und erstarrte beinahe zu Salzsäule, als er ihr ganz vornehm einen Kuss auf den Handrücken gab.

„Wie schön, dich so rasch wiederzusehen. Ich kann mir gar nicht erklären, welche Umstände dazu geführt haben, dass ich dich bisher noch nicht in meinem Haus begrüßen durfte.“ Diese Bemerkung ging ganz eindeutig an Lucius, der sich dazu jedoch ganz eindeutig nicht äußern wollte, sondern demonstrativ noch ein wenig mehr hustete.

„Vielen Dank für die Einladung.“ Abraxas Malfoy machte eine abwinkende Geste.

„Der pure Eigennutz, meine Liebe! Ich habe gehofft, dass du mir ein wenig Gesellschaft leisten würdest.“ Er wandte sich Lucius zu. „Ich möchte das Nähzimmer deiner Mutter renovieren und ich weiß ja nicht, welche Gegenstände in deinen Augen irgendeinen Wert haben, deswegen bitte ich dich, alles sehr gründlich durchzusehen und mitzunehmen, was du behalten möchtest. Die Möbel und Bücher werde ich auf dem Dachboden einlagern und ich denke, die Kleider könnte man spenden, da hat bestimmt noch jemand Freude dran. Aber für den übrigen Kitsch habe ich keine Verwendung. Am besten fängst du gleich an, dann bist du heute Nachmittag fertig und ich kann bis nächste Woche noch etwas besehen.“

Vollkommen entgeistert sah Lucius seinen Vater an und sie machte eine gedankliche Notiz, dass Abraxas Malfoy kein Mann von großen Vorwarnungen zu sein schien.

„Hast du den Weg vergessen? Die Treppe hinauf und dann die dritte Tür links.“ Ihr fehlt es entschieden an Vorwissen, was diese Spannung zwischen Vater und Sohn angeht, aber sie kann sich nicht erinnern, jemals so eine Wut in Lucius Augen gesehen zu haben.

Lucius hat seit ihrer Ankunft in dem Salon noch immer kein Wort gesagt und verlässt konsequent schweigend das Zimmer. Ganz flüchtig streift seine Hand im Vorbeigehen ihren Unterarm und sie kann erahnen, dass er diese Situation bedauert.

„Wollen wir im Garten Platz nehmen? Das Wetter ist ja immer noch ganz herrlich.“ Abraxas Malfoy bietet ihr seinen Arm an und sie hakt sich vorsichtig ein.

„Sehr gerne.“

Bei dem Gang durch die schier endlosen Flure des Manors kann sie nicht anders, als die üppige und doch geschmackvolle Dekoration und die Deckenmalereien zu bewundern. Irgendjemand hat sich die Mühe gemacht, ein kompliziertes Muster aus dornigen Ranken und Rosen an die Decke zu pinseln. Zwischen den einzelnen Türen hängen Gemälde, die von einem klassischen Sinn für Kunst zeugen. Sie fragt sich, ob es Originale sind, kann es aber nicht glauben, denn ansonsten wäre der Wert einer einzigen, langen Wand unermesslich. Der Garten hat keine sichtbaren Grenzen, sondern geht auf der einen Seite in ein kleines Wäldchen, auf der anderen Seite in ein weites Feld über. In der Ferne meint sie Pferde auf einer Koppel zu erkennen, doch ein dazugehöriger Bauernhof oder ein anderes Haus ist nicht sichtbar. Womöglich ist der Horizont aber einfach nur verzaubert, damit die Aussicht nicht gestört ist.

In einem sonnigen Eckchen erwarten sie ein Tisch und drei gepolsterte Gartenstühle. In der Mitte des Tisches erhebt sich ein weißer Sonnenschirm mit verspielten Fransen. Auf dem Tisch steht ein Krug mit einer klaren, goldenen Flüssigkeit und zwei Gläser. Nichts davon ist Zufall. Dieser Vormittag ist offensichtlich von langer Hand geplant und ordentlich vorbereitet worden.

Sobald sie Platz nehmen, schenkt die Karaffe ihre Gläser ein und sie versucht, einfach immer weiter zu lächeln und dabei nicht allzu verkrampft auszusehen.

„Lucy fehlt hier wirklich sehr.“ Einen Augenblick lang stutzt sie ob der befremdlich klingenden Abkürzung für Lucius' Vornamen, doch dann fällt ihr ein, dass sie keine Ahnung hat, wie seine Mutter eigentlich hieß. Diese Frage hat sie nie gestellt und auf einmal schämt sie sich für ihr Desinteresse. „Aber es ändert ja nichts und ihren Unrat aufzuheben, das macht sie auch nicht wieder lebendig… Lucius hing wirklich sehr an ihr. Ich bezweifle, dass er über mein Ableben ebenso traurig sein wird.“ So einen vertraulichen Tonfall hat sie nicht erwartet. So unverblümt hat sie kaum je einen erwachsenen Mann sprechen hören. Ihr eigener Vater ist doch meist um mehr Diplomatie bemüht.

„So etwas dürfen Sie doch nicht denken!“ Die Mundwinkel von Abraxas Malfoy heben sich und er tätschelt über den Tisch hinweg ihren Handrücken.

„Du bist ein liebes Mädchen, Narzissa. Ich bin wirklich froh, dass Lucius dich kennengelernt und bisher nicht verschreckt hat. Ich kann mir vorstellen, dass du eben so wenig über mich weißt wie ich über dich. Vielleicht fangen wir damit an, dass ich Abraxas heiße. Ich mag es nicht, in meinem eigenen Haus wie ein Fremder angeredet zu werden.“

„Verzeihung, ich wollte nicht unhöflich sein. Wir… wir kennen uns ja kaum.“

„Das ist sehr richtig und es ist an der Zeit, das zu ändern, nicht?“ Sie nickt stumm und weiß nicht genau, warum sie sich ihre Skepsis erhält. Abraxas Malfoy scheint auf seine kühle, lakonische Art doch einigermaßen herzlich zu sein – und seit Lucius irgendwo im Haus verschwunden ist, wirkt er auch ein wenig gelöster. „Mein Sohn hat sich neulich dazu hinreißen lassen, zu erwähnen, dass du bald mit deinem Studium anfängst. Erzähl mir etwas darüber. Was möchtest du machen und warum?“

„Ich habe einen Studienplatz in Cambridge bekommen. Für Zauberkunst und Zauberspruchlehre. Der Unterricht von Professor Flitwick hat mir schon in Hogwarts am meisten zugesagt und ich interessiere mich sehr dafür, wie Zaubersprüche funktionieren und wie das Zusammenspiel von Magie, Bewegung und Sprache ist. Ich möchte mich einfach noch mehr damit beschäftigen… es gibt ja so viele Zauber, man kann sie nicht alle lernen, aber na ja…“

„Wenn man dich in Cambridge genommen hat, dann musst du sehr gut sein. Gab es eine praktische Aufnahmeprüfung?“

„Bisher nicht. In der ersten Woche des Semesters gibt es wohl noch einige Auswahlverfahren… aber ich hoffe, dass ich dabei keine Probleme haben werde.“ Hoffentlich klang das nicht allzu naiv oder so, als würde sie sich selbst gnadenlos überschätzen. Ihr fiel ein Stein vom Herzen, als sie sah, dass Abraxas Malfoy anerkennend nickte und einen Schluck aus seinem Glas nahm. Ein wenig zögerlich betrachtete sie ihr eigenes Glas. Die Flüssigkeit darin hatte die Farbe von Whiskey, doch sie konnte sich eigentlich nicht vorstellen, dass dieser Mann ihr vor zwölf Uhr mittags einen Whiskey anbieten würde.

„Eistee.“ Er zwinkert ihr freundlich zu. „Wenn dir die Farbe nicht gefällt, dann kannst du mir ja eine kleine Kostprobe anbieten.“ Das Verwandeln der Farbgebung von Flüssigkeiten, ohne dabei versehentlich eine Veränderung ihres Aggregatzustandes oder Geschmacks herbeizuführen, war nicht unbedingt eine Kleinigkeit – und obendrein alles andere als gebräuchliche Haushaltshexerei.

„Ich habe meinen Zauberstab leider nicht mitgenommen.“

„Na und? Versuch es trotzdem. Ich werde auch nicht lachen, wenn es nicht gerät.“

Herausfordernd leerte er sein Glas mit einem einzigen, langen Schluck und nickte ihr aufmunternd zu. Vorsichtig legte sie ihre Hand auf die gläserne Seite des Kruges, um ihre Fingerspitzen auf die Temperatur einzustellen. Es wäre nichts als Angeberei, lautlos zu zaubern, aber aus irgendeinem Grund widerstrebte es ihr, die Stimme zu erheben. Es war beinahe unmöglich, ohne Zauberstab und Stimme ernsthaft etwas ausrichten zu wollen. Sie vollführte sicherlich dreimal dieselbe Bewegung mit ihren Fingern und konzentrierte sich verzweifelt auf die Formel, ehe sich die klare, goldene Flüssigkeit langsam veränderte. Die eine Hälfte des Inhalts erinnerte sie an Limonade, die andere Hälfte hatte immer noch diesen seltsamen Goldton, der sie stutzig gemacht hatte. Ihre Hand verkrampfte sich, aber der Schmerz, der sich bis zu ihrem Ellenbogen ausbreitete, lohnte sich. Der gesamte Inhalt des Kruges hatte seine Farbe verändert und obwohl es nun wirklich keine umwerfende Leistung  darstellte, war sie stolz auf sich. Abraxas Malfoy applaudierte – und vielleicht verspottete er ihre Anstrengungen und ihre Weigerung, für dieses Stückchen Magie den Mund zu öffnen, auch ein wenig.

„Sehr beeindruckend.“

„Danke.“ Sie will einfach mal daran glauben, dass sie in seinen Augen kein unterhaltsames Zirkusäffchen ist, sondern er wirklich die Absicht hat, sie besser kennenzulernen. Obschon sie mit diesem Vormittag nicht gerechnet hat, muss sie feststellen, dass sie nun doch ziemlich neugierig auf diese Person ist, die Lucius bisher beinahe ausschließlich als unangenehm skizziert hat. „Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen?“

„Ich bitte darum.“

„Wie ist Ihre Frau gestorben? Lucius hat nur einmal ein wenig darüber gesprochen und ich… ich fühle mich immer so fürchterlich, ihn danach zu fragen.“ Es ist nämlich beinahe eine sichere Sache, dass so ein Gespräch ihm den gesamten Tag ruinieren konnte und bislang hatte es einfach keinen Tag gegeben, den sie auf diese Weise ruinieren wollte. Womöglich traf Abraxas Malfoy ihre Erkundigung ebenso hart, doch falls dem so war, dann kaschierte er es sehr gut.

„Drachenpocken. Ein sehr schneller, schwerer Verlauf der Krankheit. Im Gegensatz zu mir war Lucy begnadet darin, das Heilmittel gegen die gemeine Drachenpockenerkrankung herzustellen, aber sie war nie zufrieden mit dem bestehenden Rezept. Bei einer ihrer Forschungen müssen die Pocken noch einmal mutiert sein, sodass sie selbst nicht früh genug erkannt hat, dass sie sich angesteckt hat. Es war in den Sommerferien, Lucius war daheim, aber ich bin eine Woche im Norden gewesen, um in den dortigen Apotheken nach dem Rechten zu sehen. Als ich nach Hause kam, war es schon zu spät. Sie hat behauptet, sie hätte sich den Magen verdorben und sich in ihrem Zimmer eingeschlossen. Ihr ganzer Körper war übersät von den Pocken… ihre Haut war ganz schuppig, ich hab mein Bestes getan, um sie zu behandeln, aber es war zwecklos.“ Er zuckt mit den Schultern. „Ich bin nur froh, dass Lucius sich nicht auch noch angesteckt hat.“

Er knöpft in aller Seelenruhe sein Hemd auf und sie beobachtet fasziniert und ganz ohne Scham, wie er seine blasse, mit grünlich vernarbten Stellen überzogene Brust freilegt. Niemand, den sie kennt, ist je an Drachenpocken gestorben und sie weiß nur von den kleinen Informationsbroschüren, die permanent im St. Mungo und in den Apotheken ausliegen, wie die Pocken aussehen.

„Ich gebe mir selbst noch optimistische drei Jahre, ehe sich mein Gesundheitszustand merklich verschlechtern wird. Die Mutation ist unberechenbar und Lucy war noch einmal zwei Jahre jünger als ich… allerdings auch von eher schwächlicher Konstitution. Eine zarte Erscheinung, die schon an einer gewöhnlichen Erkältung länger zu knabbern hatte als ich oder Lucius.“

Er schließlich die Knöpfe seines Hemdes wieder und nun ist sie endgültig um Worte verlegen.

„Das tut mir alles sehr leid.“

„Ach, das ist nun mal der Gang der Dinge. Wir sind alle nicht unsterblich. Ich bin nur froh, dass ich noch erleben kann, wie aus Lucius ein richtiger Mann wird. Vielleicht lerne ich ja sogar noch meine Enkelkinder kennen.“ Er zwinkert ihr freundlich zu, aber sie ist sich trotzdem sicher, dass er keinen lockeren Scherz gemacht hat, sondern das Gespräch von Anfang an in diese Richtung gehen sollte. „Habt ihr euch schon für ein Datum entschieden?“

Sie starrt ihn an und hofft, dass sie dabei nicht allzu blöde aussieht. Falls er mit einer prompten Antwort von ihr gerechnet hat, lässt er es sich nicht anmerken und spricht einfach weiter.

„Eine Verlobungszeit von einem Jahr wäre ja nun klassisch, aber so genau muss man die Sache ja nicht nehmen. Ihr seid noch sehr jung, aber so jung nun auch wieder nicht. In eurem Alter war ich auch schon verheiratet und deiner Schwester hat es ja auch nicht geschadet, sich nicht so viel Zeit zu lassen. Und überhaupt, warum mit einem Bund fürs Leben warten, während die Lebenszeit verstreicht?“

„Wir haben noch kein Datum ins Auge gefasst.“ Sie spürt, wie kleine Schweißperlen sich in ihrem Nacken bilden und ihren Rücken herunterlaufen. Um ein wenig Zeit zu gewinnen und sich abzukühlen, nimmt sie noch einem Schluck von dem Eistee, der wie Limonade aussieht. Hat sie wirklich geglaubt, sie wäre hier, um mit Abraxas Malfoy über Belanglosigkeiten oder ihr Studium zu plaudern? Was ist sie doch wieder dumm gewesen. „Und ich fühle mich eigentlich sehr wohl in der aktuellen Situation.“

„Das kann ich mir denken und ich sage ja auch nicht, dass ihr gleich morgen vor den Traualtar treten sollt, aber es ist doch viel schöner, wenn so eine Hochzeitsfeier wohlgeplant ist und nicht in aller Eile stattfinden muss.“ Er seufzt und dieses verständnisvoll anmutende Geräusch ist dermaßen kalkuliert, dass sie sich ganz gehörig zusammenreißen muss, um nicht nervös mit ihren Fingern auf der Tischplatte zu trommeln. „Lucy und ich haben geheiratet, als sie noch nicht einmal ganz volljährig gewesen ist, aber es ging nicht anders. Wir haben nicht aufgepasst und sobald wir wussten, dass Lucius auf dem Weg ist, mussten wir handeln. Als er geboren wurde, war ich 18 und sie erst 16… ich habe lange Zeit gedacht, dass wir viel zu jung gewesen sind, um Eltern zu sein, aber wenn ich jetzt sehe, wie alles ausgegangen ist, dann bin ich froh darum. Sonst hätten wir weniger Zeit zusammen als Familie gehabt.“ Die Bluse klebt mittlerweile an ihrem Rücken und als er sich räuspert, würde sie es ihm am liebsten gleichtun, so verlegen ist sie. „Aber die Zeiten haben sich geändert und ihr seid heute viel klüger als wir damals. Ihr passt doch auf, oder?“

Sie will gar nicht wissen, welche Farbe ihr Gesicht in diesem Moment hat. Wenn ihr etwas unangenehm ist, dann errötet sie wie jeder andere Mensch auch, aber es gibt einen gewissen Punkt, an dem sie tödlich erbleicht. Und dieser Punkt könnte soeben leicht erreicht worden sein. In den letzten Wochen sind Lucius und sie immer wieder ein Stück weiter gegangen und sie hat sich mittlerweile daran gewöhnt, sich vor ihm an- und auszuziehen, aber trotzdem haben sie immer noch nicht richtig miteinander geschlafen. Bei dem Gedanken daran, dass seine Finger erst gestern Abend in ihr gewesen sind, könnte sie auf der Stelle tot vom Gartenstuhl kippen. Sie schickt ein Stoßgebet zum Himmel, dass Abraxas Malfoy in diesem Moment keine von ihr unbemerkten legilmentischen Fingerübungen anwendet.

Als sie schon glaubt, dass die unangenehme Stille nicht mehr intensiver werden könnte, greift Abraxas Malfoy auf einmal in seine Hosentasche und stellt einen kleinen Flakon mit einer dunkelblauen Flüssigkeit auf den Tisch.

„Ich weiß, dass Lucius mich nie danach fragen würde und ja, es gibt Zaubersprüche und ich zweifele keine Sekunde daran, dass du das Talent hast, sie korrekt auszuführen, aber bei einem Zauberspruch weiß man doch nie ganz sicher, ob er funktioniert, ehe es zu spät ist. Und diese Art von Schutzzaubern sind sehr viel kniffliger als man meinen sollte. Außerdem neigt man ja auch dazu, so einen kleinen, komplizierten Spruch im entscheidenden Moment zu vergessen… deswegen betrachte das hier als mein Geschenk zur Verlobung. Und bitte schau nicht so, als hätte ich dir eine Acromantula vorgesetzt. Das ist doch wirklich das Natürlichste auf der ganzen Welt.“

Ganz vorsichtig – es könnte ja auch ein Test sein und er gibt sich hier lässig, um ihre Moral zu prüfen – nimmt sie den Flakon, betrachtet den Inhalt aus der Nähe und steckt ihn in die Tasche ihres Rocks.

„Danke.“ Was bleibt ihr auch sonst zu sagen? Alles andere wäre nur unhöflich. Mit einem Mal muss sie daran denken, dass Bella ihr vor über zwei Jahren ein ganz ähnliches Geschenk gemacht hat. Drei Tage nach der Hochzeitsfeier ist ihr Bellas Bemerkung wieder in den Sinn gekommen und sie hat in der Schublade ihres Nachttischchens eine deutlich kleinere Phiole mit einem ähnlich aussehenden Inhalt entdeckt. In jenem Sommer ist es allerdings keine Option gewesen, den Trank ernsthaft zu verwenden und als sie nach Hogwarts abgereist ist, hat sie das schwesterliche Geschenk zuhause vergessen und nicht vermisst. Als sie in den Weihnachtsferien zurück zu ihren Eltern gefahren ist und den Flakon wiederentdeckt hat, da hat sie den Trank sicherheitshalber in den Abfluss geschüttet, weil sie unsicher ob der Haltbarkeit gewesen ist und überhaupt. Doch diese persönliche Übergabe durch Abraxas Malfoy ist von einem anderen Kaliber als Bellas vermeintliche Fürsorge.

„Nicht so scheu, ihr seid erwachsene Menschen. Wenigstens auf dem Papier.“ Diese Behauptung steht in einem krassen Gegensatz zu der Haltung ihrer Mutter, die sie in diesem Sommer bei jeder sich bietenden Gelegenheit – und das waren nicht viele gewesen, denn sie hat Besuche in ihrem Elternhaus vermieden – daran erinnert, dass sie ja eigentlich noch ein Kind ist.

„Verstehen Sie mich nicht falsch, aber ich habe Sie anders eingeschätzt.“ Abraxas Malfoy lacht herzlich auf und sieht aufrichtig erheitert aus.

„Das kann ich mir denken! Wir haben uns bei Lucius' Erziehung vielleicht in einigen Punkten… verschätzt. Lucy und ich waren uns einig, dass wir nicht wollen, dass er selbst so wenig von seiner Jugend hat wie wir und haben ihn deshalb… na ja, ich will nicht sagen, wir haben ihm sehr konservative Ansichten vermittelt, aber er hat doch eine vornehme Zurückhaltung in einigen Dingen entwickelt. Nicht, dass meine Eltern mich früher nicht auch gemaßregelt hätten, wenn ich meine schöne Cousine ein bisschen zu lange angeschaut habe, aber ich habe mir ihre warmen Worte und Warnungen vor dem weiblichen Geschlecht nie besonders zu Herzen genommen. Diese Leichtfertigkeit scheint mir jedoch eher ein Problem meiner Generation zu sein oder bekommst du die Zähne heute noch einmal auseinander?“

„Ich weiß es nicht. Meine Eltern… sie haben sehr darauf geachtet, dass meine Schwestern und ich lernen, uns wie richtige Damen zu verhalten und an dieser Unterhaltung ist rein gar nichts damenhaft.“ Ihr Gegenüber schmunzelt, greift über den Tisch und tätschelt ihr erneut aufmunternd den Handrücken.

„Wäre ich wie dein Vater mit drei schönen Töchtern gesegnet, dann würde ich mir auch ganz andere Sorgen machen!“ Er zieht seine Hand zurück und nimmt noch einen ausgiebigen Schluck aus seinem Glas. „Ich weiß ja nicht, wie es dir geht, aber ich habe das Gefühl, jetzt ein bisschen besser Bescheid zu wissen, mit wem ich es zu tun habe.“

Sie nickt zustimmend und trinkt ihr Glas aus Verzweiflung leer. Mittlerweile ist sie sich zwar sicher, das Schlimmste überstanden zu haben, aber sie will sich nicht wieder in Sicherheit wähnen, nur um böse überrascht zu werden.

„Vielleicht widmen wir uns etwas schlichteren Gesprächsthemen? Liest du gerne Zeitung?“

„Manchmal.“

„Welche Zeitungen?“

„Lucius hat den „Tagespropheten“ für uns bestellt und zuhause habe ich mich auch manchmal durch die „Hexenwoche“ meiner Mutter gelesen, aber ich wüsste gar nicht, welche Wochen- oder Tageszeitungen ich für mich allein aussuchen würde. Ich finde den Propheten meistens sehr informativ.“

„Hm. Also fandest du die heutige Titelseite nicht ein wenig kitschig? Etwas überzogen? An den guten Mr. Leach ist ja schon zu Lebzeiten recht viel Tinte verschwendet worden, warum das Thema noch einmal groß aufbereiten, wenn in China wieder Hexen und Zauberer im großen Stil verfolgt werden, die Kobolde im Balkan eine blutige Revolution anzetteln und der Wert der britischen Galleone sinkt, nur weil in Russland neu gewählt wurde.“

„So gut kenne ich mich in der Weltgeschichte nicht aus, aber wenn ein ehemaliger Zaubereiminister verstirbt, dann gehört es sich doch, einen Nachruf zu drucken.“

Auf einmal erinnert sie sich an ein Gerücht, das vor einigen Jahren beim Jahreswechsel die Runde gemacht hat. Ihr Großvater Pollux, der immer noch viele Freunde hat, die im Zaubergamot sitzen, hat zu erzählen gewusst, dass der Zaubereiminister Nobby Leach aufgrund einer ominösen Krankheit zurücktreten musste. Man munkelte, die Malfoys, die im Besitz des Löwenanteils aller magischen Apotheken in Großbritannien waren, wären in die Entstehung dieser Krankheit verwickelt. Sie konnte sich nicht an die genauen Zusammenhänge erinnern, die ihr Großvater ihnen vorgetragen hatte, doch sie ahnte, dass sie sich in ein Fettnäpfchen begeben hatte. Und das ausgerechnet jetzt, wo es doch ein bisschen weniger aufregend werden sollte. Der forschende, kühle Blick von Abraxas Malfoy ruhte auf ihr und er schien davon auszugehen, dass sie noch nicht fertig gesprochen hatte und einen Rückzieher machen würde.

„Also ich finde, es ist eine Frage von Anstand, einen Zaubereiminister oder eine Zaubereiministerin zu würdigen – unabhängig davon, ob er sich politisch hervorgetan hat oder nicht. Ein Zaubereiminister ist ein Zaubereiminister.“

„Das sind wohlgewählte Worte. Du bist also nicht der Ansicht, dass Norbert Leach ein ausnehmend schlechter Minister gewesen ist?“

„Offen gestanden weiß ich kaum etwas über ihn, abgesehen davon, dass er von Muggeln abstammt. Aber das hat ja nichts mit seinen Führungsqualitäten und seiner politischen Gesinnung zu tun.“ Die Augenbrauen ihres Gegenübers sind mächtig in die Höhe geschossen und mit einem Mal ähnelt Abraxas Malfoy seinem Sohn sehr. Wenn sie etwas sagt, das Lucius nicht so einfach hinnehmen möchte, dann guckt er genauso. Es ist noch keine ausgewachsene Streitlust, aber es geht doch in eine ähnliche Richtung.

„Die Frage nach dem Blut ist also in deinen Augen keine hochpolitische Angelegenheit?“ Ein wenig ratlos zuckt sie mit den Schultern, denn sie kann sich schon denken, dass die Wahl von Norbert Leach in gewisser Hinsicht ein politischer Skandal und eine Premiere gewesen ist, aber sie erinnert sich auch daran, wie ihre Eltern ihnen davon erzählt und dabei betreten eingeräumt haben, dass es keinen besseren Kandidaten gegeben habe. Mit einer kindlichen Sensationsgier hatten ihre Schwestern und sie den aufsehenerregenden Rücktritt von Ignatius Tuft verfolgt, der trotz seiner kurzen Amtszeit von drei Jahren der erste Zaubereiminister war, den sie bewusst wahrgenommen hatte. Nachdem Tuft ein Zuchtprogramm für Dementoren einführen wollte, war er mit Gebrüll und Geschrei aus dem Zaubergamot gejagt worden. Ihr Großvater, der zu dieser Zeit noch selbst einen Sitz dort innegehabt hatte, war sich nicht zu schade gewesen, für seine Enkelkinder ein großes, tumultartiges Märchen aus diesem unrühmlichen Abgang zu stricken. Im direkten Vergleich zu dem Dementorenzüchter war Nobby Leach ihr immer ein wenig langweilig vorgekommen. Er war ein freundlich aussehender Mann, der oft kritisiert wurde, aber besonders viel wusste Narzissa wirklich nicht über ihn. Sie hatte sich auch nie tiefergehende Gedanken darüber gemacht, dass ihr Großvater seinen Sitz im Gamot kurz nach der Amtsübergabe an Nobby Leach aus freien Stücken aufgegeben hatte.

„Wahrscheinlich ist es eine hochpolitische Angelegenheit… aber ich verstehe nicht besonders viel von Politik. Mein Lieblingsteil der Zeitung ist die Rätselseite.“ Warum sollte sie lügen? Wieso sollte sie noch angeben oder versuchen, zu glänzen, nachdem sie sich damit abgemüht hatte, ohne Stab und Stimme ihren Eistee zu verhexen?

„Wenn das so ist, dann wollen wir auch nicht von Politik sprechen. Ich sehe dahinten meinen faulen Kater. Wollen wir ihn anlocken, damit du Merlin kennenlernen kannst? Dann ist die Familie auch komplett.“ Abraxas Malfoys Gnade überraschte sie über alle Maße und sie nickte erfreut. Er gab ein kleines Pfeifen von sich und sie beobachtete fasziniert, wie eine schwarz-weiß gefleckte Katze sich durch das hoch gewachsene Gras ihren Pfad zu ihnen suchte.

* * *



Es wird Mittag, es wird Nachmittag und ihr ist fast abendlich zumute, als Lucius schließlich im Garten auftaucht. Die ganze Zeit über ist Abraxas Malfoy ihr nicht von der Seite gewichen. Er hat die Hauselfe gebeten, ein leichtes Mittagessen und noch mehr Eistee für sie auftischen zu lassen und ehe sie einander langweilen können, erinnert er sich plötzlich daran, dass im Wohnzimmer noch immer ein alter Block mit Kreuzworträtseln liegt, den Lucrezia Malfoy sich kurz vor ihrem Tod angeschafft hat. Triumphierend präsentiert er ihr den angestaubten, kaum begonnenen Block und sie vertreiben sich mehrere Stunden damit, gemeinsam die Rätsel auszufüllen. Sie ist die Schriftführerin und Abraxas besteht darauf, dass sie alles einträgt, was sie selbst weiß, ehe er sich einmischt. So sitzen sie da und während sie eifrig schreibt, krault er seinen Kater und schaut sich in der Gegend um. Dann beginnt der wesentlich spannendere Teil des Prozederes. Er nennt nämlich nicht einfach nur die Antworten, sondern schickt immer eine ausführliche Erklärung oder eine Anekdote mit und so braucht ein schlichtes Rätsel seine Zeit.

Als Lucius aus dem Haus kommt und sie in einträchtiger Stille nebeneinander sitzen sieht, runzelt er die Stirn. Es wird sehr schnell deutlich, dass er nicht die Absicht hat, sich zu ihnen zu setzen und deshalb legt sie die Feder aus der Hand. Zögerlich sieht sie vom Rätselblock in Richtung von Abraxas Malfoy.

„Nimm ihn ruhig mit.“

„Ach, nein, da komme ich ja doch nicht weit.“

„Dann verstaue ich ihn wieder und wir machen beim nächsten Mal weiter.“ Er lächelt ihr zu und wendet sich dann an Lucius, der erschöpft aussieht. „Bist du fertig?“ Lucius nickt, aber er sagt immer noch kein Wort. Die ganze Zeit über hat er sich nicht ein einziges Mal sehen lassen. „Dann will ich euch den Rest von eurem Samstag lassen. Herzlichen Dank für den Zeitvertreib, meine Liebe. Es ist schon etwas länger her, seitdem ich meine Gehirnzellen am Wochenende so angestrengt habe. Auf Wiedersehen.“

„Auf Wiedersehen, Abraxas.“ Um die Mittagszeit herum hat sie sich zum ersten Mal an der Verwendung seines Vornamens versucht und nun hat sie sich fast daran gewöhnt. Sie ignoriert die Tatsache, dass Lucius' Augen sich überrascht weiten, erhebt sich, gibt seinem Vater die Hand, krault Merlin kurz hinter den Ohren und folgt Lucius dann zu dem Kamin, in dem sie vor einigen Stunden angekommen sind.

Erst als sie wieder in ihrer Wohnung stehen, deren Wände ihr nach dem weiten Blick über die Ländereien des Manors doch sehr nahe scheinen, öffnet Lucius den Mund.

„Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat.“ Erst jetzt bemerkt sie, dass er eine Tasche bei sich hat, in der sich vermutlich etliche Habseligkeiten im Miniaturformat befinden. „Aber es sah fast so aus, als wärt ihr miteinander zurechtgekommen?“

„Dein Vater hat mich um den Finger gewickelt. Er hat sich sehr bemüht, mich zu beschäftigen und… ich weiß, ihr habt eure Probleme, aber ich fand ihn eigentlich doch recht sympathisch.“ Sympathie ist ein großes Wort, aber nach den anfänglichen Tiefschlägen hat sie sich in der Gegenwart von Abraxas Malfoy doch ziemlich wohl gefühlt.

„Das beruht scheinbar auf Gegenseitigkeit. Ich habe lange nicht mehr gesehen, wie er jemandem so lästig geworden ist. Ich hoffe, es gab wenigstens etwas zu essen?“ Sie nickt und er schnaubt nur verächtlich, während er sich auf das Sofa fallen lässt. Als sie sich neben ihn setzt, ihre Beine über seinen Schoß legt und besänftigend seinen Nacken streichelt, klirrt der Flakon in ihrer Rocktasche leise. „Was war das?“ Er hat die Augen für wenige Sekunden geschlossen gehabt, doch nun wirkt er hellwach. So als würde er die Antwort auf seine eigene Frage schon kennen.

„Nicht so wichtig.“

„Du bist eine elend schlechte Lügnerin.“ Seufzend zieht sie den Flakon hervor und präsentiert ihn kommentarlos. Zaubertränke ist nicht gerade das allerliebste Fach von Lucius, aber seitdem sie einmal gehört hat, wie Slughorn ihn für den „Blick des Sohns einer Apothekerdynastie“ gelobt hat, kann sie nicht mehr vergessen, dass das Vermögen der Malfoys unter anderem auf Heiltränken und Hustenmitteln gebaut ist. „Das hat er nicht getan.“

„Doch.“ Wenn er so entsetzt guckt, dann kann sie sich das Lachen kaum verkneifen, auch wenn sie selbst sicher nicht weniger schockiert ausgesehen hat. „Außerdem hat er sich erkundigt, ob wir schon ein Datum für die Hochzeit haben. Ich habe ihm mal nicht verraten, dass ich immer noch auf meinen Antrag warten muss.“

„Nimm mir das nicht übel, aber ich will einfach nur noch ins Bett.“

„Es ist noch nicht einmal sechs Uhr abends.“

„Mir egal.“ Er schließt die Augen, sie verstaut den Flakon wieder, legt ihren Kopf auf seiner Brust ab und versucht nicht zu genau darüber nachzudenken, dass sie Abraxas Malfoy heute vermutlich gleich auf mehreren Ebenen wie ein dummer Backfisch ins Netz gegangen ist.

Chapter 14: Bauer

Chapter Text

14 – Bauer



Als sie den Hörsaal verlässt, in dem sich zwei Dutzend fremde Gesichter eingefunden haben, ist sie unermesslich aufgeregt, obwohl es eigentlich gar nicht besonders spannend gewesen ist. Der Mann, der vor dem Plenum stand, hat überwiegend über die Organisation des Studiums gesprochen und eine Liste ausgeteilt, in der sie ihren Namen abhaken sollten, damit er einen Ablaufplan für die „Eignungsüberprüfung“ erstellen kann, die in der nächsten Woche stattfinden wird. Nach knapp einer Stunde hat der Mann, der sich gelangweilt als Professor Chamberlain vorgestellt hat, sie entlassen und ihnen geraten, sich im Gebäude umzusehen und sich einen Ausweis für die Bibliothek ausstellen zu lassen, um keine Startschwierigkeiten zu haben, wenn es nach der Überprüfung direkt losginge.

Narzissa hat einen Großteil der Zeit damit verbracht, ihre Mitmenschen zu beobachten. Sie staunt darüber, dass ihr auf den ersten Blick niemand bekannt vorkommt, obwohl alle Anwesenden so aussehen, als wären sie ungefähr in ihrem Alter. Natürlich ist ihr klar, dass es außer Hogwarts noch etliche Zauberschulen in Europa gibt, ach was auf der ganzen Welt, aber sie hat doch irgendwie damit gerechnet, dass sie jemanden wiedererkennen würde, den sie zuletzt im vergangenen Juli gesehen hat.

Diese milde Enttäuschung ihrer Erwartung an ein Wiedersehen weicht schlagartig einer echten Schockstarre, als sie hört, wie jemand ihren Vornamen flötet. Na ja, eigentlich ist es sogar noch schlimmer, denn ein zartes „Zissy“ klingelt ihr in den Ohren und als sie sich umdreht, sieht sie das breite Grinsen von Rabastan Lestrange, der mit weit geöffneten Armen auf sie zukommt.

Völlig wehrlos lässt sie sich von ihm umarmen und ein Stück hochheben. Rabastan ist nach seinem eigenen Abschluss von der Bildfläche verschwunden, sodass von der angedrohten Freundschaft nicht allzu viel übrig geblieben ist. In den Monaten, in denen sie voneinander als Freunde gesprochen haben, da hat sich ihr Kontakt allerdings auch auf freundliches, oberflächliches Geplänkel beschränkt, sodass es kein besonderer Verlust gewesen ist, ihn nicht mehr in Hogwarts zu haben. Durch Bella ist sie einigermaßen darüber informiert, was er in den vergangenen zwei Jahren getan hat, aber sie hat immer noch ihre Zweifel daran, ob er wirklich ganz allein durch den Dschungel gereist ist, um indigene, magische Völker kennenzulernen und Tierblut zu trinken.

Als er sie wieder loslässt, sieht sie ihn ganz genau an und sucht nach Veränderungen in seinem Gesicht. Seine Augen sind noch ein wenig dunkler als in ihrer Erinnerung, seine Haare sind ein bisschen länger, doch er trägt ein sauberes, ordentlich gebügeltes Hemd und es ist alleine sein Grinsen, das ihn irgendwie abgründig aussehen lässt.

„Und ich dachte noch, mir ist ein Engel erschienen! Was machst du hier, erzähl mir alles, musst du wohin? Wenn du jetzt Zeit hast, dann können wir einen Kaffee trinken? Oder Kakao? Magst du überhaupt Kaffee?“ Ganz selbstverständlich hat er einen Arm um sie gelegt und am liebsten würde sie einen Schritt zurücktreten, aber sie versucht, sich daran zu erinnern, dass diese etwas überzogene, körperbetonte Art zu Rabastan dazu gehört.

„Ich hatte gerade eine Einführungsveranstaltung – und ich habe jetzt Zeit.“

„Wunderbar! Dann müssen wir uns nicht im Stehen unterhalten. Soll ich deine Tasche tragen?“ Schnell schüttelt sie den Kopf und hofft, nicht allzu überrumpelt auszusehen, auch wenn sie mehr als nur ein bisschen aus der Fassung gebracht ist. Während er sie durch die verschlungenen Korridore und Treppenhäuser des Universitätsgebäudes führt, fragt er sie aus. Was sie studiert. Wie sie sich fühlt. Warum sie am ersten Tag so viele Bücher mitgenommen hat. Ob sie die Bibliothek schon gesehen hat, die wäre wirklich schön. Wie es ihr geht.

Atemlos lässt sie sich in einen der plüschigen Sessel fallen, sobald sie in einem Café angekommen sind, das zur Universität zu gehören scheint – oder zumindest im selben Gebäude ist. Rabastan macht der jungen Hexe hinter der Theke ein Zeichen und mehr scheint nicht nötig, um eine Bestellung aufzugeben. Aber jemand, der so groß und gutaussehend und aufdringlich wie Rabastan ist, der ist wahrscheinlich auch auf dem Campus bekannt wie ein bunter Gnom.

„Was machst du denn eigentlich hier? Das hast du noch gar nicht erzählt.“

„Ach.“ Rabastan macht eine abfällige Geste, als wäre es nicht so wichtig, was genau er eigentlich tut. „Kleine Besprechung mit meinem Professorchen. Ich hab die letzten zwei Jahre so gewissenhafte Feldforschung betrieben und immer brav mein Reisetagebuch geführt und jetzt sagt er mir, dass doch mehr als ein paar „jugendliche Traumsequenzen“ zu einer schriftlichen Prüfung gehören… na ja, abgesehen von der Unmenge an überflüssigen Adjektiven war er aber ganz zufrieden mit mir und im Dezember kann ich hoffentlich schon wieder zurück. Aber bis dahin muss ich wohl mal ein bisschen meinen Kram sortieren und mich hier langweilen.“ Er zieht eine Grimasse und erinnert sie auf einmal ganz frappierend an Sirius, der genauso guckt, wenn man ihm eine Aufgabe gibt, deren Umsetzung er als „unter seiner Würde“ betrachtet. „Ach so, ich studiere Völkerkunde. Nennt sich zumindest so. Eigentlich erforsche ich den Stellenwert von Magie in den verschiedenen Kulturen immer am Amazonas entlang. Unheimlich krasse Leute da. Viel freier und echter als hier. Da gibt es keine lächerlichen Geheimhaltungsabkommen, keine Ministerien, keine Normen für schriftliche Prüfungen und die Leute sind trotzdem glücklich. Und die besseren Zauberer. Es macht so viel aus, ob Kinder erst mit 11 oder von Geburt an anständig zaubern dürfen.“

Er unterbricht seinen Redefluss nur, um der jungen Hexe, die ihnen zwei dampfende, übergroße Tassen Kaffee und ein Kännchen mit Milch vorbeibringt, ein reizendes Lächeln zu schenken.

„Ich freue mich, dass du etwas gefunden hast, für das du so Feuer und Flamme bist.“ Das ist eine unglaubliche lahme Bemerkung und auf einmal erscheinen ihr ihre eigenen Zukunftspläne nicht nur langweilig, sondern verboten öde. Aber dann stellt sie sich vor, die Nächte im Dschungel zu verbringen, sich von Mücken zerfressen zu lassen und den ganzen Tag über feuchte, heiße Luft einzuatmen. Nur fremde Gesichter und fremde Wörter zu hören. Nein. Das wäre schrecklich. Ihr ganz persönlicher, exotischer Albtraum.

„Ja… ja, aber jetzt hab ich schon wieder nur über mich geredet, dabei wollte ich doch hören, wie es dir geht.“

„Gut. Mir geht es gut.“ Er verdreht die Augen und sie weiß schon, dass das jetzt keine besonders malerische Antwort gewesen ist. „Ich weiß noch nicht, wie ich es hier finde und ob ich überhaupt die erste Woche überstehe, aber mal gucken.“

„Und sonst so? Was machen deine Eltern? Wie geht’s Malfoy? Ich gehe davon aus, dass ihr noch zusammen seid, weil du nach ihm riechst.“

„Weil ich was?“ Sie musste sich wohl verhört haben.

„Ach keine Ahnung, was das ist, irgendein Waschmittel oder eine Seife oder so was. Ganz spezifischer Geruch. Vanille oder so. Ist dir das noch nie aufgefallen?“ Irritiert schüttelt sie den Kopf und zweifelt auf einmal an mindestens einem ihrer fünf Sinne. „Ja…was soll ich sagen, ich hab den Spürsinn eines Bluthunds. Also, ihr wohnt zusammen?“

„Du bist gruselig.“ Rabastan lacht fröhlich auf und wirkt beinahe geschmeichelt. „Und ja, wir wohnen zusammen. In London. Und ich bin froh darüber.“

„Kann ich mir denken. Wenn deine Schwestern es schon nicht mit deinen Eltern ausgehalten haben, warum solltest ausgerechnet du dann dort bleiben? Hast du auch mal von Andromeda gehört?“ Im ersten Moment glaubt sie, dass es ein Trick ist. Dass er diese Frage nur stellt, um sie im Zweifelsfall bei ihren Eltern oder Bella anschwärzen zu können. Dann bemerkt sie die schmerzvolle Neugierde in seinem Blick und erinnert sich daran, dass Andromeda und er sich zwischenzeitlich recht nahe standen. Wenigstens hatte sie diesen Eindruck.

„Hast du ihr geschrieben?“

„Um Himmels Willen!“ Seine Reaktion kommt ein bisschen zu hastig und er lächelt sie zerknirscht an. „Ich habe ihr eine Postkarte geschickt, als ich… na ja, ich bin danach quasi ohnmächtig geworden und erst nach knapp 24 Stunden wieder aufgestanden. Seitdem bin ich ein bisschen zurückhaltender, wenn es um gewisse Substanzen geht… ich wollte ihr nicht schreiben. Ich mochte sie immer, aber ich kann sie nicht mehr verstehen. Ich dachte immer, sie wäre einfach nur was schüchtern oder hat Angst vor Männern oder sonst was. Aber jetzt ist sie Mutter, verdammt nochmal, wir sind im selben Alter und sie hat einfach ein Baby und ist mit einem Schlammblut verheiratet.“ Er grimassiert mit jeder Silbe ein wenig mehr und stürzt den heißen Kaffee schließlich in einem Zug herunter. „Ich pack’s nicht. Ich pack es einfach nicht. Ich hoffe, sie ist wenigstens glücklich mit der Scheiße, die sie gebaut hat.“

„Bestimmt ist sie das.“

„Ist sie noch auf dem Stammbaum?“ Vor ihrem inneren Auge sieht sie das gnadenlose Brandloch zwischen sich selbst und Bella. Mit einem Kopfschütteln vertreibt sie das Bild.  „Dann hängt es wohl an dir, die altehrwürdige Blutlinie der Blacks zu erhalten.“ Er zwinkert ihr zu und sie ist froh, dass er diese Bemerkung offenbar nicht allzu ernst meint.

„Na ja, es gibt immer noch Bella – und Sirius und Regulus. Die Beiden sind ja auch irgendwann erwachsen… und ich befürchte, Sirius wird nochmal ein richtiger Herzensbrecher.“ In den Sommerferien hatte sie ihre Cousins nicht allzu oft zu Gesicht bekommen, eigentlich nur einmal, anlässlich des Geburtstags ihrer Mutter. Bei einer strengen Unterredung unter vier Augen hatte sie Sirius dazu verdonnert, ihr einmal im Quartal einen Brief zu schreiben – und sie war gespannt, ob sie vor Weihnachten überhaupt von ihm hören würde.

„Das wird sich ja in den nächsten Jahren zeigen… aber auf Bella sollte man keine allzu großen Hoffnungen setzen. Wenigstens deute ich die Resignation meines Bruders in diese Richtung.“ Rabastans Mundwinkel zucken. „Er hätte auch nicht gedacht, dass er sich in diesem Leben nochmal derartig die Zähne ausbeißen würde. An einer Frau. Er hat sie ganz gehörig unterschätzt… letzte Woche hat er mir anvertraut, sie hätte ihm in Frühling die Scheidung angeboten. Seither wird nicht mehr übers Kinderkriegen gesprochen.“

Sie sollte diejenige sein, die solche Dinge über ihre Schwester wusste, aber sie konnte sich nicht einmal daran erinnern, wann sie zuletzt alleine und länger als zehn Minuten mit Bella gesprochen hatte. Im Sommer waren sie und Rodolphus nach England zurückgekehrt. Rodolphus hatte offenbar irgendeinen der zahlreichen Studiengänge, die er jonglierte, abgeschlossen und Bella setzte ihre Studien in Oxford fort. So weit weg war sie also gar nicht, aber es kam Narzissa immer noch so vor, als wäre ihre Schwester in Russland, am anderen Ende der Welt.

„Wie sieht es denn bei dir aus? Hast du jemanden kennengelernt… unterwegs?“

„Ich habe sehr viele Menschen kennengelernt. Aber nein, auf mich wartet nicht der schöne Schrecken am Amazonas.“ Es war gar nicht ihre Absicht, ihn mit dieser Nachfrage zu verunsichern und sie staunt darüber, dass er auf einmal so viel leiser spricht. „Du hast doch nicht… Malfoy weiß das doch nicht, oder?“

„Ich habe keinen Grund, ihm so etwas zu erzählen.“ Seine Augenbrauen heben sich alarmiert und er legt hochkonzentriert seine Ellenbogen auf der Tischplatte ab.

„Bedeutet das im Umkehrschluss, dass du es ihm erzählen würdest, falls ich dir bis zu meiner nächsten Reise am Rockzipfel hänge und eure Beziehung damit in eine Krise stürze?“

„In diese Richtung habe ich noch nicht gedacht. Ich glaube, du überschätzt da gerade deine Macht.“ Oder sie überschätzte Lucius' Selbstbewusstsein. Die Wahrheit war, dass sie keine Ahnung hatte, ob er in Rabastan so etwas wie einen Rivalen sehen und sich zur Eifersucht hinreißen lassen würde. Ihr war aber auch nicht danach, Lucius auf die Probe zu stellen.

„Na ja, ich bin ja auch nicht hier, um Unruhe zu stiften. Wirklich nicht. Ich schwöre es. Aber jetzt, wo Malfoy ja quasi zur Familie gehört, wünschte ich doch fast, es wäre schon Weihnachten. Mit euch beiden, meinem lieben Bruder und Bellatrix an einer Tafel zu sitzen… ein Fest, das wäre ein Fest! Wahrlich ein Fest.“

„Dann musst du wohl bis Weihnachten im Lande bleiben.“ Mit einem gewaltigen, herrschaftlichen Seufzen lehnt Rabastan sich in seinem Sessel zurück und ihr kommt zum ersten Mal der Gedanke, wie sehr sie einander doch alle miteinander gleichen. Sie alle haben ihren ganz privaten Fluchtweg gefunden. Sie hat Lucius gefunden, Bella hat Russland und Rodolphus gefunden, Andromeda hat einen holzigen, sperrigen Abweg gewählt und Rabastan hat vielleicht die meisten Meilen zwischen sich und seine Familie gebracht, um vor seinen Dämonen zu fliehen.

* * *



Aus Rücksicht auf ihren mangelhaften Orientierungssinn hat Rabastan sie wieder zurück zu der Stelle gebracht, an der sie einander begegnet sind. Von dort aus sind es nur wenige Meter bis zur Bibliothek, vor der sich eine lange Schlange gebildet hat. Offenbar ist sie nicht die Einzige, die damit beauftragt wurde, sich einen Ausweis zu besorgen. Sie spielt mit dem Gedanken, diese lästige Erledigung einfach auf einen anderen Tag zu verschieben, doch dann entdeckt sie einen vertrauten, hellbraunen Haarschopf. Am Ende der Schlange vor dem kleinen, gläsernen Arbeitsbereich der schwer beschäftigen Bibliothekarin steht Diana Harvey, die – mit Ausnahme eines schlaksigen, schweren Jungens – alle Anwesenden überragt.

Ohne einen zweiten Gedanken daran zu verschwenden, ob Diana und sie sich wirklich viel zu sagen haben könnten, geht sie auf ihre ehemalige Zimmergenossin zu, tippt ihr auf die Schulter und wird mit einer festen Umarmung überrumpelt.

„So eine Überraschung! Ich wusste gar nicht, dass du dich auch in Cambridge beworben hast!“ Vielleicht hätte sie es wissen können, doch die Zeit vor den Sommerferien schien bereits Jahre her zu sein. Zumindest tat ihr Gedächtnis so, wenn es darum ging, sich an die Eigenarten oder Zukunftspläne ihrer Mitschüler zu erinnern.

„Oh, das hab ich auch gar nicht.“ Diana lächelt verlegen. „Ich habe im August meine Ausbildung in Gringotts angefangen und die Bücher, die ich zum Lernen brauche, sind alle so teuer und mein Vorgesetzter hat mir geraten, sie hier in der Bibliothek zu entleihen. Offenbar gibt es an der Uni seit fast zehn Jahren keinen Studiengang mehr, der mit Finanzen zu tun hat, aber die Standardwerke sind weiterhin in aktuellen Auflagen verfügbar, weil es ja eigentlich eine Bibliothek ist, zu der jeder Zugang haben kann.“ Sie holt ein Briefkuvert aus ihrer Jackentasche. „Mein Vorgesetzter hat mir ein Schreiben mitgegeben, damit ich für die Mitgliedschaft nicht selbst bezahlen muss.“

„Das ist aber nett!“ Die Familie Harvey hat ihres Wissens nach keine finanziellen Probleme, aber sie weiß nicht, in welchem Verhältnis Diana zu ihren Eltern steht und sie kann sich auch vorstellen, dass dort eventuell der Gnom begraben liegt. Narzissa weiß auch nicht, wie ihre Eltern darauf reagiert hätten, wenn sie ihnen die Rechnungen für ihre Lehrbücher gezeigt hätte. Sie hat sich einfach an ihrem eigenen Verlies bedient, das sie kaum je genutzt hat und in das von ihren Großeltern an Weihnachten und an ihrem Geburtstag stets eine beträchtliche Anzahl von Galleonen eingezahlt wird.

„Ja… ja, ich fühle mich dort wirklich wohl.“ Die ganze Schlange der Wartenden tut einen Schritt nach vorn und sie gibt Acht, nicht gegen Diana zu stolpern, deren Wangen mit einem Mal ganz rot geworden sind. „Ich bin wirklich froh, dich zu sehen. Ich habe überlegt, dir zu schreiben, aber… na ja, im Juli habe ich Samara geschrieben und sie hat nicht geantwortet und da habe ich wohl irgendwie die Lust an der Idee verloren, mit euch Beiden in Kontakt zu bleiben.“ Diana zuckt auf ihre übliche, unaufgeregte Art mit den Schultern. Es ist unmöglich zu sagen, ob Samara sie ernsthaft gekränkt hat, weil sie nicht geantwortet hat oder ob es in Dianas Welt wichtigere Dinge gibt.

„Ich hätte dir geantwortet!“ Zu behaupten, dass sie Diana vermisst hätte, wäre eine Lüge, aber wenn sie einander so gegenüber stehen, dann merkt sie doch, dass schade sie es fände, wenn sie Diana nie wieder sprechen würde. „Warte, ich schreib dir meine neue Adresse auf. Um auf Nummer sicher zu gehen. Dann kann mich sogar die dümmste Eule auf der Welt finden.“ Sie zieht einen neuen, bisher ungenutzten Schreibblock aus ihrer Tasche und nimmt die Flotte-Schreibe-Feder in die Hand, die sie sich bei einem Bummel in der Winkelgasse gegönnt hat. Sie müht sich, möglichst leserlich zu schreiben und überreicht Diana den Teil des Zettels, auf dem die neue Anschrift steht, mit der sie auch die Einschreibungsunterlagen der Universität ausgefüllt hat.

„Marble Arch! Hui, ich dachte immer, du wohnst eher außerhalb Richtung Rochester?“ Sie war beeindruckt, dass Diana sich daran erinnern konnte. Narzissa war sich nicht einmal sicher, ob Dianas Familie eher aus East oder West Sussex kam oder ob sie Sussex und Essex nicht mal wieder durcheinanderbrachte.

„Lucius' Vater gehört eine Wohnung dort und es ist der Nähe vom Ministerium.“ Verständig nickt Diana und es geht wieder ein Stück vorwärts. Sie kann jetzt schon die Stimme der Bibliothekarin hören, die betont langsam und deutlich spricht.

„Oh, wie ich dich beneide! Meine Eltern wollen nicht, dass ich alleine wohne – oder mit einem „Fremden“ zusammenziehe. Sie fragen mich jeden Morgen, wann ich abends nach Hause komme und ich glaube, manchmal würde meine Mutter am liebsten mit mir in die Winkelgasse apparieren, damit ich auch sicher in Gringotts ankomme. Als wäre Gringotts nicht einer der sichersten Orte auf der ganzen Welt… bis zum Ende des Jahres habe ich den Verstand verloren, wenn sie nicht ein bisschen entspannen.“

„Also entspannt sind meine Eltern auch nicht… aber ich bin volljährig. Sie können mir also eigentlich nichts mehr verbieten.“ Doch uneigentlich hatte sie noch nicht vergessen, wie ihr ein Stein vom Herzen gefallen war, nachdem ihr Vater hatte verlauten lassen, dass nichts dagegen spräche, wenn sie auszöge. „Der richtige Moment kommt schon noch.“

„Der richtige Moment… der Richtige. Ja. Ich hoffe es.“ Diana lächelt sie an und dann muss sie sich umdrehen, weil die Bibliothekarin darum bittet, dass der Nächste zu ihr tritt und Diana ist die Nächste und damit ist zumindest dieses Warten vorbei.

Der Abschied von Diana fühlt sich überhastet an und sie hört sich selbst dabei zu, wie sie dreimal wiederholt, dass Diana ihr ja schreiben soll. Schließlich stecken sie beide ihre funkelnagelneuen Bibliotheksausweise ein und gehen ihrer Wege.

Als sie in der Wohnung ankommt, hört sie die Dusche im Badezimmer. Neben dem Klavier steht die Tasche, mit der Lucius üblicherweise aus dem Haus geht. Auf dem Esstisch stehen eine Packung Haferflocken und eine Tüte Milch. Am Morgen ist sie noch davon ausgegangen, dass sie zuerst zuhause sein und die Zeit finden würde, um irgendetwas zu kochen, aber die Realität sieht so aus, dass sie die drei Schritte zum Sofa macht und sich einfach fallen lässt. Als der Wasserhahn abgedreht wird, hat sie sich immer noch nicht gerührt und sie weiß gar nicht, woher dieses Gefühl kommt, von der Welt erschlagen zu werden.

Lucius kommt in einem ausgeleierten, verwaschenen Pullover, den er nur zum Schlafen trägt, einer kurzen, dünnen Stoffhose und mit halbnassen Haaren ins Wohnzimmer und normalerweise würde sie sich aufsetzen, aber sie ist platt. Einfach nur platt.

„Hast du Hunger?“ Sie macht ein Geräusch, das weder ganz Zustimmung, noch Ablehnung ist und im nächsten Moment landen ein Apfel und eine Packung Zuckermäuse direkt neben ihrem Gesicht. Ein Glas und eine Flasche Mineralwasser stellt Lucius auf dem kleinen Tisch vor dem Sofa ab. „Und? Wie lief es? Ich dachte eigentlich, du wärst früher zurück.“ Sie richtet sich auf, beißt in den Apfel und er tut so, als hätte sie ihm eine brauchbare Antwort geliefert und setzt sich neben sie. „Eben kam eine Eule für dich an. Der Brief ist mit dem Siegel der Universität versehen.“ Er deutet auf einen Umschlag, der direkt neben der Wasserflasche steht und den sie gepflegt übersehen hat.

Mit einer Hand versucht sie, das Siegel zu brechen, doch es endet damit, dass sie den Apfel festhält, Lucius den Brief öffnet und ihr das kleine Stück Pergament aushändigt, das sich darin befindet.


Sehr geehrte Miss Black,

Ihre Eignungsüberprüfung für den Studiengang Zauberkunst und Zauberspruchlehre wird am kommenden Freitag, dem 12. September, um 11 Uhr im Hörsaal IX im Hauptgebäude der Universität stattfinden. Ohne die Teilnahme an der Eignungsüberprüfung können Sie leider nicht an den Veranstaltungen des Wintersemesters teilnehmen. Sollten Sie an diesem Termin krankheitsbedingt unabkömmlich sein, weisen Sie bitte ein Attest des St. Mungo Hospitals (oder einer vergleichbaren Institution) vor. Sollten Sie aus anderen Gründen keine Zeit finden, so setzen Sie sich bitte mit mir persönlich auseinander, um einen alternativen Termin zu erhalten.

Hochachtungsvoll,
Constantin Chamberlain
Lehrstuhl für Angewandte Zauberkunstlehre



Freitag. Das waren noch drei Tage. Eigentlich eher zwei Tage, wenn man bedachte, dass es Abend war und die Prüfung am Vormittag stattfinden würde. Lucius sah sie gespannt an, als sie das Pergament sinken ließ und weil ihre Stimmbänder immer noch nicht bereit zur Arbeit schienen, drückte sie ihm die Nachricht in die Hand.

„Das klingt doch gut. Und du hast noch ein bisschen Zeit. Freust du dich nicht?“

„Ich habe Angst.“ Sie beißt wieder in den Apfel und als sie bemerkt, dass Lucius nach ihrer freien Hand greift, fasst sie das Stück Obst mit all ihren zehn Fingern.

„Das ist ganz normal, wenn einem suggeriert wird, dass so ein Termin kriegsentscheidend ist.“

„Ich habe nie Angst.“ Lucius lacht auf, als ob sie da einen wirklich geistreichen Witz gerissen hätte.

„Das halte ich für eine Lüge. Oder eine ganz große Illusion.“

„Vor was habe ich denn deiner Meinung nach Angst?“ Sie weiß nicht, woher schon wieder dieser Wunsch nach einer Provokation kommt. Manchmal kitzelt er wirklich ihre streitlustige Seite hervor. Patzig öffnet sie die Tüte Zuckermäuse, die sie nicht selbst gekauft hat, und beißt der ersten Maus ein schaumweiches Ohr ab.

„Andromeda. Um nur ein Beispiel zu nennen.“ Und das ist er, der Beweis dafür, dass sie hier keine Scherze machen und er sie besser kennt als ihr lieb ist. „Ich wollte nicht schnüffeln oder so, aber ich habe heute Morgen nach Knuts für die Eule vom „Tagespropheten“ gesucht und dabei in deine Schublade vom Nachttisch gesehen.“ Das war die Schublade, in der Narzissa ihre Hexenkarte, ihren Schmuck, einige andere wichtige Papiere wie ihr UTZ-Zeugnis und ihr Kleingeld aufbewahrte. Und einige ungeschickte Briefe an Andromeda, von denen sie die meisten nicht einmal unterschrieben hatte. „Du schreibst ihr?“

„Ich schreibe Briefe, aber ich schicke sie nicht ab.“

„Warum nicht?“

„Manchmal stellst du wirklich entsetzlich blöde Fragen. Du weißt doch, was sie getan hat. Du weißt doch, wie sie ist. Wenn ich ihr schreibe, dann muss ich es gutheißen, was sie tut – und wie könnte ich das?“ In ihren eigenen Ohren klingt sie lächerlich verzweifelt und ihre Augen brennen, obwohl ihr eben noch gar nicht nach weinen zumute gewesen ist. „Ich habe keine Angst vor meiner Schwester. Ich werde einfach traurig, wenn ich an sie denke, weil ich einerseits wirklich stinksauer auf sie bin, weil sie einfach so einen Schnitt gesetzt hat und überhaupt, sie hätte sich ja auch für uns und gegen ihn entscheiden können, aber auf der anderen Seite weiß ich nicht, was ich getan hätte, wenn ich an ihrer Stelle gewesen wäre. Was hätte ich getan, wenn du muggelstämmig wärst? Ich weiß es nicht, weil es nicht so ist. Ich kann es mir nicht einmal vorstellen.“

„Aber ich weiß es. Du hättest mich mit ziemlicher Sicherheit nicht an dich herangelassen. Andromeda und Edward… ich weiß noch, wie die beiden bei der Flugstunde in der ersten Klasse nebeneinander gestanden und sich mit ihren Besen abgemüht haben. Edward war so schlecht, dass sein Besen irgendwann einfach aufgesprungen ist und Andromeda Reisig ins Auge bekommen hat. Die Beiden wurden zusammen in den Krankenflügel geschickt und… ich kann mir vorstellen, dass deine Schwester einfach nicht darüber nachgedacht hat, ob ihr Mitschüler reinblütig ist oder nicht. Sie hatte in dem Moment ja auch andere Probleme… und einen Besen im Gesicht.“

„Ich wusste gar nicht, dass sie von Anfang an mit ihm befreundet gewesen ist. Das hat sie… sie hat nie von ihm gesprochen.“ Also hatte sie vermutlich doch sehr genau gewusst, dass die Eltern von Ted Tonks einfache Muggel waren. „Warum hast du nie davon erzählt?“

„Es gab keinen richtigen Anlass… und ich weiß ja nicht, wie nahe ihr euch steht. Es hätte ja auch gut sein können, dass ihr oft über ihn geredet habt, nachdem du es wusstest und bevor sie von der Bildfläche verschwunden sind.“ Das hätte wirklich gut sein können, aber das war nicht der Fall gewesen. „Tut mir leid, ich wollte nicht… du hattest bestimmt einen anstrengenden Tag. Soll ich… soll ich dich in Ruhe lassen?“ Das war ein ziemlich irreales Angebot, wenn man bedachte, dass sie abgesehen von der Küche, dem Badezimmer und dem Flur eigentlich nur auf zwei Räume verteilt lebten. Außer dem Schlafzimmer gab es nur den Wohnraum mit dem Kamin, dem Klavier und dem Esstisch, in dem sie sich gerade sowieso aufhielten. Wenn er sie wirklich in Ruhe lassen wollte, dann müsste er schon die Wohnung verlassen.

„Ich möchte jetzt baden und danach werde ich mich einfach ins Bett legen und morgen fange ich an, mich auf die Prüfung vorzubereiten.“ Und weder heute, noch morgen, noch an einem anderen Tag würde sie einen der Briefe zu Ende schreiben. Lucius nickte und sagte nicht einmal etwas dazu, dass sie die Zuckermäuse mit ins Badezimmer nahm.

* * *



In dem heißen, nach Lavendelöl riechenden Badewasser fällt ihr ein, dass sie weder die Begegnung mit Rabastan, noch mit Diana erwähnt hat. Den ganzen Tag über hat sie verhältnismäßig wenig an Andromeda gedacht – wenigstens solange, bis Rabastan auf sie zu sprechen kam und doch kam es ihr nun wieder so vor, als wäre ihre Schwester, ihre verschwundene Schwester, der rote Faden gewesen, der sich durch diesen Tag geschlängelt hatte, der eigentlich doch so wichtig für sie und nur für sie allein sein sollte.

Während sie ihre Arme und Beine einseift, nimmt sie auf einmal auch den Geruch von Vanille war. Fassungslos betrachtet sie das Seifenstück, das sie seit Wochen vollkommen unreflektiert verwendet. Sie schnuppert an ihrer frisch eingeseiften Haut und kann nicht umhin, Rabastan Recht zu geben. Es ist kein besonders intensiver Geruch, aber sie denkt ganz automatisch an Lucius, während sie tief durch die Nase einatmet.

Als sie tropfend nass aus der Badewanne steigt, schießt ihr ein merkwürdiger Gedanke durch den Kopf. Es gibt zwar ein Dutzend Gründe, die dagegen sprechen, Andromeda einen Brief zu schreiben, aber es gibt eigentlich keine Entschuldigung dafür, sich nicht bei Bellatrix zu melden. Natürlich gilt das genauso für Bellatrix, die anscheinend auch nicht den Drang verspürt, sie nach ihrem Wohlbefinden zu fragen, aber trotzdem könnte sie wenigstens versuchen, diesen Kontakt wiederaufzunehmen.

Nachdem sie den Entschluss gefasst hatte, sich gleich morgen hinzusetzen und eine Eule zu ihrer ältesten Schwester zu schicken, war sie eigenartig beschwingt und dieser rapide Stimmungswechsel entging auch Lucius nicht, der bereits im Bett lag und ein dünnes, aber sehr alt aussehendes Buch las. Fast ausgelassen lässt sie sich halb neben ihn, halb auf ihn fallen und bedeckt seinen Hals mit Küssen.

„Aha?“ Fragend legt er das Buch neben sich und einen Arm um sie.

„Worauf warten wir eigentlich? Ich habe den Trank vor über einer Woche eingenommen.“ Wenn man sie vor einer Stunde gefragt hätte, ob sie heute noch besondere Lust haben würde, mit ihm zu schlafen, dann hätte sie wohl verneint, aber dieser Tag, der erste Tag ihres Studiums, war so wenig besonders und so wenig ihr Tag gewesen, dass es ihr auf einmal nur richtig vorkam. Sie platziert noch einen Kuss in seiner Halsbeuge und schiebt ihre Hand unter den Bund seiner Hose. Überrascht stellt sie fest, dass er entweder auch schon darüber nachgedacht hat, dem grundlosen Warten endlich ein Ende zu machen oder besonders anregende Lektüre hatte.

„Zissy…“

„Was? Wer hat jetzt Angst? Ich sollte diejenige sein, die Angst hat. Was soll dir denn schon passieren? Dir wird es in keinem Fall wehtun.“ Ein wenig beunruhigend ist die Vorstellung noch immer, dass in ihrem Körper wirklich genug Platz für seine Erektion sein soll, aber allmählich kommen ihr ihre eigenen Bedenken albern vor.

„Ich wollte lediglich sagen, dass ich wahrscheinlich nicht besonders lange durchhalten werde.“ Gerne würde sie jetzt sein Gesicht sehen, aber sie kann sich schon vorstellen, dass er ihrem Blick ausweichen würde, deswegen drückt sie ihre Wange weiter gegen seine Schulter und legt ihre Lippen wieder an seinen Hals.

„Ist doch nicht schlimm. Wir können es ja einfach mal versuchen. Oder soll ich erst…“ Sie drückt ihre Finger ein wenig fester zusammen und er keucht leise und schüttelt kaum merklich den Kopf. Sie stellt ihre Handbewegungen augenblicklich ein und er atmet erleichtert aus.

Sie richtet sich auf. Im Badezimmer hat sie ein dünnes Nachthemd übergestreift, dessen dünne Träger sie einfach über ihre Schultern streifen kann. Fasziniert betrachtet er ihre Brüste und man könnte glatt meinen, er hätte noch nie ihren nackten Oberkörper gesehen. Langsam, ganz allmählich, setzt er sich auf und streift das Nachthemd weiter ihren Körper herunter. Sie drückt sich ein bisschen nach oben, sodass er es über ihre Hüfte ziehen und sie ganz davon befreien kann. Sie ist noch immer halb in die Bettdecke eingewickelt, aber eigentlich ist sie ganz froh darüber.

Ihr Herz pocht wie wild, als er sich zu ihr vorbeugt, sie küsst und ihren Oberkörper langsam auf die Matratze drückt. Sie zuckt überrascht zusammen, als sein Mund sich zielsicher ihren Hals herunter bis zu ihren Brüsten küsst, während er vorsichtig mit einer Hand die Innenseite ihres Oberschenkels streichelt. Unwillkürlich spreizt sie ihre Beine, um es ihm leichter zu machen. Er unterbricht seine Bewegungen kurz und als sie begreift, dass er versucht, seine Schlafanzugshose auszuziehen, hilft sie ihm mit dem Pullover, denn sie weiß sowieso nicht wohin mit ihren nutzlosen Händen.

Sie winkelt ihre Knie an und fühlt sich direkt komisch, weil sie eine Pose einnimmt, als wolle sie ein Kind gebären. Sie fühlt sich merkwürdig, äußerst merkwürdig, obwohl noch gar nichts passiert ist und sie ist heilfroh, als er ihr einen Kuss auf den Mund gibt.

„Ganz sicher?“ Sie nickt. Sprechen kann sie jetzt nicht. Auf gar keinen Fall. „Du musst Bescheid sagen, wenn ich dir wehtue.“ Sie nickte, obwohl sie ganz sicher nichts sagen würde. Es war nicht ausgeschlossen, dass er es dann für immer bei einem ersten Versuch belassen wollen würde. Sie hält die Luft an, als sie spürt, wie seine Erregung gegen ihr Bein drückt und dann geht es auf einmal ganz schnell und sie schnappt nach Luft. Mit einer einzigen Bewegung, einem Stoß, ist er plötzlich in ihr. Er bewegt sich nicht und sie öffnet ihre Beine noch ein wenig weiter, reckt sich ihm entgegen und bereut es schlagartig, als er auf einmal noch ein ganzes Stück weiter in sie eindringt und sich ein stechender Schmerz in ihrem Körper ausbreitet. Sie wimmert leise und krallt ihre Fingernägel in seinen Rücken, damit er bloß nicht auf die Idee kommt, jetzt einen Rückzieher zu machen.

Es dauert nur ein paar Sekunden und dann scheint sich der Schmerz auf wundersame Weise zu verflüchtigen. Ermutigend küsst sie seine Schulter, die das Körperteil ist, das sie am einfachsten erreichen kann und schmiegt sich auffordernd an ihn. Fast qualvoll langsam beginnt er, sich in ihr zu bewegen und sie hofft, dass sie ihm irgendwie ohne viele Worte vermitteln kann, dass es sich nicht schlecht anfühlt. Ganz im Gegenteil.

Gerade als sie spürt, dass dieses neue Gefühl des Ausgefüllt-Seins etwas für sie tut, hält er inne. Sie malt mit ihrem rechten Zeigefinger ein Fragezeichen auf sein Schulterblatt. Ihre Gedanken gehen quer durcheinander und sie hat Angst, was dabei herauskommt, wenn sie jetzt versucht, eine Frage zu artikulieren.

„Ich kann mich nicht länger zurückhalten.“ Sie kann ihm ansehen, wie wenig wohl er sich mit diesem Geständnis fühlt und sie beeilt sich, einen Kuss in seinen Mundwinkel zu drücken.

„Ist okay.“

„Aber so hast du doch nichts davon.“ Diese Ungerechtigkeit scheint ihn mehr zu stören als sie und es ist ihr ein Rätsel, wie er überhaupt noch in der Lage dazu sein kann, sich so ausführlich daran zu stören.

„Es ist okay.“ Sie küsst ihn und er entspannt sich allmählich. Pure Erleichterung fließt anstelle von Blut durch ihre Adern, als er sich wieder vorsichtig, aber rhythmisch bewegt. Als sie spürt, wie er in ihr kommt, löst sie ihren Mund von seinem und hört fasziniert zu, wie er stöhnt.

Er zieht sich endgültig aus ihr zurück und dabei gelingt ihm das außerordentliche mimische Kunststück, glücklich und unglücklich zugleich auszusehen. Bestimmt nimmt sie seine Hand und dirigiert sie zu dem Punkt, der allein durch die Reibungen empfindlich pocht. Ein wenig unsicher, etwas zittrig, streichelt er sie.

„Kannst du mir in die Augen sehen?“ Sie weiß gar nicht, warum zum Teufel ihr das so wichtig ist und wo ihr Schamgefühl geblieben ist, aber sie unterdrückt ein Stöhnen, als ihre Blicke sich kreuzen. Nun scheint er derjenige zu sein, der wie gebannt ist und es kommt ihr fast so vor, als wollte er ihr irgendein bestimmtes Geräusch entlocken, als er den Druck seiner Finger verstärkt. Sie keucht leise und auf höchst komische Weise antwortet er ihr, indem sich etwas Hartes gegen ihren Hüftknochen drückt. Fragend sieht er sie an und es braucht ihr Nicken gar nicht mehr.

Diesmal ist sie ihm ein ganzes Stück voraus und sie weiß gar nicht, ob die Feuchtigkeit zwischen ihren Beinen alleine von ihr kommt, aber es wäre schon möglich. Seine Lippen wandern über ihren Hals und kitzeln sie.

Schließlich kann sie nicht mehr widerstehen und wie von selbst schiebt ihre Hand sich zwischen sie und sie berührt sich selbst, während er gleichmäßig in sie stößt. Es braucht nur eine winzige Veränderung des Takts, den Hauch einer Beschleunigung und ihr entfährt ein hohes, jammerndes Geräusch, das sie so ganz bestimmt noch nie von sich gegeben hat. Aus unerfindlichen Gründen muss sie plötzlich an das denken, was ihre Tante Walburga über das Schmatzen und Schlürfen bei Tisch immer gesagt hat. Solche Geräusche macht eine Dame nicht. Sie kichert und weiß gar nicht, wohin mit sich. Sie wünschte, der Moment würde ewig dauern, aber die Ewigkeit ist nur ein theoretisches Konstrukt und sonst nichts. Irgendwann, sie weiß nicht, ob Sekunden oder Minuten vergangen sind, fühlt sie sich nicht länger wie berauscht und Lucius kommt erneut.

Dieses Mal spürt sie die klebrige, warme Flüssigkeit ganz deutlich zwischen ihren Beinen und als er von ihr herunterrollt, ist sie sich sicher, dass sie nicht alleine mit dem Gedanken daran ist, wer dieses Chaos aufräumt. Wer sich dieser genussvollen Unordnung annimmt.

Chapter 15: Dame

Chapter Text

15 – Dame



Es ist das unweihnachtlichste Weihnachten überhaupt und daran ändern auch die tannengrünen Pailletten auf dem Kleid ihrer Mutter nichts. Narzissa hat die Bedeutung von Hogwarts unterschätzt. Außerhalb des Schlosses, ohne die meterhohen Tannen, Professor Flitwicks liebevolle Dekorationen und den Schnee über der Großen Halle ist es wirklich nicht leicht, sich besonders festlich zu fühlen. Sie ist eher mäßig begeistert, als Lucius und sie im Salon ihres Elternhauses landen und ihre Laune verschlechtert sich, als ihre Mutter ihr verkündet, dass Sirius und Regulus gemeinsam entschieden haben, dieses Jahr die Weihnachtsferien in der Schule zu verbringen. Ihre Cousins waren, neben ihrem Vater und Bella, die einzigen beiden Mitglieder ihrer Familie, auf die sie sich wirklich gefreut hatte.

Pflichtschuldig ließ sie sich von Rodolphus und Bella umarmen und gab ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange. Der Salon sah erschreckend leer aus und ihr Vater, der in seinem Lieblingssessel saß und versuchte, seine zitternden Hände vor ihr zu verbergen, schien erneut um Jahre gealtert zu sein. Vorsichtig ging sie auf ihn zu und strengte sich an, nicht zu genau darüber nachzudenken, wie wächsern seine Haut aus der Nähe aussah. Er strahlte sie an, doch er stand nicht auf, obwohl ihm solche kleinen Höflichkeiten eigentlich sehr wichtig waren, sodass sie sich zu ihm hinunter beugen musste.

„Gut siehst du aus.“ Sie hatte ihren Vater im November einmal zur Mittagszeit im Ministerium besucht. Hinter seinem Schreibtisch wirkte er immer noch einigermaßen fit und weniger mitgenommen als in seinem eigenen Haus. Ihr Gewissen nagte an ihr, weil sie ihn so selten sah, kaum noch herkam und keine besonders ausführlichen Briefe schrieb. Natürlich hatte sie ihn in den letzten Jahren auch nur im Sommer und in den Weihnachtsferien gesehen, doch nun hatte sie ganz andere Möglichkeiten. Sie hatte die Zeit.

„Frohe Weihnachten, Daddy.“ Sie nahm seine  Hand, die er zwischen seinem Bein und der Armlehne des Sessels hilflos versteckt hatte und drückte sie fest. „Wie geht es dir?“

„Ach, wie immer.“ Er lächelte und sah dabei so glaubwürdig aus, dass sie auf den nächsten Schrecken nicht vorbereitet war. „Wo hast du Andromeda gelassen? Schläft sie immer noch?“ Es war fast zwölf Uhr mittags und Andromeda hatte sich ihres Wissens nach bei niemandem gemeldet. Stumm zuckte sie die Schultern und blinzelte, um sich zu vergewissern, dass sie sich das enttäuschte Lächeln ihres Vaters nicht nur einbildete. Er machte keine Scherze.

Voller Panik ging sie in die Küche. Dort stand ihre Mutter und dirigierte wie üblich Wretchas Treiben. Ihre Haare waren ein wenig silbrig angelaufen, doch ansonsten sah ihre Mutter wirklich wie immer aus.

„Mum?“ Ihre Mutter zuckte zusammen und sah sie verärgert an.

„Du hast mich erschreckt.“

„Entschuldigung, aber… Dad hat nach Andromeda gefragt. Wollte sie… wird sie mit uns Weihnachten feiern?“ Sie wusste, dass sie aufgeregt klang und obwohl sie kaum glauben konnte, dass eine Versöhnung zwischen ihrer Schwester und ihren Eltern einfach so an ihr vorbeigegangen sein sollte, ertappte sie sich doch dabei, wie sie hoffte, dass es so war.

„Natürlich nicht.“ Ihre Mutter presste die Lippen aufeinander. „Dein Vater fragt ständig nach ihr. Er fragt auch ständig nach seinem Bruder Alphard.“ Sie rümpft anklagend die Nase. „Wenn du uns ein wenig öfter besuchen würdest, dann wüsstest du, dass es um den Verstand deines Vaters nicht zum Besten steht. Er ist… er ist nicht mehr derselbe. Ich habe einen Heiler vom St. Mungo zu einer Untersuchung hergebeten, aber es ist keine herkömmliche Krankheit. Er ist… ein Greis. Erst dachte ich, er hört mit Absicht schlecht, weil ihr alle aus dem Haus seid und er mit mir nicht sprechen mag, aber…“ Unvermittelt brach die Stimme ihrer Mutter ein und sie gab ein gotterbärmliches Schluchzen von sich.

„Mum?“ In diesem Augenblick wünscht sie sich sehnlichst, sie und ihre Mutter hätten ein besseres Verhältnis. Dann würde sie nicht nur darüber nachdenken, sie zu umarmen und zu trösten, sondern es einfach tun. Sie weiß, dass es grausam von ihr ist, nichts zu tun und ihre Mutter einfach nur anzustarren, aber sie kommt nicht gegen sich an. Ihre Mutter schnieft, wedelt hektisch mit den Händen und herrscht Wretcha an, die ebenso sinnlos und erstarrt da steht wie Narzissa, sie möge gefälligst weiterkochen. „Es tut mir leid, dass ich mich so selten sehen lasse… aber ich habe viel zu tun. Das Studium und…“ Und sonst gar nichts. Das Studium war zeitfordernd, aber sie verfügte immer noch frei über ihre Wochenenden und Abende.

„Ist schon gut.“ Sie war beinahe glücklich, als sie den üblichen, barschen Tonfall ihrer Mutter hörte. „Bella ist ja auch kein Stück besser. Und Andromeda… da muss ich wohl kaum noch ein Wort drüber verlieren. Ich nehme an, dein Vater hat es nicht geschafft, dich darüber zu informieren, dass wir in diesem Jahr wirklich ganz unter uns sein werden. Walburga und Orion sind verreist und haben deine lieben Großeltern mitgenommen. Ich habe eine Einladung ausgeschlagen, da dein Vater nur noch mit einer sehr geringen Anzahl an Menschen umgehen kann. Er hat sich sehr auf dich gefreut.“

„Aber wenn es ihm so schlecht geht, wie arbeitet er denn dann?“

„Gar nicht.“ Der Mund ihrer Mutter verzieht sich und mit dem dick aufgetragenen, roten Lippenstift sieht sie auf einmal wie ein trauriger Clown aus. „An manchen Tagen denkt er, dass er zur Arbeit muss und dann geht er ins Ministerium, in sein altes Büro und macht dort Gott wer weiß was mit seinen alten Unterlagen… sein Vorgesetzter, der Abteilungsleiter und ich haben bereits im Oktober entschieden, dass dein Vater nicht mehr in der Lage dazu ist, seine Arbeit fortzuführen. Sein Büro wird vorerst nicht geräumt, um ihn nicht unnötig zu verwirren. Wenn er dort auftaucht, grüßen sie ihn alle freundlich… Herrgott, es ist so ein Theater mit ihm. Aber wenn du ihm ins Gesicht sagst, dass er nicht mehr bei Sinnen ist, dann wird er tobsüchtig.“ Kommentarlos krempelt ihre Mutter ihren linken Ärmel hoch und entblößt zwei großflächige, verblichene blaue Flecken, die bereits eine gelbliche Färbung angenommen haben. „Es ist nicht mehr schön mit ihm.“

„Ich wünschte, ich hätte davon gewusst… im Sommer… es ging ihm doch so gut. Es war doch alles wie immer.“

„In den paar Tagen, in denen du da warst, ja, da hat er sich zusammengerissen. Das hat ihn wieder auf Kurs gebracht, aber… wer weiß, ob es so geblieben wäre. Dir bei deinem kleinen Umzug zu helfen, war jedenfalls seine letzte, große Tat. Seitdem ist er mir nur noch lästig und sorgt stetig für Unordnung.“

„Weiß Bella das alles?“

„Natürlich. Ich habe… ich habe gehofft, es wäre vielleicht eine Verwünschung. Du weißt ja, seine Klienten sind manchmal ein wenig eigensinnig und wer weiß, was gerade in diesen Zeiten für Leute im Ministerium ein und ausgehen, aber Rodolphus und sie sind sich sicher, dass an seinem Zustand überhaupt nichts Magisches ist.“ Sie räuspert sich. „Würdest du bitte in den Salon gehen und dich mit deinem Vater unterhalten? Sonst komme ich hier zu gar nichts und wir kommen nicht zum Essen. Du bist mir heute ehrlich gesagt die größte Hilfe, wenn du mir nicht im Weg stehst und ihn im Auge behältst. Nach dem Essen wird er sich sowieso hinlegen, aber bis dahin könntest du ja vielleicht auch mal ein wenig Verantwortung übernehmen. Bitte.“

Ihre Mutter so eindringlich um etwas bitten zu hören, ist seltsam verstörend, deswegen nickt sie nur gehorsam und geht zurück in den Salon. Noch immer sitzt ihr Vater alleine in seinem Sessel. Rodolphus verweilt im Garten, sein Kopf ist von dem Dampf einer Zigarre eingehüllt. Lucius steht noch immer vor dem Kamin und bemerkt nichts von dem, was um ihn herum geschieht, weil Bella alle Geschütze aufgefahren hat und ihn ohne Atempausen bespricht und Antworten fordert. Wenn ihre Schwester in diesem Modus des unaufhaltsamen Eroberns ist, dann ist es zwecklos, den Bann brechen zu wollen, also geht sie vorsichtig wieder zu ihrem Vater und nimmt ihm gegenüber auf einem der beiden Sofas Platz. Er lächelt sie an und sie lächelt ratlos zurück, als sich die Tür zum Garten öffnet und Rodolphus ohne Dampfwolke zurückkehrt. In seinem Windschatten ist Rabastan, dem vor zwei Wochen irgendjemand einen anständigen Haarschnitt verpasst hat, sodass er nicht wie jemand aussieht, der schon in der nächsten Woche zurück in die Wildnis will. Die Auseinandersetzungen mit seinem Professor haben sich gezogen, doch sie freut sich ganz selbstsüchtig darüber, dass er immer noch im Land ist.

Anstatt zuerst Lucius oder Bella oder ihren Vater zu begrüßen, stürzt er sich auf sie, ohne seinen Mantel auszuziehen und drückt ihr einen stürmischen Kuss auf den Mund. In den letzten Monaten hat sie es irgendwie geschafft, ein direkte Begegnung von Lucius und Rabastan zu unterbinden – und sie gibt es nicht gerne zu, aber sie hat häufig behauptet, Diana zu sehen, wenn sie eigentlich Zeit mit Rabastan verbracht hat. Diese kleinen Lügen sind ihr erstaunlich leicht gefallen, weil sie es schließlich nur tut, um Lucius nicht zu kränken – und Rabastans Geheimnis zu hüten. Leider schätzt Rabastans ihre Bemühungen nicht besonders, sondern verhält sich wie jemand, der heute unbedingt noch einen Kriegsausbruch erleben möchte.

Als Rabastan sich direkt neben sie auf das Sofa fallen lässt und sich auf ihrem Knie abstützt, während er sich nach vorne lehnt und ihrem Vater die Hand schüttelt, hat ihre Schwester die Aufmerksamkeit von Lucius längst verloren. Sie bemerkt direkt, wie Bella weiterspricht und die kleinen Geräusche ausbleiben, mit denen Lucius ihr suggeriert hat, dass er ihr zuhört. Rabastans Gutsherrenart ist ihr unangenehm, aber sie hat sich an sein körperbetontes Verhalten irgendwie auch gewöhnt, sodass es sie eigentlich nur stört, weil sie vermutet, dass es Lucius stört und das ist so verdreht, dass ihr schwindelig wird.

„Rabastan. Wie schön, dass du es auch geschafft hast. Vermissen deine Eltern dich heute nicht?“ Es ist als wäre im Kopf ihres Vaters ein Schalter umgelegt worden. Aus ominösen Gründen scheint Rabastans Anwesenheit ihm zu helfen, sich darauf zu besinnen, wie man sich mit seinen Weihnachtsgästen unterhält. Fasziniert beobachtet sie die kontrollierten Gesten, die er auf einmal zustande bringt.

„Ach, kein bisschen. Sie haben sich auf ihr Landgut in Frankreich zurückgezogen, um dort die freien Tage zu genießen und schon mal für die Zeit nach der Pensionierung zu proben.“ Rabastan zwinkert lässig und seine Ausdrucksweise bringt ihren Vater zum Schmunzeln. „Und ich beehre Ihr schönes Haus und Ihre schönen Töchter doch gerne, wann immer ich geladen bin.“ Seine Hand liegt noch immer auf ihrem Knie und er zieht sie auch nicht zurück, als Bella, Rodolphus und Lucius sich ein wenig unschlüssig auf den Polstermöbeln verteilen. Lucius landet zwischen Rodolphus und ihrer Schwester und es ist ganz klar, dass er sich wohler fühlen könnte.

Ihr Vater hingegen lebt angesichts von so vielen jungen Zuhörern regelrecht auf. Sie lehnt sich auf ihrem Platz zurück, nicht ganz zufrieden, aber auch nicht wirklich unzufrieden. Das Mittagessen kommt schließlich früh genug und dann kann sie sich neben Lucius setzen und ihm irgendwie vermitteln, dass Rabastan nur ein Freund ist. Ein freundlicher Schwager. Oder so etwas Ähnliches.

* * *



Ihr Vorhaben, Lucius zu beschwichtigen, erweist sich als nicht ganz unkompliziert. Ihre Schwester scheint nicht die Absicht zu haben, Lucius freizugeben und weil Narzissa irgendwie allmählich gerne wüsste, was es da zu reden gibt, hakt sie sich ganz unverfroren bei Lucius ein, als Rodolphus noch einmal nach draußen verschwindet, um seinem Laster zu frönen. Ihr Vater und Rabastan unterhalten sich prächtig über irgendeinen Schriftsteller aus dem 18. Jahrhundert und sie sieht wirklich keinen Grund, um nicht den frei gewordenen Platz von Rodolphus einzunehmen. Sie hat nicht vor, sich in die Unterhaltung einzumischen – doch es stört sie ein wenig, als sie merkt, dass sie es nicht einmal könnte, wenn sie denn wollte. Bella fragt Lucius zu irgendeiner Tagung des Zaubergamots aus, deren Inhalt es nicht einmal auf die Innenseiten des „Tagespropheten“ geschafft hat. Ehe sie den Mund überhaupt einmal aufmachen kann, meldet sich ihre Mutter und bittet alle zu Tisch. Narzissa fängt sich einen missbilligenden Blick dafür ein, dass sie nicht bei ihrem Vater sitzt.

Als Bella nach draußen läuft, um Rodolphus aus dem Garten zu holen und Rabastan an der Seite ihres Vaters, schwatzend und bereit zu stützen, ins Esszimmer geht, sind sie für einen kleinen Moment allein. Lucius atmet hörbar auf, aber besonders erleichtert sieht er dabei nicht aus.

„Du schuldest mir eine Erklärung.“

„Ich weiß.“ Sie schmiegt sich kurz an ihn und küsst ihn entschuldigend auf die Wange. „Es ist halb so schlimm wie es aussieht.“

„Immer noch schlimm genug.“

Sie sagt nichts mehr, denn in einem Satz kann sie nun auch nicht die Welt retten, sondern küsst ihn noch einmal und weicht auch nicht von ihm zurück, als sich die Tür zur Veranda öffnet und Rodolphus und Bella eintreten.

Betont langsam steht sie auf und ist froh, dass Lucius mal für einen Moment seinen heiligen Respekt vor ihrer Familie vergessen hat und einen Arm um sie legt, als sie in Richtung des Esszimmers gehen. Sie spürt den Blick ihrer Schwester in ihrem Rücken und gibt sich alle Mühe, um sich nicht wie auf dem Präsentierteller zu fühlen.

Vorspeise und Hauptgang werden von Rabastans unterhaltsamen Anekdoten über seine Studienarbeit und seine skurrilen Erlebnisse in Südamerika getragen. Ihre Eltern, die beide nicht besonders reiselustig sind, aber durchaus gerne mal einen Bildband durchblättern oder eine exotische Reportage in der Zeitung lesen, hören aufmerksam zu, ihr Vater stellt zusammenhängende Fragen und alleine deswegen ist die Laune ihrer Mutter deutlich besser als noch vor knapp einer Stunde.

Lucius lässt zu, dass sie unter dem Tisch ihr Knie über seins legt und lässt die teils gewöhnlichen, teils außergewöhnlich unangenehm vorgetragenen Standardfragen ihrer Mutter über sich entgehen. Ob er sich im Ministerium wohlfühlt. Mit wem er zusammenarbeitet, was denn eigentlich genau seine Aufgaben sind? Wie es seinem Herr Vater so geht? Ob er sie denn auch wirklich heiraten will? Gut, die letzte Frage stellt sie nicht, aber wenn sie danach fragt, ob es dann allmählich mal ein Datum für die Hochzeit gibt und wieso niemand einen Verlobungsring trägt und dabei diesen zweifelnden Tonfall anschlägt, dann klingt es so, als wollte sie Lucius darauf aufmerksam machen, dass er noch die Flucht ergreifen kann.

Sie ist beinahe erleichtert, als ihre Mutter ankündigt, dass es keinen Nachttisch geben wird, weil sie ja alle schon genug Zucker zu sich nehmen und im ganzen Haus Schalen mit Keksen verteilt sind, die Wretcha gebacken hat – und weil es zum Tee einen „einfachen“ Kuchen geben wird. Rodolphus braucht keine zehn Sekunden, um den Tisch zu verlassen und noch während er in der Brusttasche seines Hemds nach der kleinen Kiste mit den Zigarren tastet, dreht er sich um und sieht Rabastan sowie Lucius fragend an.

„Leistet ihr mir Gesellschaft?“

Lucius, der so eine demonstrative Annäherung im Leben nicht erwartet hat, nickt ganz ermattet und steht auf. Der Anblick des halb leeren Tischs veranlasst ihren Vater dazu, leise zu gähnen und zu verkünden, er werde sich einen Moment ausruhen. Ihre Mutter hält nichts mehr, sie befiehlt Wretcha, abzuräumen und sich um das Geschirr zu kümmern und folgt der Hauselfe in die Küche, um ihr Tun zu überwachen – oder um niemandem ins Gesicht sehen zu müssen.

Bella, die am anderen Ende des Tischs gelandet ist, steht auf und setzt sich auf Lucius' Stuhl. Die Haare ihrer Schwester sind wieder ein ganzes Stück gewachsen und ebenso unordentlich wie immer. So sieht Bella beinahe genauso aus wie in ihren Erinnerungen.

„Du hast wirklich Glück.“ Neid ist etwas, das man in Bellas Stimme nur selten hören kann und darum fühlt sie sich beinahe geschmeichelt, als ihre Schwester eine der blond gebliebenen Haarsträhnen um ihren Finger wickelt. „Lucius ist so verliebt in dich. Das kann man ihm richtig ansehen. Er würde alles für dich tun.“

„Ich bin sicher, Rodolphus kann dir auch keinen Wunsch abschlagen.“ Kinder. Sie könnten über Kinder und Kinderwünsche reden, aber warum sollte sie so ein Thema von sich aus ansprechen? Das würde ja nur danach klingen, als ob sie etwas zu erzählen hätte.

„Ja… das kann er wohl nicht, aber er ist mir nicht so treu ergeben. Er hat immer noch seinen eigenen Kopf.“ Implizierte diese Aussage irgendwie, dass Lucius keinen Kopf hatte? Oder dass sie sich am Ende einen Kopf teilten? „Ich muss mit dir über etwas sprechen, Zissy, und es ist mir ganz ernst damit. Ganz furchtbar ernst.“

„Okay. Ich höre dir zu.“ Bella lächelt und irgendetwas an diesem Lächeln ist unfassbar beunruhigend.

„Rodolphus hat einen Freund, der Lucius und dich gerne kennenlernen würde. Du kennst ihn. Jeder kennt ihn, sein Name steht ständig in der Zeitung. Aber die Zeitungen lügen, er ist kein Verbrecher und du darfst jetzt nicht erschrecken, ja, Zissy?“ Bella hat ihre Hand genommen und streichelt mit ihren langen Fingernägeln über Narzissas Handgelenk. „Du glaubst doch auch, dass es im Grunde lächerlich ist, dass wir uns vor den Muggeln verstecken, oder?“

„Es ist nicht lächerlich, es ist sicher.“

„Sicher… sicher… es ist nicht sicher, es ist dumm. Es ist Unsinn. Kein Muggel auf der Welt ist einer Hexe überlegen. Nicht einmal der klügste Muggel auf der Welt könnte einem durchschnittlichen Zauberer etwas anhaben. Wir unterwerfen uns ihnen, weil sie in der Überzahl sind, aber das ergibt doch eigentlich keinen Sinn. Im alten Ägypten, haben sich da die Pharaonen vor ihren Sklaven versteckt, nur weil es so viele von ihnen gab?“

„Das kannst du so nicht vergleichen, Bella, wir sind keine Pharaonen.“

„Aber wir könnten es sein! Das ist doch gerade der Punkt! Hexen und Zauberer sollten wie Könige behandelt werden. Stattdessen erfinden wir Regeln und Abkommen, um nicht von den Ratten gejagt zu werden.“ Die bildhafte Sprache ihrer Schwester verfehlt ihre Wirkung nicht, aber Bella kommt ihr dennoch irgendwie manisch vor. „Du und Lucius, ihr wollt doch mal Kinder haben, oder?“ Kinder. Da ist das Thema also doch. Ganz plötzlich. Ohne den Kontext, den sie hätte erwarten können.

„Ja… schon, irgendwann bestimmt.“

„Na also, wusste ich es doch. Und wenn du dann ein Kind hast, Zissy, und du gehst mit diesem Kind spazieren und dein Kind, dein geliebtes Kind, beschließt, einen Stein in einen Schmetterling zu verwandeln, willst du dann in Panik ausbrechen? Willst du dich davor fürchten, dass ein Muggel das kleine Kunststück gesehen haben könnte? Zissy, es geht um unsere Zukunft. Wir sprechen immer von der Zauberwelt als wäre es eine eigene, abgeschnittene Welt, dabei gibt es nur eine Welt – und in dieser Welt sollten wir leben dürfen. Willst du das etwa nicht?“

„Ich glaube nicht, dass es bei der Idee dieses Freundes von Rodolphus nur darum geht. So harmlos ist das alles nicht. Er hat… um Himmels Willen, er hat versucht, das Zaubereiministerium zu stürzen. Das ist doch Wahnsinn. Lucius arbeitet für das Ministerium. Unser Vater hat für das Ministerium gearbeitet. Unsere Großväter genauso! Willst du, dass unsere Familie ihren guten Ruf verliert, weil wir uns mit einem Größenwahnsinnigen zusammentun? Willst du, dass Lucius seine Arbeit verliert?!“ Beschwichtigend und ungewohnt zärtlich drückt Bella ihre Hand.

„Nun werd‘ nicht gleich hysterisch, Zissy. Denk dran, eine Dame ist niemals hysterisch. Es war nur ein Vorschlag. Ich will Lucius und dir nichts Schlechtes! Ich will nur, dass ihr auf der richtigen Seite steht, wenn auch der Zaubergamot begreift, dass es einiger Veränderungen bedarf. Ich möchte ja nur, dass ihr eine Gelegenheit habt, ihn kennenzulernen. Er hat sich sehr interessiert daran gezeigt, eure Bekanntschaft zu schließen. Das ist nicht selbstverständlich, Zissy, das ist eine Ehre.“

„Führt Rodolphus da draußen gerade dieselbe Unterhaltung mit Lucius wie du hier mit mir?“ Ihre Schwester schlägt ertappt die Augen nieder, doch Narzissa weiß, dass das nur ein Trick ist. Bella ist nicht wirklich verlegen. Im Gegensatz zu ihrer Mutter hält ihre Schwester sie nicht für schwer von Begriff und unterschätzt sie nur in den allerseltensten Fällen und alleine dafür wird Narzissa sie immer lieben. Und ihr immer ein wenig auf den Leim gehen.

„Ja. Aber ich habe Rodolphus und Rabastan schon gesagt, dass Lucius ohne deine Zustimmung sicher keine Entscheidung treffen wird. Dein Wort zählt hier etwas, Zissy. Du entscheidest.“ Deswegen wurde sie auch von der stärkeren Rhetorikerin in die Mangel genommen, während man Lucius zwar zwei, aber zwei weniger charmante Redner auf den Hals gehetzt hatte.

„Rabastan ist also auch darin verstrickt?“

„Rabastan ist kein Narr, auch wenn er sich manchmal so verhält. Und er hat mit eigenen Augen gesehen, wie frei Magie sein kann. Ich würde zwar nicht in seinen Sumpfgebieten leben wollen, aber dort unten haben sie zumindest verstanden, dass Magie Macht ist. Und kein Grund, sich zu verstecken.“ Noch immer hat Bella ihre Hand nicht losgelassen. „Aber warum die Frage nach Rabastan? Hat er dich etwa um den Finger gewickelt? Vertraust du ihm mehr als mir?“

„Ich vertraue dir, Bella. Ich weiß nur nicht, ob das wirklich so eine gute Idee ist. Das klingt alles sehr gefährlich und ich möchte weder Lucius, noch unsere Eltern in Gefahr bringen.“

„Jetzt tu nicht so, als ginge es dir hier um Mutter oder Vater. Die Beiden leben ihr eigenes Leben – und das vermutlich auch nicht mehr allzu lange. Es geht hier alleine um Lucius. Du machst dir Sorgen um ihn und das kann ich verstehen. Er ist jetzt deine Familie und vielleicht ist er dir sogar wichtiger als ich und das akzeptiere ich, aber ich möchte, dass ihr beide Teil von etwas Größerem seid. Ich möchte, dass wir alle eine Familie sind, die an dieselben Dinge glaubt. So wie früher.“

„So wie früher? Also hast du Andromeda denselben Vortrag geboten?“

„Andromeda hat uns verraten. Das ist eindeutig und das ist unverzeihlich. Aber gerade deswegen müssen wir zusammenhalten. Wir stehen uns nicht mehr so nah wie früher, aber das kann doch wieder werden. Das willst du doch auch. Warum sonst hast du mir geschrieben? War das ein pflichtschuldiger Brief?“ Aufrichtig schüttelt sie den Kopf. „Na siehst du.“

„Ich habe dich vermisst. Aber ich vermisse die Bella, die sich nicht von einem Mann wie Rodolphus oder… ach, du weißt schon wem, beeinflussen lässt.“

„Du-weißt-schon-wem? Magst du seinen Namen nicht aussprechen? Willst du auch schon so anfangen?“ In einigen Zeitungen wurde der Name seit einigen Jahren nicht mehr ausgeschrieben. Es gab keine Fotografien, die gedruckt wurden, nicht einmal mehr die wenigen, bekannten Bilder aus der Schulzeit des Mannes, dessen Namen allgemein hin nicht mehr genannt werden wollte. „Lord Voldemort. So heißt er. Der dunkle Lord. Der größte Zauberer dieses Jahrhunderts. Der einzige Zauberer, der mutig und vernünftig genug ist, um etwas gegen die Herrschaft der Muggel und des dreckigen Blutes zu unternehmen!“

„Weißt du, wie du klingst, Bella?“

„Wie klinge ich denn?“

„Wie eine Besessene.“ Narzissa kichert, denn auf einmal muss sie an eines der größten Gefechte zurückdenken, das in ihrer Kindheit stattgefunden hat. Als sie selbst kaum laufen konnte, hat Bella sich dagegen ausgesprochen, dass ihre Familie länger in die Kirche gehen sollte. Weil es Gott nicht gibt. Und weil man gar nicht so laut beten konnte, dass es jemand, der angeblich im Himmel lebte, hören konnte. Das Resultat dieser wochenlangen Debatten war es gewesen, dass die Familie Black nicht mehr in die Kirche ging. Ihr Vater begleitete seine Eltern an ausgewählten Feiertagen und ihre Mutter zündete sich im stillen Kämmerlein eine Kerze an und sprach dort ihre Gebete. Bella hatte gesiegt. Weil sie nicht lockerließ. Weil sie nie von ihrer Meinung abwich. Weil sie nicht nur besessen war, sondern von einer Idee und einem Menschen Besitz ergreifen konnte.

„Du lachst mich aus? Also wirklich, Zissy, das wagst nur du.“ Bellas Mundwinkel zuckten und das war ein gutes Zeichen. Das sprach dafür, dass ihre Schwester vielleicht nicht jedes Wort glaubte, das ihren Mund verließ. „Das darfst nur du… aber versprich mir, dass du darüber nachdenkst, ja? Sprich mit Lucius darüber. In aller Ruhe. Niemand hetzt euch.“

„Ich werde mit Lucius sprechen.“ So viel konnte sie ja tun. Aber versprechen würde sie nichts, denn Versprechen durfte man nicht brechen. Bella drückte ihre Hand noch einmal ganz fest und ließ sie dann los.

„Sehr gut. Und erwähn am Rande vielleicht auch noch, dass Rabastan dir nicht unter den Rock will. Sonst gibt es bei der nächsten familiären Zusammenkunft noch Mord und Todschlag.“ Bella zwinkert ihr freundlich zu und zwickt ihr unter dem Rocksaum in den Oberschenkel. „Du hast ein bisschen zugelegt, willst du mir vielleicht was sagen?“

„Besessen. Du bist besessen. Hab ich dir das heute schon mal gesagt? Das wollte ich nämlich ganz dringend noch losgeworden sein.“

Chapter 16: König

Chapter Text

16 – König



Es ist schon dunkel, als sie von ihrer Familie Abschied nehmen und der erste Akt des Weihnachtsdramas über die Bühne gegangen ist. Morgen werden sie den ganzen Tag in Malfoy Manor verbringen und Narzissa muss zugeben, dass sie sich sogar ein bisschen darauf freut. Denn im Gegensatz zu ihrem wirren Vater, ihrer zickigen Mutter und dem Rest von Fest findet sie den potenziell stets kalkulierten Charme von Abraxas Malfoy eigentlich sogar ganz angenehm. Aber weil sie weiß, dass Lucius sich kein bisschen auf den Zweiten Weihnachtstag freut, scheut sie sich, überhaupt davon anzufangen.

Sobald sie in der Wohnung gelandet sind, geht sie schnurstracks ins Badezimmer, wird die schweren, hellen Kleider los, die sie nur ausgesucht hat, um von ihrer Mutter keine Kritik wegen dem ewigen Schwarz oder zu kurzen Säumen zu hören zu kriegen. In der Badewanne, die bis zum Rand mit heißem Wasser und Lavendelöl gefüllt ist, fühlt sie sich direkt ein bisschen besser. Sie zuckt nicht einmal zusammen, als Lucius reinkommt, den Toilettendeckel herunterklappt, sich schräg daraufsetzt und sie ansieht.

„Okay, ich habe mir eingeredet, dass ich die Geduld habe und warten kann, bis du fertig bist, aber das kann ich nicht. Seit wann verstehst du dich so gut mit Rabastan? Wie kann mir das so vollkommen entgangen sein? Ich dachte immer, ich würde mich ausreichend für dein Leben interessieren.“

„Du interessierst dich ausreichend für mein Leben… ich hab nur ein bisschen geflunkert. Aber ich kann dir versichern, dass Rabastan und ich uns immer noch nicht so besonders nahe stehen. Wir haben uns ein paar Mal sehr nett unterhalten und ich schätze seine Gesellschaft, aber das ist auch alles.“

„So sah es aber nicht aus.“ Sie dreht den Wasserhahn auf, denn das Wasser kommt ihr schon wieder ein wenig zu kalt vor. Sie spielt auf Zeit. Vermutlich sollte sie Lucius einfach sagen, dass Rabastan schon aufgrund ihres Geschlechts kein Interesse an ihr hat. Doch das käme ihr wie Verrat vor. Sie hat es versprochen. Vermutlich sogar mehrmals.

„Rabastan will nichts von mir. Er spielt nur gern. Das kann ich dir versichern. Er hat sich niemals… wirklich unangemessen verhalten. Wir sind uns zu Beginn des Semesters zufällig über den Weg gelaufen und wir haben in meinen Freistunden manchmal zusammen zu Mittag gegessen oder uns auf eine Tasse Kaffee getroffen. Überhaupt nicht spektakulär.“

„Dann begreife ich nicht, warum du mir das nicht einfach erzählt hast. Warum flunkerst du, wenn es um Nichtigkeiten geht?“ Weil es ihr so logisch vorkam. Weil sie genau diesen Gesichtsausdruck bei ihm nicht sehen wollte. Diesen Hauch von Unsicherheit, den er nicht verstecken kann. Sie hat ihn verletzt und genau das wollte sie ja eigentlich vermeiden.

„Es tut mir leid. Es war dumm von mir. Sei nicht sauer auf mich.“

„Ich bin nicht sauer auf dich.“

„Sei auch nicht sauer auf Rabastan. Er ist in Ordnung, ein wenig gehässig, aber mehr auch nicht.“ Sie legt ihren Kopf ins Wasser, sodass nur noch eines ihrer Ohren nicht unter der Wasseroberfläche ist. „Sprechen wir gleich darüber oder lassen wir uns noch ein bisschen Zeit?“

„Du sagst, was du darüber denkst, ich sage, was ich darüber denke und wenn wir nicht einer Meinung sind, dann heben wir uns die Diskussion für übermorgen auf?“ Über so viel harmoniesüchtigen Pragmatismus kann man eigentlich nur lachen, aber sie ist froh, dass er heute auch keine Grundsatzdiskussion mehr anstrebt.

„Ich halte es für gefährlich. Mir gegenüber hat Bella zwar so getan, als wäre es alles relativ harmlos, aber ich glaube nicht, dass in den Zeitungen ausschließlich Lügengeschichten stehen. Ich glaube nicht daran, dass Gewalt eine Lösung für irgendetwas ist und ohne Gewalt kommt dieser… wollen diese Menschen nicht an ihr Ziel kommen. Das gefällt mir nicht.“

„Hast du Angst vor ihm?“

„Wenn du es so nennen willst.“

„Ich dachte, du hast vor nichts Angst?“ Diese Spitzfindigkeit ist kein gutes Zeichen. Wenn er jedes Wort von ihr auf die sprichwörtliche Goldwaage legt, dann sind sie nämlich nicht einer Meinung. Sie setzt sich auf, stützt ihre Ellenbogen auf dem kalten Rand der Badewanne ab und sieht ihn an. Seine Körperhaltung ist angespannt. Er ist konzentriert.

„Ich habe auch keine Angst vor ihm als Person, aber mir gefällt der Gedanke nicht, dass wir etwas mit ihm zu tun haben. Von mir erwartet vermutlich niemand etwas, denn welchen Nutzen kann ich so einem Zauberer schon haben, aber ich habe Angst um dich. Ich will nicht, dass du dich in Schwierigkeiten bringst.“

„Du glaubst also, deine eigene Familie würde dich in Gefahr bringen? Deine eigene Schwester.“

„Bella hat eine absurde Vorstellung von dem, was gefährlich ist und was nicht. Früher hat sie einmal gesagt, Langeweile ist die gefährlichste Sache auf der ganzen Welt. Schon als Kind hat sie davon geträumt, dass man ihren Namen in den Geschichtsbüchern lesen kann, weil sie keine von diesen untätigen Hexen sein wollte, an die sich abgesehen von einigen Verwandten niemand erinnert. Ich hab sie für ihren Ehrgeiz immer bewundert und ich wünsche ihr, dass jedermann sieht, wie begabt sie ist, aber ich habe auch nichts gegen ein bisschen Langeweile. Meine Ambitionen sind nicht so hoch.“

„Ich weiß.“

„Aber du möchtest ihn kennenlernen?“

„Rabastan und Rodolphus haben den einen oder anderen Namen genannt… und ich denke nicht, dass wir uns in so schlechter Gesellschaft befinden würden. Kannst du dich noch an Viktor Nott erinnern? Er und sein älterer Bruder Gerald nehmen auch an den Abendgesellschaften teil.“

„Du möchtest es also?“

„Was kann es schon schaden, sich einen eigenen Eindruck davon zu verschaffen, wer dieser Mann eigentlich ist und was er genau will? Der „Tagesprophet“ hat ihn als einen zweiten Grindelwald gebrandmarkt, weil sich so jeder etwas vorstellen kann, aber vielleicht stimmt das ja gar nicht?“

„Wenn du gehen möchtest, dann werde ich dich begleiten. Ich lasse dich nicht allein.“ Ihr Magen zieht sich zusammen, als sie das Eingeständnis laut ausspricht. Sie hat immer noch kein gutes Gefühl dabei, aber sie weiß um seine Sturheit und es ist vermutlich das Klügste, es so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Je eher sie sich bei einer der sogenannten „Abendgesellschaften“ blicken lassen, umso schneller wird Lucius vielleicht klar, dass das nicht seine Welt ist. „Ich werde Bella gleich morgen einen Brief schreiben und ihr sagen, dass wir es auf einen Versuch ankommen lassen. Einverstanden?“

„Vollkommen einverstanden.“ Sie schließt die Augen und lässt sich zurück in das warme Wasser sinken. Sie kann nichts sehen, nichts hören, nicht atmen und das ist auch gut so. Die Welt steht für einen Augenblick still. Als sie auftaucht und tief einatmet, ist Lucius schon nicht mehr da und sie ist allein mit ihrem Unbehagen.

* * *



„Findest du, ich habe zugenommen?“ In einem Kleid, das ihr normalerweise außerordentlich gut an sich gefällt, dreht sie sich vor dem Spiegel und begutachtet skeptisch ihre Oberschenkel. Das Kleid endet ein gutes Stück über ihren Knien und ist oben hochgeschlossen, sodass sie sich darin eigentlich recht anständig angezogen findet. Lucius sitzt auf dem Bett, knöpft sein Hemd zu und guckt, als hätte sie eine Fangfrage gestellt. In einer halben Stunde wollen sie spätestens bei seinem Vater sein und sie bedauert es, mit dem Anziehen so lange getrödelt zu haben. In ihrem Schlafanzug auf dem Sofa  sitzen, Plätzchen  essen und in einem Buch lesen, das sie eigentlich schon kennt, ist zwar der Inbegriff von weihnachtlicher Gemütlichkeit, aber besonders vorausschauend ist es nicht gewesen.

„Du siehst gut aus.“

„Das war nicht die Frage.“

„Wie kommst du denn überhaupt darauf, dass du zugenommen haben könntest? Das Kleid passt doch oder soll das irgendwie anders sitzen?“ Lucius hat sie in diesem Kleidungsstück sicherlich schon weit über zwanzig Mal gesehen. „Du siehst hinreißend aus. Wie immer. Was auch immer deine Mutter gesagt hat, vergiss es einfach.“

„Bella hat sich dazu geäußert.“

„Auch gut. Dann vergiss, was Bella gesagt hat. Sie hat es sicher nur so dahingesagt.“ Lucius seufzt und ärgert sich mit den Knöpfen an seinen Handgelenken herum. „Warum können wir Weihnachten nicht so feiern wie letztes Jahr? Das war so viel entspannter.“

„Vielleicht, weil dein Vater diesmal nicht verreist ist?“ Im letzten Jahr war sie aus Hogwarts zurückgekommen und sie hatten bei ihren Eltern am Heiligen Abend gegessen und sich am Ersten Weihnachtsfeiertag zum Tee blicken lassen. Den Rest der Zeit hatten sie mit Lucius' Familie verbracht, so hatten sie es genannt. Sie hatten dabei unerwähnt gelassen, dass sämtliche Mitglieder der Familie Malfoy verstorben und nur in Form von Ölgemälden anwesend waren. Es war nicht Malfoy Manor gewesen, sondern ein anderes Haus, das im Besitz von Lucius' Familie war. Es war klein und sehr gemütlich gewesen. Eingestaubt, aber der Staub war ihr weihnachtlich vorgekommen.

„Ja, das ist wirklich bedauerlich.“ Die ungewöhnlich datierte Geschäftsreise von Abraxas Malfoy hatte es ihnen ermöglicht, in den Weihnachtsferien ganz und gar egoistisch zu sein und so zu tun, als wären sie halbwegs allein auf der Welt. Ohne diese zwei Wochen, in denen sie ihre eigene Familie eher sporadisch gesehen hatte und entweder in dem kleinen Haus oder gemeinsam mit Lucius in London unterwegs gewesen war, hätte sie die zweite Hälfte ihres Abschlussjahres unmöglich durchgestanden.

„Vielleicht wird es ja ganz nett. Wir haben deinen Vater lange nicht mehr gesehen.“

„Ja und? Mein Vater ist ein zuverlässiges Übel. Er ändert sich nicht mehr.“

„Ich liebe dich.“ Lucius sieht sie überrascht an und sie freut sich, dass sie ihn doch immer noch ganz gut zum Schweigen bringen kann. Ohne noch einen Blick in den Spiegel zu werfen, geht sie zu ihm, setzt sich auf seinen Schoß, legt ihre Arme um ihn und küsst seine Schläfe. „Vergiss das nicht, egal wie sehr du dich heute noch über deinen Vater ärgerst.“

* * *



Eine Einladung in das Haus, das Rodolphus und ihre Schwester seit ihrer Heimkehr nach Großbritannien bewohnen, hat sie bisher noch nicht erhalten. Das Anwesen gehört den Lestranges und man sieht dem Garten immer noch an, dass sich einige Jahre, womöglich sogar Jahrzehnte, niemand um ihn gekümmert hat. Das hohe Gras und die wild gewachsenen Obstbäume haben auch etwas für sich, doch es macht Narzissa auch irgendwie nervös, dass sich ein großer Hund oder ein mittelgroßes Kind durch diesen Garten bewegen könnten, ohne dabei von ihr gesehen zu werden.

Es ist der letzte Tag des Jahres. Nachdem sie ihrer Schwester einen Brief geschrieben hat, in dem sie den Kompromiss zwischen Lucius und ihr nicht ohne skeptischen Unterton dargelegt hat, kam beinahe umgehend eine Antwort. Und eine konkrete Einladung. Offenbar hat der dunkle Lord – so  nennt Bella ihn und Narzissa gefällt dieser Ausdruck eher als der eigentliche Name, auch wenn sie sich an dem selbstverliehenen Adelstitel stört, denn das erinnert sie nur an Napoleon, der sich selbst zum Kaiser krönte  – kein Eigenheim, in dem er seine gesellschaftlichen Zusammenkünfte abhält, sondern ist selbst gerne zu Gast. Und da Rodolphus und Bella einen Überfluss an Quadratmetern besitzen, haben sie sich bereiterklärt, die Gastgeber für das letzte Beisammensein des Jahres 1974 zu sein. Für Narzissas Gefühl fügt sich alles ein bisschen zu gut und Zufall ist es bestimmt nicht, aber sie möchte trotzdem keinen Rückzieher machen. Es wäre ja ganz in ihrem Interesse, noch in diesem Jahr einen Haken hinter das Thema zu setzen.

Sie trägt dasselbe Kleid wie am Zweiten Weihnachtstag und eine große, weiche Strickjacke, die sie zu einer wenig eleganten Erscheinung macht, aber wenigstens verhindert, dass sie friert. Als sie den vereinzelten, knisternden Kamin in dem ausladenden Raum erblickt, der mehr ein Ballsaal als ein Salon zu sein scheint, auch wenn es zahlreiche Sitzmöbel gibt, da beglückwünscht sie sich zu ihrer wenig luftigen Garderobe.

Ihre beiden Hände hat sie um Lucius' Arm geschlungen und sie lässt ihn auch nicht los, als Bella auf sie zukommt und ihr einen Kuss auf jede Wange gibt. Oder als sie Lucius auf dieselbe Weise begrüßt. Am anderen Ende des Raums, nahe dem Kamin, erkennt sie Rodolphus, der ihr zunickt und dem Mann nicht von der Seite weicht, der wohl der Grund dafür ist, dass sich knapp zwei Dutzend Menschen an diesem Abend hier zusammengefunden haben. Lucius fährt zusammen, als ihre Fingernägel sich in seinen Oberarm bohren und sie entschuldigt sich leise.

„Wollt ihr etwas trinken?“ Lucius nickt, doch sie fällt ihm ins Wort.

„Gibt es einen bestimmten Ablauf? Einen Zeitplan? Ein Programm?“ Bella kichert und es sieht so aus, als würde sie ihr am liebsten beschwichtigend den Kopf tätscheln.

„Nicht doch, Zissy! Das ist ein ganz formloser Abend. Alles ganz zwanglos. Es geht wirklich nur darum, sich ein bisschen mit Gleichgesinnten vertraut zu machen. Ich glaube, eine deiner Schulfreundinnen ist auch hier… wie heißt sie noch, dieses große Mädchen, mit dem du dir einen Schlafsaal geteilt hast?“

„Diana ist hier?!“

„Diana, genau. Sie begleitet ihren… nun, ich weiß gar nicht so genau, in welchem Verhältnis die Beiden zueinander stehen, aber so ganz offiziell gesprochen, ist er wohl ihr Vorgesetzter.“ Mit einem unauffälligen Fingerzeig deutet Bella auf einen Mann, der ebenfalls recht groß gewachsen ist, aber für einen Mann auch nicht so bemerkenswert riesig ist wie Diana für eine Frau. Er hat dunkelblondes, kurz geschnittenes Haar, ein rundes Gesicht und Narzissa würde vermuten, dass er seinen 30. Geburtstag bereits gefeiert hat. „Erwin Goyle. Er arbeitet für Gringotts und für das Ministerium, hat beeindruckende Verbindungen in alle möglichen europäischen Staaten und ein gutes Händchen für Kobolde. Rodolphus und er sind schon seit einigen Jahren miteinander bekannt.“

„Wie alt ist er?“

„Ich weiß es nicht genau. Warum interessiert dich das auch… oh Zissy, du wirst doch nicht etwa die Moralapostel spielen? Sie geben doch ein hübsches Paar ab, findest du nicht? Zumindest müssen sie sich beide nicht den Hals verrenken, wenn sie einander in die Augen sehen.“ Daran hatte sie auch schon gedacht, aber das war ja nun keine so besondere Eigenschaft. Es gab schließlich noch mehr Männer, die es auf mehr als 185 Zentimeter Körpergröße brachten. „Amüsiert euch einfach. Versucht es wenigstens.“ Diese Ermahnung ging ganz eindeutig eher an ihre als an Lucius Adresse.

Als Bella schon halb dabei ist, sich einem anderen Gast zuzuwenden, winkt sie einen ausgesprochen schönen Mann zu sich, der aus der Nähe ein wenig verwahrlost wirkt. Als er sich zu ihnen gesellt, lächelt er und entblößt dabei einen goldenen Backenzahn. Ihr erster, dummer Gedanke ist, dass er auch gut ein Pirat sein könnte.

„Darf ich vorstellen, das ist Igor Karkaroff. Wir haben uns in Moskau an der Akademie kennengelernt, aber Igor ist gebürtiger Bulgare.“ Wenn Bella doch nur bei einem der Gartenfeste, die ihre Eltern in fern scheinender Vergangenheit gerne veranstaltet hatten, je so aufgeblüht wäre. Perplex streckt Narzissa ihre Hand aus und bereut es gleich, weil Igor Karkaroff wirklich einen festen Händedruck hat. „Igor, das sind meine jüngere Schwester Narzissa und Lucius, ihr Verlobter.“ Igor Karkaroff und ihre Schwester lachen gemeinschaftlich auf, doch Narzissa bekommt den Witz nicht zu fassen. Aus dem Augenwinkel bemerkt sie, dass Lucius ebenso wenig zu verstehen scheint, worin die Komik dieses Moments liegt.

Mit einem hastigen Winken verabschiedet Bella sich und scheint innerhalb von Sekunden am anderen Ende des Raums angelangt zu sein, während Igor Karkaroff bei ihnen stehen bleibt und feststellt, dass sie ja gar nichts zu trinken haben und das so aber nicht geht.

Mit einem Glas Elfenwein in der Hand fühlt sie sich nicht besonders wohl und weil auch Lucius ein Glas zum Festhalten bekommen hat, musste sie ihn loslassen und so ganz für sich in dem großen, unbetanzten Ballsaal stehend fühlt sie sich alles andere als wohl. So hat sie sich den letzten Tag des Jahres ganz bestimmt nicht vorgestellt. Igor Karkaroff scheint die Absicht zu haben, sie zu unterhalten und hat ein Gespräch über die Quidditchweltmeisterschaft des vergangenen Sommers begonnen. Schon während der Weltmeisterschaft selbst hat sich Narzissas Interesse für die Spiele eher in Grenzen gehalten, doch ein halbes Jahr später diese unwesentlichen Sportereignisse erneut durchzugehen, ist beinahe auf einer physischen Ebene schmerzhaft. Sie ist froh, dass Lucius das Gespräch bestreitet und scheinbar einen ihr unbekannten Bereich in seinem Gedächtnis besitzt, in dem er überflüssige Informationen über Quidditch aufbewahrt. Es ist irgendwie beeindruckend, ihn so beflissen und sicher über etwas sprechen zu hören, worüber sie sich nie austauschen.

Wäre da nicht sein Glas, das sich relativ zügig leert, dann würde sie kaum merken, dass er nervös ist. Als Igor Karkaroff einen Augenblick abgelenkt ist und jemanden über seine Schulter hinweg grüßt, nimmt sie sein annähernd leeres Glas und drückt Lucius ihr eigenes, quasi volles Weinglas in die Hand. Sie mag nicht trinken in der Gegenwart von so vielen Fremden. An so einem Abend. Sie kann schließlich nicht sicher sein, dass es sie nicht doch betäubt und sie schließlich etwas Dummes tut. Je angetrunkener Lucius ist, umso weniger hat er ihr entgegenzusetzen, vermutet sie. Das ist jedoch eine ziemlich aus der Luft gegriffene Prognose, weil sie ihn noch nie betrunken, eigentlich nicht einmal angetrunken, erlebt hat.

Irgendwann kommt der Moment, in dem eine Art Bewegung durch den Raum geht und Diana auf einmal in Hör- und Sichtweite ist, sodass sie einander unter diesen doch recht eigenartigen Umständen begrüßen müssen. Es ist schwer zu sagen, wem die Situation unangenehmer ist. Es sollte eigentlich nicht komisch sein, mit Diana zu reden, denn sie haben es in den vergangenen Monaten doch ziemlich regelmäßig geschafft, sich zu sehen oder einander zu schreiben und sie dachte ehrlich, sie würde Diana kennen. Doch nun, wo Diana neben diesem so wenig aufregenden, fremden Mann steht, ist Narzissa sich auf einmal unsicher, ob sie da eine Freundschaft sehen wollte, wo nur eine oberflächliche Bekanntschaft ist.

Erwin Goyle stellt sich unaufgefordert vor, glänzt durch einen weniger brutalen Händedruck als Igor Karkaroff und scheint ein Gefühl dafür zu haben, dass die Stimmung irgendwie seltsam ist. Lucius spricht noch immer über Quidditch und sie ist froh, als sie nur noch mit Diana da steht.

„Ich habe dich gar nicht gesehen. Bist du schon lange hier?“

„Keine Ahnung.“ Sie kann nirgendwo eine Uhr sehen – doch selbst wenn es an jeder Wand eine Uhr gäbe, sie wäre nicht sicher, ob ihr die Stellung der Zeiger überhaupt noch etwas sagen würde. „Es ist merkwürdig, hier zu sein.“

„Oh Gott, ich bin so froh, dass du das sagst!“ Diana blinzelt verlegen und ärgert sich sichtlich darüber, nicht etwas leiser gesprochen zu haben. Besorgt sieht sie sich um, ob sie jemand gehört hat. „Erwin hat mich zum ersten Mal mitgenommen und… ich weiß gar nicht, wie ich mich verhalten soll. Ich fühle mich so ungeschickt. Hast du auch das Gefühl, dass dich alle anstarren, weil sie dich nicht kennen?“ Narzissa schüttelt den Kopf, denn diese Erfahrung hat sie nun wirklich nicht gemacht. Diana schenkt ihr ein schwaches Lächeln. „Na ja, wahrscheinlich weiß auch jeder hier, wer du bist. Bellatrix Lestrange ist immerhin deine Schwester und sie kennen hier wirklich alle. Hast du bemerkt, wie viele Köpfe sich zu ihr umdrehen, wenn sie sich bewegt oder lacht? Was glaubst du, wie viele der Männer hier sind in sie verliebt?“ Die meisten Personen, die sich im Zimmer aufhalten, sind männlich und nun, wo Diana es gesagt hat, kommt es ihr so vor, als stünde ihre Schwester im Mittelpunkt einer Konstellation, die allein auf sie ausgerichtet ist. Auf sie und Rodolphus und den dunklen Lord.

„Wahrscheinlich ein ganzes Dutzend.“ Diana kichert und mit einem Mal kommt ihr der ganze Abend gar nicht mehr so furchtbar vor. Zumindest hat sie nun einen Menschen, mit dem sie sprechen kann und der sich hier auch ein wenig deplatziert fühlt. „Aber wenn wir schon von verliebten Männern sprechen… als was bist du hier? Als Auszubildende von Gringotts? Oder als die zukünftige Mrs. Goyle?“ Dianas Wangen nehmen die Farben einer gut gereiften Kirsche an.

„Beides?“

„Fragst du mich? Ich frage dich das!“

„Es ist ein bisschen kompliziert… ich habe meine Ausbildung ja gerade erst angefangen und er ist mein direkter Vorgesetzter. Er will sich in den nächsten Monaten darum kümmern, dass ich von einem seiner Kollegen übernommen werde, damit wir nicht mehr so ganz unmittelbar in einem beruflichen Verhältnis zueinander stehen… wir sind verlobt. Er hat mir an Weihnachten einen Antrag gemacht. Oh, es war so romantisch! Ich hab das Gefühl, als würde ich ihn schon ewig lange kennen!“

„Das klingt wirklich… fast perfekt. Herzlichen Glückwunsch!“ Sie stellt sich auf die Zehenspitzen und umarmt Diana, deren Wangen immer noch eine sehr lebendige Farbe haben.

„Danke… danke, ich kann’s gar nicht fassen. Weißt du, dass du die Erste bist, der ich davon erzähle? Meinen Eltern kann ich es einfach noch nicht sagen, sie wären… oh, ich weiß nicht, ich traue mich irgendwie noch gar nicht. Du verurteilst mich doch nicht, oder? Du denkst doch nicht schlecht von mir?“

„Nein.“ Wenn schon, dann dachte sie schlecht von Erwin Goyle, der sich niemanden in seinem Alter suchte. Niemanden, der ihm in Sachen Lebenserfahrung gleich auf war. Niemanden, der vielleicht eine eigene Karriere hatte und nicht nur eine vielversprechend angelaufene Ausbildung und ein UTZ-Zeugnis. „Aber ich bin doch ein bisschen neugierig… wie alt ist er genau?“

„Er wird im Februar 32 Jahre alt… so viel ist das eigentlich gar nicht. In zwanzig Jahren wird man denken, wir wären im selben Alter, wenn man uns sieht.“ Das Strahlen auf Dianas Gesicht verbietet ihr jede Schwarzmalerei – und irgendwie findet sie es beneidenswert, dass jemand in ihrem Alter schon so weit in die Zukunft hinausdenken kann. Vielleicht ist das so, wenn man mit Zahlen gut zurechtkommt. Vielleicht sind dreizehn Jahre dann gar nicht so schrecklich viel. Dreizehn Jahre. Narzissa ist nicht besonders abergläubisch, aber sie muss doch darüber nachdenken, dass das bestimmt irgendwie Unglück bringt. Irgendeine Form von Unglück. „Oh.“ Dianas Mund ist ein Stück aufgeklappt und ihr Kopf dreht sich nach rechts. Automatisch sieht Narzissa in dieselbe Richtung und vergisst beinahe, zu atmen. Irgendwie hat Igor Karkaroff sich in Luft aufgelöst und Lucius vorher noch so durch den Raum dirigiert, dass er nun von Rodolphus und Bellatrix flankiert wird. Sie sieht, dass Lucius den Kopf neigt und der dunkle Lord seinen schmalen Mund zu einem winzigen Lächeln verzieht, das wohl eine Begrüßung darstellen soll. Die Härchen auf ihren Armen stellen sich auf und sie wickelt ihre Strickjacke fester um sich. „Willst du rüber gehen?“

„Nein. Ich will nicht… ich will nach Hause.“

„Ihr müsst ja nicht bis Mitternacht bleiben.“ Trotz des allgemeinen Lärmpegels konnte sie das kristallklare Lachen ihrer Schwester ganz genau hören. Am liebsten wäre sie einfach an Ort und Stelle in Tränen ausgebrochen, doch sie schaffte es irgendwie, sich zusammenzureißen.

„Wollen wir uns vielleicht hinsetzen? Oder willst du zu… zu Erwin zurück?“ Es kam ihr eigenartig vor, den ihr quasi unbekannten Mr. Goyle beim Vornamen zu nennen, doch Förmlichkeiten halfen auch nicht. Diana nickte freundlich, sie nahmen auf einem der Sofas Platz und nach wenigen Minuten tauchte gänzlich unvermittelt Kreacher auf und fragte, ob er ihnen noch etwas bringen könnte.

* * *



Die Zeit rast und die Zeit vergeht nicht. Narzissa ist unendlich dankbar dafür, dass Kreacher ihre Gewohnheiten kennt und ihr ein Glas Wasser nach dem anderen in hübschen Weingläsern bringt. Mit einem Fingerschnipsen sieht das Wasser nach Wein aus und sie fällt nicht besonders auf. Diana bleibt ihr erhalten und sie weiß nicht, wie lange genau sie Lucius aus den Augen verloren hat (nicht zu ihm herübersehen mag), doch irgendwann gesellt sich Erwin Goyle zu ihnen und sie beginnt, sich wie das fünfte Rad am Wagen zu fühlen.

Als irgendwann Rodolphus an dem Sofa vorbeikommt, auf dem sie sich zu dritt niedergelassen haben, da zögert sie keine Sekunde lang und schnappt nach dem Ärmel seines Hemds. Er bleibt stehen und sie erhebt sich.

„Wo ist Lucius?“

„Bella zeigt ihm den Garten.“ Weder Lucius, noch ihre Schwester haben, wenigstens soweit sie weiß, ein ausgeprägtes Interesse für Botanik. Deswegen hält sie das bedauerlicherweise für nicht mehr und nicht weniger als eine mittelmäßige Lüge.

„Würdest du mich vielleicht zu ihm bringen?“

„Natürlich.“ Rodolphus hat aufgehört zu lächeln und sie rechnet schon halb damit, dass er sie zurechtweisen wird, weil sie sich zickig gibt, doch er tut es nicht. Sie verabschiedet sich von Diana, versichert Erwin Goyle, es sei eine Freude gewesen, ihn kennenzulernen und hakt sich demonstrativ bei Rodolphus ein, damit er nicht auf die Idee kommt, ihr davonzulaufen. „Du fühlst dich nicht wohl bei uns?“ Sie verlassen den saalartigen Raum, spazieren durch einen dunklen, mit Teppich ausgelegten Korridor.

„Ach, es liegt nicht an euch. Ich bin heute einfach ein wenig… unpässlich.“ Sie will einfach mal hoffen, dass Rodolphus Lestrange nicht den Schneid oder viel mehr die Dreistigkeit hat, sich eingehender mit ihr über ihren Zyklus unterhalten zu wollen. Er nickt verständig, stellt keine weiteren Fragen und sie bildet sich sogar ein, dass er ein wenig schneller geht.

Es dauert gar nicht allzu lang, bis sie bei einer Hintertür angelangt sind. Rodolphus öffnet die Tür für sie und sie tritt in den wilden Garten heraus. Lucius und ihre Schwester sitzen auf einer Bank, die nah am Haus steht und um die herum jemand das Gras geschnitten hat. Sie nimmt an, dass Rodolphus hier üblicherweise seine Zigarren raucht, insofern er es sich in seinem eigenen Haus verbieten lässt, seinen Gestank zu verbreiten.

Lucius hält ein Glas in der Hand und Bella gleich eine ganze Flasche. Es ist ein höchst befremdlicher Anblick, die beiden so vertraut nebeneinander sitzen zu sehen. Bislang hat weder ihre Schwester ausnehmendes Interesse an Lucius gezeigt, noch hätte Lucius irgendwie sein Bedauern darüber kundgetan, dass er und Bella sich nie wirklich angenähert hatten.

„Bella, ich brauche dich da drinnen. Kreachers Ohren scheinen verstopft zu sein, wenn ich mit ihm spreche.“

Bella, die gewissenhafte Gastgeberin, springt auf und zieht Rodolphus mit sich zurück ins Haus, sodass sie mit Lucius alleine ist. Sie hat keine Lust, sich neben ihn zu setzen oder sich hier irgendwie häuslich einzurichten.

„Können wir gehen?“

„Du siehst blass aus.“

Sie haben beinahe im selben Moment gesprochen und sich beide nicht unterbrochen. Lucius nickt und sie bemerkt seinen unsicheren Stand, als er aufsteht. Sie seufzt. Hat sie es vorhin noch für eine gute Idee gehalten, ihn nicht dabei zu behindern, zu viel zu trinken?

„Soll ich uns apparieren?“

„Wäre vielleicht besser.“ Sie nimmt seinen Arm und denkt mit großer Sehnsucht an das kleine, menschenleere Wohnzimmer. Nirgendwo würde sie den Jahreswechsel lieber verbringen und sie jubelt innerlich, als sie das Klavier sieht, das mit Notizen von Lucius überhäuft ist.

Neben ihr stöhnt Lucius gequält auf und hält sich die Hand vor den Mund. Sicherheitshalber macht sie einen Schritt zur Seite. Sie hat zwar keinen allzu großen Ekel vor Erbrochenem, aber sie hat auch kein Interesse daran, seinen Mageninhalt auf ihren Kleidern zu haben.

„Ist dir schlecht?“

„Geht schon.“

„Setz dich einen Moment hin.“ Er tut wie ihm geheißen und sie fühlt sich fast schon wie eine Heilershelferin, als sie in die Küche geht, ihm ein Glas Wasser bringt und sich neben ihn auf den Boden kniet.

„Tut mir leid.“ Wenigstens nuschelt er nicht. Seine Augen sind verschleiert, aber seine Stimme ist klar, ein wenig rauer als sonst vielleicht. Er tastet nach ihrer Hand und sie verschränkt ihre Finger mit seinen.

„Was tut dir leid?“

„Dass ich zu viel getrunken habe. Ich weiß, du kannst das nicht leiden.“

„Das habe ich nie gesagt.“ Aber es stimmte. Und sie wusste es sehr zu schätzen, dass er nur selten mit seinen Kollegen oder Benedict Merryweather ausging, um zu trinken. Noch mehr wusste sie allerdings zu schätzen, dass er immer nach Hause kam und sie doch niemals weckte, wenn er nicht nüchtern war. Er verbarg sein alkoholisiertes Selbst sehr gut vor ihr und dafür war sie dankbar.

„Das musst du doch nicht sagen. Denkst du, ich hätte vergessen, wie du Rabastan bei Slughorns Weihnachtsparty hast stehen lassen, nur weil er nicht mehr gerade stehen konnte? Wir wären nicht hier, wenn Rabastan mit 17 nicht so versoffen gewesen wäre.“

„Du redest Unsinn. Es hängt doch nicht alles an diesem einen Abend.“ Sie fand, dass sie überzeugend klang, auch wenn sie sich gar nicht so sicher mit dem war, was sie sagte. Vielleicht hing wirklich alles an diesem einen Abend. Vielleicht war es ein Wendepunkt gewesen. Vielleicht wären sie sonst wirklich nicht hier. „Ich finde es auch grundsätzlich nicht schlimm, wenn du mal ein Glas Wein trinkst… ich bin mir nur sehr sicher, dass es immer einen Grund dafür gibt, wenn jemand zu viel trinkt. Wenigstens weiß ich, dass es bei Rabastan einen Grund gibt. Aber welchen Grund hast du heute gehabt? Abgesehen davon, dass ein kalendarischer Feiertag ist.“

„Du verstehst es wirklich nicht, oder? Ich war nervös. Ich hatte Angst davor, ihn kennenzulernen. Nach zwei Gläsern hatte ich keine Angst mehr, nach drei Gläsern habe ich mich fast wohlgefühlt und… es hilft.“

„Du wolltest ihm also gefallen?“

„Natürlich wollte ich das! Wer würde das nicht wollen?!“ Sie weiß nicht, welches Wort sie so schrecklich falsch gewählt hat, aber auf einmal wird er richtig wütend. So aufbrausend hat sie ihn noch nie erlebt und als er weiterspricht, gleicht seine Stimme dem grollenden Donner eines Gewitters. „Ach, ich vergaß, du hast ja vor nichts Angst! Du stehst ja immer über allem drüber! Die feine Miss Black macht sich ja nichts aus der Meinung von Anderen!“ Er lacht auf. „Wie du mich doch verabscheuen musst… manchmal verstehe ich gar nicht, warum du hier bist. Ist es, weil ich dich belustige?“

„Lucius, was redest du denn?“ Vorsichtig streicht sie mit ihren Fingern über seine Wange, doch er dreht den Kopf weg.

„Was ich rede? Was ich rede? Was ist das hier denn? Welche Frau will schon einen Mann, der so offensichtlich schwächer ist als sie selbst? Du bist die bessere Hexe. Du bist bildschön. Du bist eine gottverdammte Black. Wenn du ein Mann wärst und ein wenig skrupelloser, dann würde dir die Welt gehören.“ Sein Kiefer hat sich verhärtet und sie hat schon Angst, dass er sich selbst die Zähne bricht, weil er sie so fest aufeinanderdrückt. „Du brauchst mich nicht. Genauso wenig wie deine Schwester Rodolphus braucht.“

„Lucius, ich liebe dich und du bist betrunken, aber ich liebe dich. Können wir bitte einfach schlafen gehen?“ Er reagiert nicht auf ihren Vorschlag oder geht sonst irgendwie auf sie ein. Stattdessen sitzt er auf dem Sofa, als wäre er zu Stein geworden. Ein ausgesprochen zorniger Stein. Ihre Hand hat er längst abgeschüttelt und als sie versucht, ihn zu berühren, steht er auf einmal kerzengerade auf, während sie noch immer auf dem Boden kniet. „Ich liebe dich.“

„Ja… warum nur? Wofür denn eigentlich?“

Stumm und starr vor Schrecken hockt sie da, schaut zu ihm hoch und weiß mit einem Mal keine Antwort mehr auf seine Frage. Er lacht hart auf, als hätte er genau dieses Schweigen erwartet. Dann macht er einen Schritt nach vorne und noch einen und noch einen und dann wird er von den grünen Flammen des Kamins verschluckt. Fassungslos sieht sie in den leeren Kamin und wartet vergebens darauf, dass er wieder auftaucht. Es fühlt sich so an, als würde ein kleines, bösartiges Nagetier seine Zähne in ihr Herz schlagen und hungrig den ersten Bissen nehmen, auf den es so lange gewartet hat.

Chapter 17: Rochade

Chapter Text

17 – Rochade



Das Erste, was sie sieht, als sie am Morgen die Augen öffnet, ist ein Meer aus Gelb. Auf dem kleinen Nachttisch neben dem Bett steht ein riesiger Strauß gelbe Rosen. Allen Widrigkeiten zum Trotz scheint sie eingeschlafen zu sein. Das Stechen in ihrer Schläfe ist ein Beweis dafür, dass das hier kein Traum ist. In Träumen erwacht man vielleicht auf einer Blumenwiese, aber man hat ganz sicher keine hässlichen Kopfschmerzen.

Sie richtet sich auf und das Nächste, was sie sieht, ist Lucius, der mit schuldbewusster Miene und in den Kleidern des vergangenen Abends, des vergangenen Jahres, am Fußende des Bettes sitzt.

„Es tut mir leid. Es tut mir so fürchterlich leid.“ Sie will gar nicht wissen, wen man am Neujahrsmorgen wecken musste, um so einen bombastischen Blumenstrauß zu bekommen. Selbst halb liegend spürt sie, wie ihre Knie weich werden. Sie hat eine Schwäche für überzogene Entschuldigungen – Entschuldigungen im Allgemeinen – und das muss wohl daran liegen, dass ihre Schwestern stets so getan haben, als wäre kein Unrecht geschehen, ohne sich für zerstörtes Spielzeug, aufgeschrammte Knie oder Tränen verantwortlich zu zeigen.

„Eine Entschuldigung ist gut. Eine Erklärung wäre mir noch lieber.“ Sie zieht ihre Knie an und stützt ihren Kopf darauf ab, um ein wenig Abstand von ihm zu gewinnen. Um sich selbst ein wenig zusammenzuhalten.

„Ich habe die Nerven verloren. Und ich habe zu viel getrunken.“ Das waren zwei sehr offensichtliche Dinge, die es über den gestrigen Abend zu sagen gab. Das war nicht ausreichend. „Ich habe dich nicht verdient, Zissy, das ist mir klar, das vergesse ich keine Sekunde. Und manchmal ist es zu schön, um wahr zu sein, dass du dich wirklich für mich entschieden hast. Besonders dann, wenn ich mich so bescheuert verhalte wie gestern.“

„Wo nimmst du nur diesen Minderwertigkeitskomplex auf einmal her?“ Es ist nicht nett von ihr, das Kind beim Namen zu nennen, aber wenn er wirklich so fühlt, dann hat sie sein Selbstbewusstsein über Jahre hinweg gnadenlos überschätzt.

„Das sind die Feiertage. Eigentlich… eigentlich sind meine Gedanken nicht so erbärmlich, aber die letzten Tage waren hart. Und die Kombination aus deiner Schwester, die alle Geschütze auffährt, um ihren Willen zu kriegen und meinem Vater, der dich verehrt, obwohl ihm die meisten Menschen zuwider sind, das war doch ein bisschen viel. Alle bemühen sich immer so, um vor dir gut da zu stehen und dich auf ihrer Seite zu haben… da ist es leicht, sich unzulänglich vorzukommen.“

„Bella bemüht sich nicht um mich. Sie ist manipulativ. Das liegt ihr im Blut. Jemanden halbherzig von irgendetwas zu überzeugen, für das sie Feuer und Flamme ist, das liegt nicht im Bereich des Möglichen.“ Sie neigt sich nach vorne und sucht nach seiner Hand. Blitzschnell ergreift er sie und zerquetscht ihre Finger. „Und was deinen Vater angeht… ich glaube, du bist ihm viel wichtiger als er dir zeigen kann. Bei mir fällt es ihm vielleicht leichter, weil ich ihn weniger gut kenne… oder weil ich eine Frau bin, ich weiß es nicht, vielleicht liegt da für ihn der Unterschied?“

„Ich weiß es auch nicht, aber wenn ich… wenn ich sehe, wie deine Freundin sich von diesem Finanzdirektor um den Finger wickeln lässt, dann kommen mir die furchtbarsten Gedanken. Mein Vater ist schließlich auch noch nicht besonders alt und ich habe immer erwartet, dass er mir irgendwann eröffnet, dass er wieder heiratet und…“ Er verstummt und seine unausgesprochenen Befürchtungen jagen ihr einen Schauer über den Rücken.

„Das ist ein ganz und gar widerlicher Gedanke.“

„Ich weiß.“

„Und egal, was du von deinem Vater hältst, wie kannst du ernsthaft daran glauben, dass ich so etwas tun würde?“ Er verzieht das Gesicht und man könnte glauben, sie hätte ihm ihre Ferse in den Bauch gebohrt oder ihn sonst wie gequält.

„Es ist irrational und ich hatte nie vor, diesen paranoiden Gedanken mit dir zu teilen, aber… vielleicht ist es klüger, nüchtern darüber zu reden, als auf den falschen Moment zu warten.“ Seine Stimme klang nicht besonders nüchtern, sondern vielmehr ernüchtert, aber das war ja fast dasselbe. „Kannst du mir verzeihen?“

„Nur unter einer Bedingung.“ Er sieht sie erwartungsvoll an und seine Hand zittert so stark, dass sie ihren eigenen Arm auch nicht mehr ruhig halten kann. „Geh nie wieder einfach so. Es ist mir egal, worüber wir uns streiten und wie sauer einer von uns ist oder überhaupt in welchem Zustand, aber geh nicht weg. Ich dachte, ich verliere eher den Verstand als dass ich einschlafe, weil ich nicht wusste, wo du bist oder was du tust. Ich will mir nicht auch noch Sorgen um dich machen müssen, wenn du mich schon kränkst.“

„Ich wollte nur nicht noch mehr sagen, wofür ich mich heute schäme.“

„Dann verhex dich selbst, sodass du nicht mehr sprechen kannst, aber lauf nicht weg. Kannst du mir das versprechen?“ Sie wendet den kleinen, gemeinen Trick an, den Andromeda ihr mit elf oder zwölf Jahren gezeigt hat und wartet gespannt darauf, dass er das entscheidende Wort sagt.

„Versprochen.“ Kaum hat er die letzte Silbe ausgesprochen, zuckt er wie von der sprichwörtlichen Tarantel gestochen zusammen. Entsetzt sieht er auf ihre Hände, die immer noch fest ineinander verschränkt sind. „Was war das?“

„Nur eine kleine Versicherung, dass du dein Wort hältst.“ Auf einmal kann sie ein Lächeln nicht unterdrücken. „Falls du wissen willst, was passiert, wenn du es brichst, dann kannst du es ausprobieren, wann immer du möchtest.“ Erbleicht schüttelt er den Kopf.

„Ganz bestimmt nicht.“ Sie dreht sich zu den gelben Rosen herum, die das Zimmer zu erleuchten scheinen.

„Ist das eigentlich endlich ein zweiter Versuch, meine Lieblingsblumen zu erraten?“

„Kein guter Versuch?“

„Doch, doch, es geht in die richtige Richtung.“ Sie zieht an seiner Hand und er rutscht zu ihr herüber, sodass sie sich an ihn schmiegen kann, ohne die warme Bettdecke aufgeben zu müssen. Er riecht ein bisschen nach Schweiß und schalem Wein, aber das ist ihr für den Moment egal, weil er seine Arme so fest um sie schlingt, als würde er sie nie wieder loslassen wollen. „Frohes neues Jahr, so ganz nebenbei bemerkt.“

„Frohes neues Jahr, Zissy.“

* * *



Es vergeht eine kleine Ewigkeit, bevor einer von ihnen wieder etwas sagt. Sie kann sich gar nicht vorstellen, wie unbequem es für ihn sein muss, ihr gesamtes Gewicht ertragen zu müssen, doch er beklagt sich nicht und unternimmt auch keinen Versuch, sie irgendwie umzusetzen.

„Ich muss zur Toilette.“ Sie nuschelt in sein Hemd hinein, aber er hat sie trotzdem verstanden und gibt sie vorsichtig, als wäre sie ganz zerbrechlich, frei.

„Wenn du mich kurz unter die Dusche lässt, dann kümmere ich mich um das Frühstück, während du dich fertig machst.“ Sie konnte ihre Skepsis nicht verstecken. Wenn Lucius sich in die Küche begab, dann öffnete er in der Regel irgendwelche Packungen oder Flaschen. Mehr als ein belegtes Brot oder eine Schüssel Müsli hatte sie ihn noch nicht zubereiten sehen.

„Ich habe alle Zutaten für Pfannkuchen gekauft.“

„Okay.“ So ganz nimmt sie ihm diese Souveränität nicht ab. „Was? Denkst du, ich wäre nicht in der Lage, Pfannkuchen zu machen?“ Sie zuckt ganz diplomatisch mit den Schultern. „Du wirst noch Augen machen. Gib mir fünf Minuten Vorsprung.“

„Vier.“

„Du kannst auch gehen, während ich unter der Dusche stehe, wenn es dringend ist. Ich bin mir sicher, die Wasserleitungen verkraften das.“

„Um Gottes Willen! Beeil dich einfach.“

„Du machst dir aber keine Illusionen darüber, dass ich weiß, dass du ein Mensch mit einem Verdauungsapparat bist, oder?“ Sie macht ein Geräusch, mit dem man für gewöhnlich Katzen verscheucht und er verschwindet mit zuckenden Mundwinkeln in Richtung des Badezimmers. Erschüttert über so viel Realismus und so wenig Sinn für Romantik verändert sie ihre Sitzposition, sodass sie sich noch ein paar Minuten einreden kann, eine Puppe ohne innere Organe und eine drückende Blase zu sein.

Als sie endlich das Badezimmer betritt, gilt der zweite Blick ihrem Spiegelbild und sie erschreckt sich beinahe zu Tode. In ihrem ganzen Leben sah sie wahrscheinlich noch nie so schrecklich aus. Ihre Augen sind ganz verquollen und man kann ihr förmlich ansehen, dass sie Kopfschmerzen hat. Ihre Haare sind verknotet ohne Ende, weil sie vorm Schlafengehen keinen Kamm mehr in die Hand genommen hat. Verglichen mit ihren roten, dicken Augen wirken ihre Wangen hohl und blass und sie wendet schnell den Blick ab.

Während sie das Badewasser einlässt, nimmt sie aus dem Schrank eine Kräutermischung, die gegen allerlei Beschwerden und hoffentlich auch gegen das Pochen hinter ihrer Stirn hilft. Ihre Großmutter Melania hat ihr früher immer alle möglichen Ammenmärchen aufgetischt, worin diese oder jene Unannehmlichkeit des Lebens begründet liegt. Über das Weinen hat sie zu sagen gewusst, dass einem danach nicht das Herz, sondern der Kopf wehtut, weil das Gehirn zu wenig Flüssigkeit hat, um sich von der Traurigkeit wieder zu erholen. Bis heute ist Narzissa unsicher, ob das ein Trick war, um sie zum Wassertrinken zu motivieren oder ob etwas an der Geschichte dran ist. Besonders unlogisch findet sie es nicht, aber das muss nichts heißen. Zur Sicherheit nimmt sie trotzdem ein paar Schlucke aus dem Wasserhahn, ehe sie sich die Kräuter in den Mund steckt und ein bisschen darauf herumkaut.

Als sie sich abtrocknet und vorsichtig wieder in den Spiegel blickt, sieht sie keine massiven Verbesserungen, aber wenigstens denkt man bei ihrem Anblick auch nicht mehr, dass sie aufs Rad gespannt worden wäre. Die Kopfschmerzen sind vergleichsweise mild und nun weiß sie nicht, ob sie den Kräutern oder ihrer Großmutter zu danken hat

Lucius ohne seinen Zauberstab und nur mit der Pfanne vor dem Herd stehen zu sehen, ist ein irritierendes und gleichzeitig herrliches Bild. Sie lehnt gegen den Türrahmen und beobachtet ihn dabei, wie er konzentriert einen der Pfannkuchen wendet, ohne sich bemerkbar zu machen. An diesen Moment will sie sich auch noch in fünfzig Jahren haargenau erinnern können.

„Das könnte eine Neujahrstradition für uns werden.“ Ein wenig selbstgefällig lässt Lucius den Pfannkuchen auf einem hübschen Stapel seinesgleichen landen. Mit einer Kelle holt er den Rest Teig aus der Schüssel. Als sie den Teller nehmen und ins Wohnzimmer tragen will, kommt er ihr zuvor und schickt die Pfannkuchen mit einem zielgerichteten Zauberspruch durch den Türrahmen auf den kleinen Esstisch. Narzissa fallen fast die Augen aus dem Kopf, als sie bemerkt, dass dort eine ihr unbekannte Tischdecke ausgebreitet ist und zwischen zwei Tellern nicht nur eine angezündete Kerze steht, sondern auch Weintrauben, Apfelstücke und geschälte Orangen drapiert worden sind. „Jetzt willst du mich aber beeindrucken.“

„Gelegenheit macht Laune.“

„Vielleicht könnte es auch eine Tradition für sämtliche Sonn- und Feiertage werden? Oder beschränkt sich dein Talent auf dieses eine Gericht?“

„Wo denkst du hin.“ Bildet sie sich das ein oder klingt er wirklich ein wenig verschnupft, weil sie ihn nicht für einen Sternekoch gehalten hat? „Meine Mutter konnte eine regelrechte Verschwörungstheoretikerin sein. Sie hat fest daran geglaubt, dass die Hauselfen sich eines Tages auflehnen und ihre Herren verhungern lassen werden. Deshalb hat sie sich selbst, aus reiner Profilaxe, das Kochen und Backen beigebracht und uns auch dazu genötigt, damit wir uns im Falle des Falles um uns selbst kümmern können.“

„Uns? Sag bloß, dein Vater schwingt auch den Kochlöffel?“ Ein kochender und backender – und am Ende sogar Schürzen tragender – Abraxas Malfoy… das überstieg ihre Vorstellungskraft vollkommen. Zu ihrer Verwunderung guckt Lucius ebenfalls so, als wäre das eine ganz abstruse Idee von ihr.

„Unsinn. Er hat es über sich ergehen lassen, aber ich glaube nicht, dass er jemals von seinem neu erworbenen Wissen Gebrauch gemacht hat. Dobby ist aber auch sehr zuverlässig. Selbst wenn die Hauselfen die Revolution proben, Dobby wäre der Allerletzte, der sein Staubtuch fallen lässt.“

„Apropos geprobte Revolution… reden wir noch über gestern Abend? Oder sind wir damit durch?“

„Wir können gleich anfangen. Setz dich doch schon mal hin, sonst wird alles kalt.“

„Ich weiß, dass du mich hören kannst.“

„Und ich weiß, dass du mich ebenso hören kannst, Zissy, also bitte, setz dich.“

Widerstand scheint zwecklos, darum geht sie zu der kleinen Tafel und bewundert das Stickmuster der Tischdecke aus nächster Nähe. Der letzte Pfannkuchen fliegt direkt auf ihren Teller, Lucius setzt die heiße Pfanne und Teigschüssel unter Wasser, wischt sich die Hände an einem Küchentuch ab und nimmt ihr gegenüber Platz.

Auf seine Aufforderung hin probiert sie den ersten Bissen und ist beeindruckt, wie gut es schmeckt. Auch wenn sie nun nicht gedacht hat, dass er Zucker und Salz nicht auseinanderhalten könnte.

„Das ist die leckerste Entschuldigung, die ich je bekommen habe.“

„Ich merke mir also für die Zukunft, dass Teiggebäck bei dir über Blumen geht?“

„Selbstverständlich. Für einen richtig guten Kuchen wäre ich unter Umständen auch bereit, einen Mord zu verzeihen.“

„Da spricht der Zucker aus dir.“  Sie lächelt mit geschlossenem Mund und lässt sich von dem Frühstück verzaubern und zum Schweigen bringen, auch wenn es vermutlich wirklich wichtig wäre, dass sie über diese Zusammenkunft im Ballsaal der Lestranges sprechen. Denn sie können ja doch nicht für immer nicht darüber reden.

Als sie den letzten, dünnen Pfannkuchen auf dem Teller liegen sieht, da hat sie bereits die unangenehme Ahnung, sich überfressen zu haben und den Rest des Tages unter ihrem ungehemmten Appetit zu leiden. Sie lässt das Besteck los, hebt beide Hände und ergibt sich.

„Wenn ich auch nur noch einen Bissen esse, dann muss ich zum Sofa getragen werden.“

„Gar kein Problem.“ Er steht auf und nun sind ihre erhobenen Hände eine Drohnung.

„Das wagst du nicht! Ich habe zwei gesunde Füße, die ich benutzen kann, lass mich nur noch einen Moment ruhig hier sitzen… Lucius!“ Er hat sich nicht aufhalten lassen und innerhalb von wenigen, protesterfüllten Atemzügen hat er sie auf seine Arme gehoben. Ihren Stuhl zum Schweben zu bringen, wäre im wahrsten Sinne des Wortes leichter gewesen, doch so ist es ganz stilecht. „Du übertreibst. Ich kann laufen. Das sind vielleicht drei Meter.“

„Mehr schaffe ich auch nicht.“ Er tut so, als würde er sie hochwerfen und sie umklammert kreischend seinen Hals. Erst als sie das weiche Polster unter sich spürt, lässt sie ihn los.

„Du bist unmöglich. Einfach unmöglich. Du hast dir bestimmt was verzogen… wo willst du denn jetzt hin?“

„Den Abwasch erledigen.“

„Doch nicht etwa von Hand?“ Er verschwindet in der Küche und bleibt ihr die Antwort knapp eine Minute schuldig. Dann kommt er zurück und lässt sich neben sie auf das Sofa fallen.

„Meine Haushaltszauber sind nicht so routiniert. Ich gucke lieber, ob auch alles funktioniert,  bevor wir demnächst vom Boden essen müssen, weil alle Teller entscheiden, an einem Himmelfahrtskommando teilzunehmen.“ Die Vorstellung, wie das Geschirr unter einem fehlgeleiteten Zauberspruch suizidale Absichten entwickelt, bringt sie zum Lachen. Sie drückt ein Kissen auf ihren schmerzenden Bauch und entscheidet schließlich, dass es am bequemsten ist, wenn sie sich auf den Rücken legt und ihren Kopf auf seinem Schoß deponiert. Das Kissen hält sie fest umschlungen.

„Und was machen wir jetzt?“

„Heute?“ Er wickelt eine ihrer Haarsträhnen um seinen Finger. Ein hübsches Ausweichmanöver, aber Verdrängung ist nicht gesund. Wenn sie zu viele Dinge totschweigen, so wie ihre Schwester, allzu gerne überhaupt ihre Familien, dann verlernen sie das Sprechen irgendwann noch ganz.

„Du weißt, was ich meine. Was machen wir aus gestern Abend? Du hast… du hast mit ihm gesprochen, oder? Wie ist er so? Ist er… freundlich?“

„Freundlich ist der falsche Ausdruck. Er kam mir sehr… vernünftig vor. Und sehr einnehmend, aber auf eine andere Art als beispielsweise Bellatrix. Er ist kein Narr und ich hatte den Eindruck, dass er einen groß angelegten Plan hat, den man anhand der Schlagzeilen, die er macht, nicht erahnen kann. Er hat sich nach dir erkundigt. Bellatrix scheint ihm sehr… wichtig zu sein. Offen gestanden glaube ich, dass er enttäuscht war, nicht persönlich mit dir gesprochen zu haben. Ich vermute, dass wir nicht meinetwegen dort waren.“ Lucius macht eine kleine Pause, doch sie spürt, dass er noch nicht ganz fertig ist. „Er weiß genau, was er tut. Der Name Black hat immer noch sehr viel Gewicht… ich habe dort etliche Leute gesehen, deren Nachnamen nicht ganz unbedeutend sind, aber das alte und gar vornehme Haus der Blacks… das ist etwas Besonderes. Ein Juwel der Reinblütigkeit und eine der ältesten magischen Familien Europas.“

„Eine der irrsinnigsten Familien Europas. Außerdem… die Malfoys und die Blacks sind gleichermaßen reinblütig. Ich weiß noch, dass ich den Namen Malfoy in der zweiten Klasse mal in einem Lehrbuch für Zaubereigeschichte entdeckt habe! Der Stammbaum deiner Familie reicht bis ins Mittelalter zurück.“

„Das mag sein, aber meine Vorfahren waren… Giftmischer und Intriganten. Eine Familientradition der Malfoys ist es, sich nicht angreifbar zu machen und immer schön im Hintergrund zu bleiben. Mein Großvater hat mir früher immer eingebläut, es wäre nicht erstrebenswert auf der Bühne zu tanzen, sondern in der ersten Reihe die Fäden in der Hand zu halten. Mir fällt kein Malfoy ein, der sich jemals mit Ruhm bekleckert hätte. Und glaub mir, mir hat im Ministerium mehr als ein Zauberer eher ungern die Hand gegeben, sobald ich mich vorgestellt habe. Meine Familie ist kein Symbol für respektable Altehrwürdigkeit, sondern für… Niedertracht. Muss ich mehr sagen oder ist der Unterschied klar genug geworden?“

„So klar wie Drachenglas.“ Sie dreht sich ein wenig und lehnt sich gegen das Kissen, das ihren rund gegessenen Bauch verbirgt. „Allerdings glaube ich nicht, dass er dich anhand deiner Vorfahren beurteilen wird. Ich meine… wie ist eigentlich sein Familienname? Kennt man seine Eltern? Geschwister? Hat er Kinder?“ Sie legt den Kopf in den Nacken und versucht, einen Blick auf sein Gesicht zu erhaschen, doch es zieht unangenehm in ihrem Hals und deswegen nimmt sie wieder ihre ursprüngliche Haltung ein.

„Ich weiß es nicht. Ich glaube… er hat keine Familie. Aber darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Er wird wohl kaum unter dem Namen Lord Voldemort geboren worden sein.“

„Stell dir das nur einmal vor… ein Baby namens Lord Voldemort! Was für ein Mensch muss man sein, um sein Kind Lord zu nennen?“ Was für ein Mensch musste man sein, um sich selbst Lord zu nennen? Das war die eigentliche Frage, die sie nicht laut zu stellen wagte. Es war schon eigenartig genug, diesen Namen auszusprechen, den die Zeitungen nicht mehr nennen wollten. Lucius lachte leise und streichelte mit seinen Fingern durch ihre Haare, in denen sich schon wieder die ersten Knoten bildeten. Die ersten Anzeichen von Chaos. „Aber mal ganz im Ernst… du denkst also, wir sollten wieder zu so einer… Zusammenkunft gehen? Und die Leute dort besser kennenlernen?“

„Also ich für meinen Teil würde gerne erleben, wie es zugeht, wenn nicht alle so tun, als wäre es eine lustige Abendgesellschaft. Ich denke, es könnte… interessant sein. Aber ich würde von dir nicht verlangen, noch einmal mitzukommen. Ich kann verstehen, wenn dir die Vorstellung nicht behagt.“

„Es war unheimlich dort. Im Haus meiner eigenen Schwester sollte es so eine Unheimlichkeit nicht geben – und auch, wenn ich Rodolphus nicht sonderlich gut leiden kann, seine Anwesenheit reicht für gewöhnlich nicht aus, damit ich mich ganz und gar komisch fühle. Das muss an… ihm gelegen haben. Aber ich kann dir ja auch nicht verbieten, noch einmal dorthin zu gehen.“

„Aber du würdest es mir gerne verbieten?“

„Ich wünschte, du fändest ihn nur unheimlich und nicht interessant.“ Allein bei dem Gedanken daran, wie sie diesem Mann direkt gegenüberstehen könnte, verwandeln sich die Pfannkuchen in ihrem Magen zu Felsbrocken. Sie zieht die Beine an und rutscht noch ein wenig mehr in seine Richtung, sodass sie ihr Gesicht in seinem Pullover verbergen kann. „Ich will einfach daran glauben, dass er mich sowieso nur als schmückendes Beiwerk betrachtet hat. Es sind schließlich nicht sonderlich viele Frauen dort gewesen und ich habe keine Hexe gesehen, die nicht jemanden begleitet hat. Ich bin einfach nur dekorativ an deiner Seite, ja, so ist es doch?“

„Wenn du möchtest, dass er dich so sieht…“

„Ja, ja, das möchte ich. Das möchte ich sein.“ Sie schließt die Augen und spürt seine Lippen, die einen sanften Kuss auf ihre Stirn drücken. In diesem Moment kann sie kaum noch glauben, dass ihre Welt vor nicht einmal zwölf Stunden auf diesem Sofa ein kleines Stück untergegangen und zerbrochen sein soll.

 

 

Chapter 18: Schach

Chapter Text


18 – Schach



„Wie Sie vielleicht wissen, gibt es zwischen den großen Sommerferien Ihrer Schulzeit und den Semesterferien an der Universität einen entscheidenden Unterschied. Nur, weil Sie keine Veranstaltungen auf dem Campus haben, bedeutet das nicht im Umkehrschluss, dass Ihr Studium pausiert. Die nächsten zwei Monate haben Sie Zeit, um den Stoff nachzuarbeiten, sich mental für das zweite Semester zu rüsten – und einen Zauberspruch zu kreieren, den Sie mir nach Ostern präsentieren können. Es war dieses Semester zwar sehr nett mit Ihnen allen, doch wer mir keinen Spruch servieren kann, den ich dem Rat für Magische Patente vorlegen kann, von dem muss ich mich leider verabschieden. Sollten Sie Fragen zu der Aufgabe haben, können Sie jeden Freitag um Punkt 12 Uhr in meine Sprechstunde kommen. Ich bitte um vorherige Anmeldung über den Postweg.“ Professor Chamberlain lächelt mit einem Mal ganz freundlich in das Dutzend Gesichter, das es bis zum Ende des Wintersemesters geschafft hat. „Ich wünsche Ihnen erholsame und produktive Ferien. Guten Tag, meine Damen und Herren.“ Er klatschte dreimal in die Hände und der Hörsaal applaudierte.

Betont langsam packte Professor Chamberlain seine Sachen zusammen und Narzissa sah, dass ein oder zwei ihrer Kommilitonen zögerlich in Richtung des Pultes gingen. Sie bewunderte Menschen, die in so einem Moment schon brauchbare Fragen hatten. In ihrem Kopf herrschte eine schreiende, leicht panische Leere und sie versuchte, beim Verlassen des Hörsaals jedes Lächeln und jeden Blick zu erwidern. Besonders warm war sie mit den anderen Studenten bislang nicht geworden und sie wusste, dass es irgendwo ihre eigene Schuld war. Sie lernte eher selten in der Bibliothek, insofern sie keine Bücher benötigte. Wenn sie sich in den Cafés auf dem Campus aufhielt, dann war sie häufig mit Diana oder, vor den Weihnachtsferien, mit Rabastan verabredet gewesen. An irgendwelchen abendlichen Veranstaltungen, die von dem studentischen Netzwerk organisiert wurden, nahm sie nicht teil. Sie war mittlerweile soweit, dass sie die Namen aller Personen in diesem Hörsaal kannte und wusste, aus welchem Land sie stammten. Aber sehr viel weiter war sie bislang nicht gekommen.

Auf dem breiten Korridor vor dem Hörsaal war keine Menschenseele und sie zweifelte schon daran, ob sie eine präzise Wegbeschreibung geliefert hatte, als Diana keuchend und mit leuchtend roten Wangen um die Ecke gebogen kam. Sie musste gar nicht erklären, warum sie mehr schlecht als recht pünktlich war, denn den Grund dafür hielt sie an der Hand. Samara.

Seit ihrem letzten Schultag hatte sie ihre ehemalige Zimmergenossin nicht mehr gesehen – und mit Diana war sie sehr viel weniger auf Hogwarts und Samara oder Elaine zu sprechen gekommen, als man meinen sollte. Samaras Umarmung war so stürmisch, dass sie die dicken, weichen Haare der Anderen in den Mund bekam.

„Ach, ist das toll, euch zu sehen! Mein Gott, ich kann’s gar nicht fassen! Wieso schaffe ich es eigentlich nie, auf meine Post zu antworten? Mensch, es tut mir so leid, du hast mir doch nicht auch geschrieben, oder?“ Schuldbewusst, doch mehr aufgeregt als vom schlechten Gewissen zerfressen, sah Samara ihr in die Augen.

„Nein, ich hab dir nicht geschrieben.“

„Gut! Dann fühle ich mich nicht ganz so treulos! Also was machen wir, gehen wir was essen oder bin ich die Einzige, die Hunger hat? Wir können auch tanzen gehen, aber erst will ich hören, was ihr so getrieben habt! Narzissa, deine Haare sind der Wahnsinn! Das muss ich gleich sagen!“

„Dankeschön.“ So enthusiastisch hat niemand auf ihren Friseurbesuch reagiert, der ja nun schon ein wenig länger zurückliegt. Eigentlich hätte sie Samara dafür danken müssen, dass sie ihr von dem Friseursalon erzählt hatte, den sie seit dem Sommer noch zwei weitere Male aufgesucht hatte. „Also ich hab Hunger.“

„Sehr gut!“ Samara hakt sich links und rechts bei ihr und Diana ein, aber es fühlt sich nicht so an, als würde sie sich damit irgendwie zwischen sie drängen. Ihre überschwängliche Art ist irgendwie sogar ganz nett und sie muss über sich selbst lachen, wenn sie daran zurückdenkt, dass sie zwischenzeitlich sogar ein bisschen Angst vor ihrer ehemaligen Mitschülern gehabt hat.

* * *



Eine Stunde später dreht sich ihr Kopf wie verrückt und ihr Gesicht tut weh, weil sie ständig grinsen muss. Nachdem Diana die Frage aller Fragen nach dem Verbleib von Viktor Nott gestellt hat, gab es keine zehn Sekunden, in denen Samara den Mund gehalten hätte. Offenbar hatte Viktor im Herbst beschlossen, dass ihm „eine einfache Greengrass“ nicht gut genug sei und überhaupt, hübsch sei sie ja, aber er könnte sich nicht vorstellen, mit ihr alt zu werden, sie sei nicht reif genug und in solchen Dimensionen müsse man doch denken. Daraufhin hatte Samara nicht nur eine Vielzahl von Wertgegenständen aus dem Besitz der Notts zerstört, sondern sich auch ordentlich ausgetobt. Ihre Ausbildung als Schreibkraft in dem Betrieb von Viktors Onkel hatte sie hingeschmissen – denn wofür sollte sie sich noch weiter von dieser „Sippe“ ausbeuten lassen? Um auch ja kein gutes Haar an Viktor zu lassen, setzte sie ganz vorne an und sparte keine schlechte Charaktereigenschaft aus, die Viktor ihr seit seinem dreizehnten Lebensjahr offenbart hatte. Es war mehr als nur unterhaltsam, Samaras Tiraden zu lauschen, doch Narzissa war froh, dass sie in einem Lokal gelandet waren, in dem sie niemand kannte oder sich nach einer laut zeternden Mädchenstimme umdrehte.

„Und was ist mit euch? Ihr seht ja beide hochzufrieden aus – und wohlgenährt.“ Samara warf einen Blick auf ihren Oberschenkel und diese gnadenlose Spitze traf sie aus dem Nichts. Die Bemerkung ihrer Schwester, dass sie zugelegt hätte, war fast aus ihrem Gedächtnis verschwunden, auch wenn sie schon bemerkt hatte, dass einige Röcke, die sie schon sehr lange besaß, ein wenig eng saßen. Sie versuchte, nicht gekränkt auszusehen, aber es misslang ihr wahrscheinlich ganz fürchterlich. „Oh, so meine ich das doch nicht! Es steht dir! Du siehst viel gesünder aus, nicht mehr wie ein kleines Schlossgespenst.“ Übermütig und entschuldigend zugleich tippt Samara ihr mit einem Finger auf die Nase. „Du bist aufgeblüht, mehr wollte ich gar nicht sagen. Wie geht es Lucius?“

„Gut, es geht… ihm gut.“ Fast hätte sie „uns“ gesagt, aber das klang ihr dann doch ein bisschen zu symbiotisch. Wahrscheinlich konnte Samara ganz genau hören, was ihr da beinahe entschlüpft wäre. Sie lächelt nachsichtig.

„Ich weiß wirklich nicht, ob ich neidisch sein soll oder ob ich dich zutiefst bemitleide, weil du in diesem Leben wahrscheinlich nur die Vorzüge eines einzigen Mannes kennenlernen wirst.“ Narzissa spürt förmlich, wie sich die Hitze auf ihrem Gesicht ausbreitet und sie betrachtet interessiert den Inhalt ihres Glases. Samara kichert und tätschelt ihr fast mütterlich das Knie. „Entschuldige. Ich will ja gar nicht daran zweifeln, dass Lucius Malfoy die eine Hälfte der Menschheit ganz wunderbar repräsentiert.“

„Du bist schamlos. So so schamlos.“

„Ich hab dich auch vermisst.“ Samara wendet sich Diana zu, die gar nicht undankbar dafür scheint, nicht zuerst ins Kreuzverhör genommen worden zu sein. Die Stimme von Professor Chamberlain hallt in ihren Ohren. Sich mental für das zweite Semester rüsten. Besser wäre es gewesen, wenn sie sich auf ein Wiedersehen mit Samara eingestellt hätte. „Und dich natürlich auch! Was ist bei dir so los? Bring mich auf den neuesten Stand. Ich will alles wissen. Alles. Auch die schmutzigen Details. Fang am besten mit der Geschichte an, wie du zu diesem bezaubernden Schmuckstück gekommen bist.“ Mit einem fachmännischen Zwinkern betrachtet Samara den Ringfinger von Diana, an dem, in der Tat, ein schlichter, aber schöner und sicher nicht billiger Verlobungsring steckt. Unauffällig wirft sie einen Blick auf ihre eigenen, nackten Finger, die genauso aussehen wie in den letzten 19 Jahren ihres Lebens. Urplötzlich kommen ihr heftige Zweifel daran, ob Lucius sie jemals fragen wird, ob sie seine Frau wird. Was ist, wenn sie solange mahnend darüber scherzen, dass ein Antrag ja reine Formsache ist, dass es nie passieren wird. Sie weiß nicht, ob sie nicht zu nachtragend ist, um so ein Versäumnis dauerhaft hinzunehmen.

Sie ärgert sich über ihren mangelnden Optimismus und die Schwere ihrer Gedanken. Rasch nimmt sie noch einen Schluck von dem extrem zuckerhaltigen, fast schon zu süßen Getränk und lauscht der Geschichte von Erwin Goyle und Diana zum zweiten Mal in einer deutlich selbstbewussteren, ausgeschmückteren Variante.

* * *



Es ist nicht wirklich spät, als sie auseinandergehen, doch Narzissa ist es absolut nicht gewöhnt, um diese Uhrzeit noch nicht zuhause zu sein. Sie ist froh darum, dass das Lokal an das Flohnetzwerk angeschlossen ist, aber sie lässt Diana trotzdem den Vortritt.

Nachdenklich betrachtet Samara sie und aus irgendeinem Grund weiß sie sehr genau, was als Nächstes passieren wird. „Du willst auch nach Hause, oder?“ Vor wenigen Minuten hatte Diana ein wenig verschämt geäußert, dass Erwin beim Abendessen mit ihr rechnen würde und auch, wenn sie nun schon gegessen hatte, wollte sie ihn doch nicht versetzen.

„Ich habe heute nichts Besonderes mehr vor.“ Und Lucius hatte sie zwar nur gesagt, dass sie nach ihrer letzten Vorlesung noch etwas mit Diana unternehmen würde und vermutlich nahm er auch an, dass sie jede Minute nach Hause kam, aber sie hatte ihm keine Uhrzeit genannt. Sie hatten keine Vereinbarungen getroffen.

„Wollen wir dann vielleicht noch ein bisschen spazieren gehen? Ich brauche noch frische Luft, bevor ich wieder den Rest des Abends in meinem Zimmer hocke.“

„Sicher.“

Sauerstoff war nie verkehrt. Und in der Gegenwart von Samara fühlte sie sich einigermaßen sicher. Alleine würde sie niemals auf die Idee kommen, einfach so durch eine Stadt zu schlendern, die sie kaum kannte, doch irgendwo war es auch eine Schande, dass sie außerhalb des Campus bislang so wenig von Cambridge gesehen hatte. Es war weder besonders warm, noch eisig kalt und sie fühlte sich mit ihrem Schal und ihrem Wintermantel nicht unpassend gekleidet. Samara, die nur eine dünne Jacke und eine annähernd durchsichtige Strumpfhose unter ihrem Kleid trug, hakte sich nicht ganz uneigennützig bei ihr ein.

„Meinst du, mit mir stimmt irgendetwas nicht?“ Es war befremdlich, wenn eine grundlegend leichtfertige Person wie Samara einen so besorgten Unterton in der Stimme hatte.

„Was soll mit dir nicht stimmen?“

„Ach, ich weiß auch nicht. Aber warum hat Viktor nach all den Jahren in mir keine Frau gesehen, mit der er zusammenbleiben möchte, sondern nur ein kleines Mädchen, das ihm ein schöner Zeitvertreib gewesen ist? Bin ich denn wirklich so unreif – oder warum ist sich ein Soziopath allererster Güte wie Lucius bei dir so sicher?! Oder so ein steinalter Kerl mit Diana? Nichts für ungut.“

„Vielleicht ist es ja eigentlich Viktor, der unreif ist.“ Samara schaut sie an, als hätte sie mal kurz die Hand in die Luft gestreckt und dabei aus Versehen den Mond vom Himmel geholt. „Ich meine ja nur. Viele Menschen mögen gerade die Eigenschaften an Anderen nicht, die sie selbst genauso haben.“

„Das ergibt schockierend viel Sinn.“ Samara räuspert sich ein wenig kleinlaut. „Entschuldige, dass ich deinen Freund einen Soziopathen genannt habe… das ist mir so rausgerutscht.“

„Ist schon gut. Vielleicht ist er manchmal ein bisschen soziopathisch… oder zumindest nicht das genaue Gegenteil davon.“ Lucius kannte auf jeden Fall mehr Menschen, mit denen er nichts zu tun haben wollte, als Menschen, mit denen er etwas zu tun haben wollte. Und sie erinnerte sich noch gut daran, wie er einmal gesagt hatte, dass er den Kontakt zu Menschen, die ihn eigentlich nicht interessierten, als Zeitverschwendung betrachtete. Das waren ja doch irgendwie harte Worte, wenn man mal genauer darüber nachdachte.

„Aber du bist glücklich, oder? Du siehst so glücklich aus. So glücklich hatte ich dich gar nicht in Erinnerung.“ Nachdem Samara dreimal hintereinander „glücklich“ gesagt hat, kommt ihr das Wort schon ganz absurd vor, aber sie nickt.

„Ja, er macht mich glücklich. Und alles andere ist irgendwie… ich weiß auch nicht. Ich gehe gerne zur Universität, ich lerne gerne Dinge, die mich interessieren und ich bin froh, dass wir uns jetzt sehen, aber ich frage mich manchmal wirklich, was ich früher eigentlich die ganze Zeit ohne Lucius gemacht habe. Ich meine, der Tag hatte auch da schon 24 Stunden und ich habe mich ja nicht die ganze Zeit gelangweilt oder mir einen Freund gewünscht. Also was habe ich nur gemacht?“

So laut dachte sie normalerweise nicht. So große Fragen stellte sie für gewöhnlich nicht einmal ihrem Spiegelbild. Wenn sie die Bedienung nicht peinlich genau nach den Inhaltsstoffen ihrer kuriosen Limonade ausgefragt hätte, dann würde sie glatt glauben, beschwipst zu sein.

„Genau dieselbe Frage stelle ich mir manchmal auch. Ich meine, ich habe ja nicht mein Leben lang Zeit in Viktor investiert, also warum langweilt es mich jetzt manchmal, wenn ich Zeit für mich allein habe? Ich komme mir so erbärmlich vor. Als wäre ich mir allein nicht mehr genug.“ Samara schnaubt abfällig über sich selbst und weicht einem entgegenkommenden Fußgänger aus, der einen weißen Pudel an der Leine spazieren führt. Der Hund schnuppert ihnen interessiert nach und Narzissa ist versucht, den Fremden freundlich zu grüßen, doch Samara beschleunigt ihr Tempo und weil sie immer noch eingehakt gehen, sieht sie zu, dass sie Schritt hält. „Aber bei dir ist der Fall doch klar. Du hast zwei Schwestern, die nur unwesentlich älter sind. Wie hättest du dich langweilen sollen? Ihr habt in der Schule immer viel Zeit miteinander verbracht… hast du eigentlich nochmal von Andromeda gehört?“

„Nein.“

„Schade… ich hab mir letztens eingebildet, diesen Tonks gesehen zu haben.“ Wie vom Donner gerührt dreht sie sich zu Samara um, die sie zerknirscht anlächelt. „Meine Augen können mich aber auch leicht getäuscht haben. Es hat schon gedämmert und in der Nokturngasse sieht man ja allerlei Dinge, die eher unwirklich als wirklich sind.“

„Du bist alleine in der Nokturngasse unterwegs gewesen?“

„Na, Unsinn, ich hab meinen Cousin begleitet. Der ist fast zwei Meter groß und auch sonst keine zarte Erscheinung. Er wollte dort irgendein nicht ganz legales Mittelchen zur Schädlingsbekämpfung auftreiben… sein Kräutergarten hat ein akutes Schneckenproblem. Er steckt so tief in der Krise, dass er im Zwielicht eingekauft hat. Und ich bin nur mitgegangen, weil man mich zurzeit mit jeder Aktivität hinterm Ofen hervorlocken kann.“

„Vielleicht solltest du dich nach einem neuen Job umsehen? Oder…“

„… mal ernsthaft darüber nachdenken, was ich aus meinem Leben machen will? Ich weiß schon, ich weiß schon. Diese Unterhaltung führe ich in fünf Spielarten jeden Tag mit meinen Eltern. Lass uns nicht darüber sprechen. Lass uns tanzen gehen!“

„Ich glaube nicht, dass ich tanzen gehen möchte.“

„Auch nicht, wenn ich deine Tanzpartnerin bin? Ich schwör’s dir, ich werde dir nicht von der Seite weichen. Das wird ganz anständig!“ Sie hat kein gutes Bauchgefühl dabei, aber sie will Samara auch nicht enttäuschen. Ihre Freundin stößt sie zaghaft mit dem Ellenbogen in die Seite. „Na komm schon, ich bring dich auch nach einer Stunde wieder nach Hause. Versprochen!“

„Eine Stunde. Und keine Minute länger.“ Samara jubelt und ehe Narzissa noch ein Wort sagen kann, appariert Samara und zieht sie mit sich durch das beklemmende, allesverschluckende Nichts.

* * *



Verschwitzt und zufrieden landet sie eine großzügig bemessene Stunde später neben Samara in einem spärlich beleuchteten Raum, der zum Haus der Familie Greengrass gehört. Samara knickst und deutet mit einer großzügigen Geste in Richtung des Kamins, der nicht einmal drei Schritte von ihnen entfernt ist.

„Bitte sehr, die Dame. Ihr Palast ist nur einen Flohsprung entfernt.“ Ihre Beine fühlen sich schon müde an, obwohl ihr Kopf noch hellwach ist und sie klettert ein wenig unbeholfen in den niedrigen Kamin der Familie Greengrass. Um mit ihr auf Augenhöhe zu sein, geht Samara in die Knie. „Ich muss kein schlechtes Gewissen haben, weil ich dich raus in die Welt gezerrt habe, oder? Du hattest Spaß, oder?“

„Ich hatte Spaß.“

„Gut.“ Samara lächelt verschwörerisch und dehnt dieses kleine Wort mit nur einer Silbe. „Dann lass uns das irgendwann wiederholen.“ Auch wenn sie nicht weiß, ob sie das wirklich möchte, denn ihr schwindelt ganz gehörig von der lauten Musik, der stickigen Luft und den poltrigen Zauberern, die immer wieder versucht haben, sie voneinander zu trennen, nickt sie.

„Gute Nacht, Samara.“

„Gut‘ Nacht!“

Sie stellt sich darauf ein, keinen Lärm zu machen, um Lucius nicht zu wecken, falls er schon zu Bett gegangen sein sollte. Manchmal hat sie nämlich das Gefühl, er bleibt nur wach, weil sie unbedingt noch ein bisschen sprechen muss oder noch Licht braucht, weil sie ein Kapitel mehr lesen möchte. Ihr entfährt ein leiser Schrei, als sie im hell erleuchteten Wohnzimmer landet. Lucius sitzt ratlos auf dem Hocker vor dem kleinen Klavier und auf dem Sofa sitzt niemand anderes als ihr Vater.

„Daddy! Was tust du denn hier? Waren wir verabredet?“ Auf den zweiten Blick bemerkt sie, dass ihr Vater seinen Morgenmantel und Hausschuhe trägt. Sein Gesicht ist aschfahl und unter seinen Augen sind dunkle Schatten. „Alles in Ordnung? Geht es dir nicht gut? Musst du ins St. Mungo?“ Verzweifelt wirft sie einen Blick zu Lucius. Sie ist unsicher, ob ihr Vater sie überhaupt gehört hat. Er starrt einfach nur geradeaus. Als wollte er mit seinen Pupillen ein Loch in ihren Bauch brennen.

„Er ist vor nicht einmal zehn Minuten aus dem Kamin gestolpert. Bisher hat er kein Wort gesprochen.“ Es ist Lucius sichtlich unangenehm, von einem Anwesenden so zu sprechen, als wäre er abwesend, aber ihr Vater scheint eher ab- als anwesend zu sein.

„Daddy.“ Sie kniet sich vor ihm hin und legt ihre Hand vorsichtig auf seinem Unterarm ab, der ihr erschreckend abgemagert vorkommt. Es fühlt sich an, als würde ein in Klopapier eingewickelter Stock in dem Ärmel des Morgenmantels stecken. „Dad, kannst du mich hören?“

„Deine Mutter…“ Ihr Vater bricht den Satz ab. Seine Zähne klappern.

„Was ist mit ihr? Ist ihr was passiert?“

„Sie ist nicht ins Schlafzimmer gekommen. Sie hat den ganzen Tag immer wieder gesagt, wie müde sie doch ist. Sie hat es so oft gesagt, ich dachte, ich werde verrückt. Und dann ist sie nicht ins Schlafzimmer gekommen. Da hab ich angefangen, sie zu suchen und sie… Kreacher hat sie gefunden. Ich habe oben angefangen und er unten…sie ist im Keller gewesen.“

„Und wo ist sie jetzt?“  Stumm schüttelt ihr Vater den Kopf und sie versteht, was er nicht sagen kann.

Chapter 19: Matt

Chapter Text

19 – Matt



Würde man sie fragen, ob zwischen dem Auftauchen und den vorerst letzten Wortes ihres Vaters und dem Moment, in dem sie zusammen mit Lucius, Bella, Rodolphus und zwei Dutzend vertrauten Gesichtern auf dem bleichen Rasen eines Friedhofs im Osten Londons stand, nur einige Stunden oder doch mehrere Tage lagen, sie wüsste es nicht. Das Gefühl für Zeit war ihr abhandengekommen. In ihren Ohren war jede Unterhaltung, jeder Gedanke mit einem durchdringenden Rauschen unterlegt und Narzissa wusste, dass sie unter Schock stand, aber sie wusste nicht so genau, weshalb sie eigentlich schockiert war. Eine richtige Überraschung war es ja schließlich nicht. Ihre Mutter hatte immer schon ein Problem mit dem unaufhaltsamen Ablaufen der Zeit gehabt.  Die Vergänglichkeit ihrer Jugend hatte sie nur schwer überwunden – aber zu sehen, wie ihre eigenen Kinder immer größer und erwachsener wurden, hatte sie in eine Krise gestürzt, die andauerte, solange Narzissa zurückdenken konnte.

Lucius hielt ihre Hand und sah sie immer wieder von der Seite an, als würde sie jeden Moment zusammenbrechen. Zu Staub zerfallen. Sich in Schmerzen und Elend winden. Aber sie hatte nicht einmal geweint. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie wirklich traurig war oder nicht sogar ein bisschen erleichtert. Das einzige Gefühl in ihr, das sie klar und deutlich einordnen und benennen konnte, war die Sorge um ihren Vater. Er konnte unmöglich alleine in dem großen Haus mit einer einsamen, wimmernden Hauselfe bleiben, auch wenn er an diesem Morgen wieder angefangen hatte, Wörter wie Ja, Nein, Bitte und Danke zu sagen.

Es war ein Glück, dass ihre Mutter nicht allzu viele – keine, wenn man ehrlich war – Freundinnen hatte. Alle Anwesenden waren in irgendeiner Weise, um irgendeine Ecke, mit ihr verwandt und niemand erwartete von ihr, dass sie sich zusammenriss. Oder irgendwie erwachsen und ansprechbar war. Man sprach einander ganz herzlich das Beileid aus, aber sie sah niemanden, der in Tränen ausbrach oder verzweifelt zu Boden stürzte. Alle wirkten recht gefasst und sie war sich nicht sicher, ob sie dem Geistlichen, der einige gut gemeinte, salbungsvolle Worte sprach, deswegen nicht ein wenig suspekt waren. Er redete freundlich über den Tod und das Leben, über Gottes unendliche Liebe und all das, was ihre Mutter vermutlich gerne gehört hätte. Narzissa kam es irgendwie unehrlich vor, denn ein ahnungsloser Zuschauer hätte annehmen müssen, dass ihre Mutter am Leben gehangen hatte – und nicht an einem selbst geknüpften Strick, den sie an der Decke des Kellers befestigt hatte.

Sie hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, einen Abschiedsbrief – oder eine Erklärung – zurückzulassen. In ihrem besten Kleid und hohen Schuhen war sie auf einen Tisch geklettert, den sie – wenigsten nahmen sie an, dass es sich so zugetragen hatte - mit einem Zauber ans andere Ende des Raumes geschickt hatte. Ihr Zauberstab lag unter ihr auf dem steinernen Boden. Während sie sich auf dem Dachboden in der Gesellschaft zahlreicher ausrangierter Möbel, altmodischer Kleidungsstücke und schönem Tand befunden hätte, war sie im Keller allein mit einem Sack Kartoffeln, Zwiebeln und einer Kiste mit Kräutern, die in einem lichtlosen Raum gelagert werden mussten. Es war zweifelsohne genau die Tragödie, die sie sich ausgemalt hatte und gerade weil es so trostlos war, machte es Narzissa kaum betroffen. Selbst bei ihrem eigenen Tod schaffte es ihre Mutter noch, berechnend zu sein und dieses Kalkül widerte Narzissa, aller Pietät zum Trotz, an.

Irgendwann waren alle gut gemeinten Worte gesprochen, der Geistliche nickte noch einige Male ehrfurchtsvoll und warf einen Blick zum Himmel, der nicht so wolkenlos war, wie es ihre Mutter gewollt hätte. Strahlender Sonnenschein oder Blitz und Donner – aber um Gottes Willen kein gewöhnliches, englisches Februarwetter. Der Sarg wurde in die Erde gelassen, das Kondulieren begann und Narzissa bewegte sich nicht vom Fleck, sondern wartete darauf, dass sich die Verwandten zu ihr hin bewegten. Einige machten es so. Ihre Großmutter Melania stand auch wie angewurzelt neben einem fremden Grabstein und nickte immer wieder mechanisch, wenn jemand zu ihr kam.

„Alles in Ordnung?“ Lucius hatte eine geschickte Pause in der Kette der Kondulierenden gewählt. Ihre Tante Walburga und ihr Onkel waren schon in Richtung ihrer Großmutter unterwegs und es würde noch einen Moment dauern, ehe sich ihre Schwester von einem Großonkel, den man nur alle Jubeljahre auf irgendwelchen Hochzeiten, Taufen oder eben Beerdigungen antraf, loseisen und zu ihnen kommen konnte.

„Ja.“ Das war die falsche Antwort. Sie wollte etwas ergänzen wie in Anbetracht der Umstände geht es mir gut, doch Lucius hatte ja gar nicht gefragt, ob es ihr gut ging, sondern nur, ob alles in Ordnung war. Und seit wann gab es überhaupt einen Grund für sie, ihm irgendwelche Lügen zu erzählen? Er wusste, dass sie und ihre Mutter nie das beste Verhältnis gehabt hatten – und sie würde den Teufel tun, im Nachtrag irgendetwas Anderes zu behaupten. „Lass mich nur nicht los.“

„Wo denkst du hin.“ Am liebsten würde sie ihn einfach küssen und sich an ihn klammern, aber das wäre dann vermutlich doch ein wenig unpassend. Da stand sie lieber weiter wie eine hübsche, kleine Statue da und wartete darauf, dass die Zeremonie zum Ende kam.

Die Zielgerade kam in Sicht, als Bella den Großonkel verabschiedete und sie in die Arme schloss. Sie sagte kein Wort. Warum sollten sie einander auch ihr Beileid aussprechen. Lucius öffnete den Mund, sagte aber schließlich doch nichts und sie bemerkte, dass Rodolphus dasselbe tat. Es lag also nicht an ihr. Es gab also wirklich nichts zu sagen.

„Wir müssen eine Lösung für Dad finden.“ Es wundert sie ein bisschen, dass sie selbst dieses Problem zuerst anspricht. Dass ihr Vater nun wirklich ein Problem geworden ist. Ein Problem, das es zu lösen gilt.

„Ich habe vorhin kurz mit Walburga geredet. Sie könnte sich vorstellen, ihn bei sich aufzunehmen… aber ich glaube nicht, dass er das will. In einem fremden Haus leben. Wretcha wäre ja immer noch bei ihm, sie wird ja weiterhin für ihn kochen, aber eine Hauselfe ist kein Pflegepersonal. Vielleicht sollten wir beim St. Mungo anfragen…-“

„Und ihn einweisen? Du spinnst ja wohl!“

„Jetzt lass mich doch ausreden. Vielleicht gibt es im St. Mungo eine Möglichkeit, sich jemanden vermitteln zu lassen, der bereit wäre, sich regelmäßig um ihn zu kümmern. So etwas gibt es. Es gibt ja hunderte von alten Hexen, die zuhause sitzen und zweimal am Tag von einer freundlichen Heilerin daran erinnert werden, ihre Kräuter zu nehmen.“

„Dad ist nicht alt.“ Bella verdreht die Augen und Narzissa spürt, wie ihre rechte Hand zuckt. Aus einem unerklärlichen Impuls heraus hat sie auf einmal große Lust, ihrer Schwester eine Ohrfeige zu verpassen. Für ihren Pragmatismus. Für die Selbstverständlichkeit, mit der sie es ausschließt, dass sie oder Narzissa sich um ihren Vater kümmern könnten.

„Oh bitte, Zissy. Lass uns nicht so tun, als wäre er kein Pflegefall. Wenn er noch bei Verstand wäre, dann hätte er anders gehandelt.“

„Ach und wie hätte er gehandelt?“ Ihre Erinnerungen an die letzten Stunden und Tage waren von einem trüben, hellen Nebel verschluckt worden, doch sie konnte nicht vergessen, wie Bella mehrmals mit ihrem Vater geschimpft hatte, weil er nicht zuerst zu ihr gekommen war. Weil sie ja viel mehr hätte tun können. Weil man Zissy und Lucius den Schrecken ja hätte ersparen können. Nur ihre Schwester schaffte es, beleidigt zu sein, weil sie nicht als Erste mitansehen durfte, wie ihre Mutter mit steifen Gliedern und blauem Hals von der Decke baumelte.

„Lucius, würdest du sie bitte beruhigen? So kann man sich ja nicht vernünftig unterhalten.“

„Ich bin ruhig.“ Sie rechnete es Lucius wirklich hoch an, dass er auf Bellas Worte nicht reagiert hatte. Er hatte keinerlei Anstalten gemacht, sie in irgendeine Richtung zu dirigieren oder mehr zu tun, als weiterhin ihre Hand festzuhalten.

„Dann hör bitte auf, dich um jeden Preis mit mir streiten zu wollen. Jederzeit gerne, aber nicht auf einem Friedhof. Nicht vor unserer Familie.“ Sie presst die Lippen aufeinander und wartet ab, was als Nächstes kommt. Worüber ihre Schwester denn zu sprechen gedenkt. „Kommt uns heute Abend besuchen, dann können wir in Ruhe darüber sprechen, was wir tun werden.“ Alleine die Vorstellung, das Haus von Rodolphus und Bella zu betreten, sorgt dafür, dass ihr Magen dazu ansetzt, einen Salto zu schlagen.

„War das eine Bitte oder ein Befehl?“

„Zissy, bitte, deine Sturheit in allen Ehren, aber ich habe dir nichts getan. Falls du dich nicht bereit fühlst, dann kann Lucius uns ja besuchen.“

Bella lächelt wie eine Katze, die ihre Krallen ausgefahren und die Maus bereits gekitzelt hat. Und natürlich geht es nicht wirklich um ihren Vater. In Bellas Welt ist das eine Nebensächlichkeit, ein eher sekundäres Problem. Der weiße Nebel, der sie in den letzten Tagen begleitet hat, tritt ihr vor Augen und alles verschwimmt. Es dauert keine Sekunde, da hat sie Bella angesprungen und ihre Fingernägel in ihre Wange gebohrt. Bella kreischt auf und stößt ihr die Hände vor die Brust, sodass sie rückwärts stolpert und hingefallen wäre, wenn Lucius sie nicht gerade noch so aufgefangen und wieder auf die Füße gestellt hätte. Sie faucht wie eine Katze und denkt gar nicht daran, sich so einfach schubsen zu lassen, doch sie hat sowohl Lucius' Reflexe als auch seine Kraft unterschätzt. Seine Finger haben sich wie Fesseln um ihre Handgelenke geschlossen.

Ihre Schwester wird von niemandem festgehalten, doch abgesehen davon, dass Bella auf der Lauer liegt und sie sehr genau beobachtet, tut sie nichts. Über ihre linke Wange laufen zwei winzige Tropfen Blut.

„Tu das nie wieder, Zissy. Nie wieder. Sonst vergesse ich mich und das willst du nicht erleben.“

„Bellatrix, bitte. Das ist nicht der richtige Zeitpunkt.“ Lucius' Stimme klingt ganz verändert und sie beobachtet fasziniert, wie ihre Schwester sich gerade aufrichtet und eine betont entspannte Haltung annimmt. „Ich werde heute Abend bei euch sein. Falls etwas dazwischenkommen sollte, schicke ich euch vor Sonnenuntergang eine Eule. Narzissa und ich gehen jetzt. Es wäre sehr freundlich, wenn du dich darum kümmern würdest, dass euer Vater sicher nach Hause kommt oder den Tag vielleicht bei eurer Tante verbringt.“

„Bis später. Ich hoffe, du kannst es einrichten. Es wäre wichtig, dass du heute dabei bist.“ Damit hat Bella endgültig preisgegeben, dass es heute nicht nur um ihren Vater gehen wird. Sie fragt nicht nach den abendlichen Treffen, an denen Lucius seit Beginn des Jahres teilnimmt. Er ist sicherlich nur zwei oder dreimal abends fort gewesen und sie hat diese Stunden immer mit Romanen, Aufgaben für die Universität oder anderen, einnehmenden Dingen zu füllen gewusst.

„Ich weiß.“ Lucius wendet sich von Bella, Rodolphus und den wenigen, verbliebenen Trauergästen ab, schirmt sie regelrecht ab und zieht sie ein Stück mit sich in Richtung des Friedhofstores. „Möchtest du gleich apparieren oder ein Stück gehen?“

„Wie weit ist es bis nach Hause?“

„Etwa sechs Meilen.“

„Dann können wir doch laufen.“

„Das wird an die zwei Stunden dauern?“

„Ja und? Haben wir in den nächsten zwei Stunden irgendetwas unheimlich Wichtiges vor?“ Sie findet sich selber ätzend und sie weiß nicht, wie Lucius diesen Tonfall ertragen kann, aber sie schafft es nicht, ein bisschen weniger eklig zu ihm zu sein. Und ihn daran zu erinnern, dass sie ihn am liebsten zuhause festketten würde, damit er nicht zu Bella und Rodolphus geht. Fassungslos und irgendwie auch ein bisschen resigniert sieht er sie an und plötzlich hat sie tiefes Mitleid mit ihm. Was tut sie hier eigentlich? Sie lässt ihn die Wut, die nicht ihm gilt, ausbaden. „Ich kann auch alleine gehen. Den Weg finde ich schon.“

„Unsinn. Wenn du laufen willst, dann laufen wir. Ich dachte nur… es ist kalt.“

„Mir ist nicht kalt. Ich bin kein kleines Kind, ich habe mich heute Morgen nicht nach Lust und Laune angezogen, sondern dem Wetter entsprechend.“ Sie staunt darüber, wie unangenehm sie doch im Umgang sein kann, doch er nickt nur, hält tapfer ihre Hand fest und steuert in Richtung des Friedhofstores.

Es gibt nicht allzu viele Eigenarten von Muggeln, die sie beeindruckend findet, aber niemand kann behaupten, dass Zauberer und Hexen ihre Wege und Straßen besser beschilderten als Muggel. Auch wenn sie keine Ahnung hatte, in welchem Stadtteil Londons der Tower Hamlets Cemetery gelegen war, bekam sie binnen weniger Gehminuten eine Vorstellung davon, weil an allen Bushaltestellen riesige, farbige Pläne von der gesamten Stadt hingen. Immer wieder warf sie einen Blick auf die Abbildungen und stellte fest, dass sie einen ziemlich geradlinigen Rückweg hatten.

Lucius hatte sich dafür entschieden, keine Fragen zu stellen, keinen Smalltalk zu betreiben und sie nicht auf besonders schöne Vorgärten und auffallend gekleidete Muggel aufmerksam zu machen, wie er es sonst manchmal tat. Sie gingen einfach stumm nebeneinander her und er wartete auf ihren Einsatz.

„Findest du, ich bin ein Biest, weil ich nicht um meine eigene Mutter trauern kann? Ein kaltherziges Biest?“ Sie sieht ihm unumwunden in die Augen. „Du hast vermutlich mehr getrauert. Du trauerst immer noch um sie. Vielleicht kann ich mich in drei Jahren schon nicht mehr an den Vornamen meiner Mutter erinnern. Oder an ihren Geburtstag. Oder ihre Lieblingsfarbe.“

„Ihr standet euch eben nicht besonders nah. Das macht dich noch lange nicht zu einem schlechten Menschen. Oder einem kaltherzigen Biest.“

„Vielleicht lag es ja an mir, dass wir uns nie verstanden haben.“

„Das glaube ich nicht… ich kannte sie ja nicht besonders gut, aber es ist doch selten das Kind alleine daran schuld, wenn es nicht so ganz harmonisch ist.“ Das war sehr vorsichtig ausgedrückt, aber sie war froh, dass er nicht anfing, schlecht von ihrer Mutter zu sprechen. Denn wer wusste schon, ob sie das ertragen kann? Heute traute sie ihrer Laune alles zu.

„Ich sollte mich bei Bella entschuldigen. Ich hätte sie nicht verletzen dürfen… aber ich wollte es. Und ich will mich nicht entschuldigen, aber es sollte mir leid tun, nicht wahr?“

„Mach dir nicht so viele Gedanken darum, was du sollen und wollen solltest. Nicht heute.“ Er ließ ihre Hand los und legte stattdessen seinen ganzen Arm um sie, sodass sie nicht mehr ganz so schnell gehen konnten, weil sie darauf achten mussten, nicht übereinander zu stolpern.

„Wir reden so selten über unsere Eltern. Und wenn doch, dann reden wir nie darüber, welche Probleme wir mit ihnen haben. Warum tun wir das nie?“

„Warum sollten wir das tun? Es ist nicht konstruktiv.“ Nicht konstruktiv. Konstruktiv und destruktiv. Mit diesen beiden Begriffen konnte man in Lucius' Welt fast alles einordnen.

„Was würdest du tun, wenn dein Vater stirbt?“

„Ihn beerdigen.“

„Vorher, meine ich. Gibt es nichts, was du ihm nochmal sagen wollen würdest? Oder was du von ihm hören wollen würdest? Nichts, worüber du noch einmal streiten wollen würdest?“

„Nein, im Moment nicht. Aber da kann ich mir ja immer noch meine Gedanken drüber machen, wenn es so weit ist und ich nicht das trübe Gefühl habe, dass mein Vater den festen Vorsatz hat, mich zu überleben.“ Am Klang seiner Stimme kann sie hören, dass er das ein wenig ernst meint, auch wenn er die Stimmung zwischen ihnen auflockern möchte. Der Anblick von Abraxas Malfoys vernarbter Brust tritt ihr vor Augen und sie hat einen ganz säuerlichen Geschmack im Mund. Sich auf offener Straße erbrechen, das fehlt ihr noch.

„Du machst doch Witze?!“ Sie wagt es kaum, den Mund besonders weit zu öffnen, aber das kann sie unmöglich einfach so stehen lassen. Als Lucius sich zu ihr umdreht, scheint er betroffen über die Heftigkeit ihrer Reaktion. In ihren Augen brennen Tränen. Das ist so typisch. Der Gedanke an den noch nicht eingetroffenen Tod eines Mannes, den sie keine zehn Mal im Leben gesehen hat, rührt sie mehr als der leblose Körper der Frau, die sie zur Welt gebracht hat. Sie ist ein kaltherziges Biest.

„Ehm… nein, eigentlich war das kein Witz. Mein Vater ist genau die Art Mensch, die aus Boshaftigkeit 200 Jahre alt wird.“

„Aber…aber… aber…“

„Aber was?“ Mit einem Mal klingt er ganz wachsam. Skeptisch. Er bleibt stehen und packt wieder ihre Handgelenke. Diesmal fühlen sich seine Finger allerdings nicht nach Ketten an, die sie zurückhalten sollen. „Aber was, Zissy?“

„Aber die Pocken… er… er wird früher oder später sterben. Eher früher. Eher bald.“ Schlagartig lässt Lucius sie los und wendet sich von ihr ab. Seine Hände sind zu Fäusten geballt und sie wünschte, sie könnte sein Gesicht sehen. Er gibt eine Art ungläubiges Knurren von sich. Als er sich wieder zu ihr umdreht, glänzen seine Augen ganz irre und auf seinem Hals breitet sich eine ungesunde Röte aus.

„Das hat er zu dir gesagt? Das hat er wirklich gesagt?!“ Ein wenig verunsichert nickt sie und durch sein Gesicht geht ein Zucken. Dann lacht er hart auf. „Du darfst diesem Mistkerl kein Wort glauben, sowie er den Mund aufmacht. Hat er dir die Narben gezeigt?“ Sie nickt ein zweites Mal und er lacht wieder.

„Ich fand das überhaupt nicht witzig. Die Narben sahen echt aus.“

„Sie sind auch echt. Mein Vater hatte die Drachenpocken. Allerdings schon vor über fünfzehn Jahren. Die Krankheit ist sehr mild verlaufen und wenn er wollte, dann hätte er die Narben leicht selbst behandeln können. Meine Mutter hat sich immer darüber lustig gemacht, ob er sich damit besonders männlich fühlt und er meinte, sie wären ein Mahnmal. Eine Erinnerung daran, dass er nicht unsterblich ist. Ich hätte nicht gedacht, dass er dir bei diesem Thema eins von seinen Märchen auftischen würde. Ein bisschen mehr Anstand hab ich ihm dann wohl doch zugetraut.“ Er lächelt gequält. „Kannst du dich zufällig noch an den Kontext erinnern, in dem er sich entkleidet hat?“

„Na ja, das ist im Sommer gewesen. Als du das Zimmer deiner Mutter durchsehen solltest und ich mit deinem Vater im Garten saß. Ich habe… ich habe eigentlich davon angefangen. Du sprichst so ungern über deine Mutter und ich wollte dich nie danach fragen, deswegen habe ich ihn gefragt, unter welchen Umständen sie eigentlich gestorben ist. Dann hat er davon erzählt und gesagt, er hätte sich angesteckt und… in drei Jahren ginge es ihm vielleicht schon gar nicht mehr so gut und… und… ich hab ihm geglaubt. Jetzt komme ich mir sehr dumm vor.“

„Warum hättest du ihm auch nicht glauben sollen?“ Lucius seufzt, nimmt ihre Hand wieder in seine und langsam gehen sie weiter. „Ich wünschte, du hättest mich einfach gefragt, aber ich kann verstehen, warum du es nicht getan hast. Mein Vater ist sehr gut darin, wie jemand zu wirken, den man alles fragen kann. Als könnte man ihm auch alles Mögliche sagen oder anvertrauen, weil er ja schließlich selbst auch so viel durchblicken lässt.“

„Er hat gesagt, dass er seine Enkelkinder gerne noch kennenlernen würde. Und er hat mich gefragt, wann wir heiraten werden… ob wir schon ein Datum haben.“

„Natürlich hat er das gefragt… sorry, ich könnte gerade einen Schreikrampf kriegen. Kein Wunder, dass er dich so bezaubernd findet. Es ist wahrscheinlich schon länger her, dass er sich in einer Rolle so wohl gefühlt hat. Der todkranke, liebende Großvater, der gerne noch seinen ersten Enkel im Arm halten würde. Oh, ich kann mir diese Schmierenkomödie bildlich vorstellen!“

Nun muss sie sich wirklich sehr anstrengen, um sich nicht wie der närrischste Dummkopf unter der Sonne vorzukommen. Hat Lucius sie davor gewarnt, dass sein Vater um keine List verlegen ist? Sicher hat er das. Und dennoch hat sie jedes Wort von Abraxas Malfoy für bare Münze genommen. Weil sie sich so unbedingt mit ihm verstehen wollte. Weil sie Lucius ja unbedingt beweisen wollte, dass sein Vater gar nicht so übel war und sie sicher mit ihm auskommen konnte. Am meisten wunderte sie, dass sie sich zwar blöd vorkam, aber keinen Groll gegen Abraxas Malfoy selbst hegte. Dann war er eben ein Lügner. Unsympathisch war er deshalb noch lange nicht.

„Ich bin manchmal wohl wirklich dämlich.“

„Bist du nicht. Gegen meinen Vater kann man gar nicht gewappnet sein, wenn er sich so ins Zeug legt! Da musst du dir keine Vorwürfe machen, ich hätte dich eindringlicher warnen müssen. Ich hätte mehr über ihn sprechen sollen, aber wie du schon festgestellt hast, sprechen wir beide anscheinend zu wenig über unsere Eltern… nun ja, aber falls dich das jetzt noch tröstet, mein Vater ist bei bester Gesundheit. Und daran wird sich so schnell auch nichts ändern, wenn er nicht verdienterweise vom Blitz getroffen wird.“

„Lucius! So was sagt man doch nicht!“

„Man kratzt seiner Schwester auch kein Auge aus.“

„Nein, das stimmt, das tut man auch nicht.“

„Dann finden wir uns damit ab, dass wir beide heute Dinge sagen und tun, die sich nicht gehören?“ Er hebt ihre Hand zu seinem Gesicht und drückt einen Kuss auf ihre Fingerknöchel. „Drücken wir heute einfach mal ein Auge zu? Oder zwei?“

Sie nickt und bemerkt eine ältere Dame auf der anderen Straßenseite, die ihnen einen belustigten, angetanen Blick zuwirft. Offenbar findet sie es sehr niedlich, dass zwei junge Menschen in schwarzer und doch irgendwie festlicher Kleidung an der Straße entlanglaufen.

„Lucius?“

„Hm?“

„Können wir heute Abend zuhause bleiben? Kannst du Bella auf einen anderen Tag vertrösten?“ Bella. Rodolphus. Wahrscheinlich auch den dunklen Lord und den ganzen Rattenschwanz. Ihre Schwester war niemand, den man einfach so versetzen konnte und gewiss war der dunkle Lord auch niemand, der Unzuverlässigkeit zu schätzen wusste.

„Ich denke, wenn du deine Schwester so angehen kannst, dann kann ich auch den Mut aufbringen, ihr eine Absage zu erteilen.“ Er klang nicht vollends überzeugt und sie sah schon vor sich, wie er ihr am Abend einen besonders beruhigenden Tee aufsetzen würde, damit sie möglichst früh einschlief. Würde er sich fortschleichen, wenn sie im Bett lag und hoffen, dass sie nicht noch einmal wach wurde und seine Abwesenheit bemerkte? Oder tat er so etwas nicht? Unterstellte sie ihm da genau die Grausamkeit, die sie bei seinem Vater nicht hatte bemerken wollen? „Im Gegenzug musst du mir aber versprechen, dass wir nicht bis zum anderen Ende der Stadt laufen, sondern wirklich nur bis zur Wohnungstür, ja?“

Sie nickte. Sie würde ihr Wort halten und hoffen, dass er es ihr gleichtat. Auch wenn sie ihm kein hochheiliges, unbrechbares Versprechen abverlangte.

Chapter 20: Remis

Chapter Text


20 – Remis



Die Schaufenster der Winkelgasse kommen ihr bunter und üppiger vor als bei ihren letzten Besuchen, doch das mag daran liegen, dass das Wetter zum ersten Mal in diesem Jahr wirklich frühlingshaft ist. Der Himmel ist ein wolkenloser, hellblauer Traum, die Sonne ist warm und nicht einfach nur hell und sie hofft von ganzem Herzen, dass Lucius noch ein wenig länger in Gringotts aufgehalten wird und sie sich in Ruhe umsehen kann.

Sie steht vor einem Kiosk und betrachtet die Auslage mit den vielen verschiedenen Zeitschriften. Es ist immer wieder faszinierend zu sehen, welche Nischen von irgendwelchen kleinen, magischen Pressen bedient werden wollen. Ihr Blick bleibt an einem Wort hängen, das sie noch nie zuvor gehört hat. Klitterer. Bedächtig formt sie mit ihren Lippen immer wieder das fremde Wort und sagt es halblaut vor sich hin, in der Hoffnung, dass sie es einfach nur falsch betont und deshalb nicht auf die Bedeutung kommt.

„Magazin für Besonderes. Interessierst du dich für Phantastische Tierwesen?“ Zu Tode erschrocken von der fremden Stimme, die scheinbar direkt in ihr linkes Ohr spricht, springt sie einen Schritt zurück und sieht auf, nur um sich ein weiteres Mal zu erschrecken. Auf den ersten Blick hätte sie beinahe geglaubt, dass Lucius vor ihr steht, doch der Mann sieht doch ein wenig jünger aus und trägt obendrein eine sehr kuriose, riesige Brille. Seine Haare haben allerdings dieselbe Farbe wie die von Lucius. Neugierig betrachtet sie den Fremden, der einen abgewetzten Mantel trägt. Darunter kann sie ein geringeltes Oberteil und mehrfarbige Hosenträger erkennen, die ein gelbes Kleidungsstück halten, das vielleicht eine Hose, vielleicht aber auch ein Rock ist. „Entschuldige, ich will mich nicht aufdrängen, aber ich hab gehört, wie du den Namen meines Magazins gesagt hast. Darf ich dir ein erstes Exemplar mitgeben? Es kostet auch nichts.“

„Es kostet nichts?“

„Na ja, es ist die allererste Ausgabe. Wenn ich ein paar Leser habe, dann überlege ich mir einen angemessenen Preis, aber erstmal muss man ja mit der Kundschaft eine unverbindliche Bekanntschaft machen.“ Unaufgefordert griff er tief in seine Manteltasche und drückte ihr eine eingerollte Ausgabe des Magazins in die Hand. „Hier. Für dich. Dank dir weiß ich jetzt immerhin schon mal, wie der Name ausgesprochen wird. Klitterer. Mit Betonung auf dem I, mit einem weichen Doppel-T und einem leichten Akzent.“

„Ich habe keinen Akzent. Ich bin in Rochester aufgewachsen.“ Sollte das eine Beleidigung sein? Noch nicht einmal ihre Mutter hatte je behauptet, dass sie nicht richtig sprechen konnte. Nicht ganz ohne Empörung sah sie den Fremden nochmal genauer an. „Und das ist dein Magazin? Gehst du nicht noch zur Schule?“

„Ich hab letzte Woche meinen Abschluss gemacht.“ In welchem Land, in welchem Universum, machte man seinen Schulabschluss im März? Immerhin konnte sie nun ausschließen, dass sie ihn aus Hogwarts irgendwie kennen müsste. Unvermittelt streckte der Junge die Hand aus. An seinem Daumen glänzte ein dicker, goldfarbener Ring, der gefährlich lose saß. „Ich bin Xenophilius.“

„Narzissa.“ Gegen ihre gute Erziehung kam sie nicht an und weil die Hand, die ihr da hingehalten wurde, doch recht sauber aussah, reichte sie dem Unbekannten namens Xenophilius ebenfalls ihre Hand.

„Freut mich! Ein toller Name.“

„Oh, danke.“ Noch immer hatte Xenophilius ihre Hand nicht losgelassen und sie wünschte, er würde die eigenartige Brille abnehmen, damit sie zumindest irgendwie schlau aus seinem Blick wurde. Vorsichtig löst sie ihre Hand aus seiner.

„Wirklich, es freut mich, dich kennenzulernen. Auf der letzten Seite ist das Impressum. Wenn du mal irgendwas hast, was du der Welt erzählen willst, dann schick es mir. Thematisch bin ich nicht festgelegt, auch wenn der Schwerpunkt der ersten Ausgabe auf dem Hauptwerk von Newton Scamander, Phantastische Tierwesen und wo sie zu finden sind, liegt. Na ja… ich muss dann auch weiter, ich hab noch einen Händler in Norwich, der ganz interessiert an meinem Debüt war… es war wirklich großartig, deine Bekanntschaft zu machen, Narzissa. Ich wünsche dir einen schönen Tag, den besten aller Tage!“

„Danke… danke… mach’s gut!“

Auf so viel Enthusiasmus konnte man ja überhaupt nicht angemessen reagieren, ohne unangemessen zu reagieren. Ein wenig hilflos winkte sie ihm zu und war froh, als er mir nichts dir nichts disapparierte. Sie entrollte das Magazin in ihrer Hand und warf einen Blick auf das besagte Impressum.

Xenophilius M.  Lovegood. Freischaffender Künstler im Geiste der nordeuropäischen Magiezoologie, Chefredakteur des Klitterers und Entdecker der Nargel. Zu erreichen zumeist in Ottery St. Catchpole, Lenkpflaumenallee 1, zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang. Alle Einsendungen werden schnellstmöglich beantwortet.

„Alles okay? Du siehst aus, als wärst du gegen eine unsichtbare Mauer gelaufen.“ Vorsichtig näherte Lucius sich ihr und betrachtete interessiert das Magazin, eine Zettelsammlung aus Hochglanzpapier wenn man ehrlich war, in ihrer Hand. „Was hast du da?“ Lautlos formten seinen Lippen das nicht-existente Wort und als er es schließlich aussprach, klang es vollkommen anders als bei ihr. „Klitterer. Was soll das sein?“

„Magazin für Besonderes.“ Lucius' Augenbrauen verschwinden beinahe in seinem Haaransatz. „Hat mir so ein Typ geschenkt. Er ist der Redakteur. Kam mir ein bisschen verrückt vor, aber harmlos.“

„Interessante Masche.“ Lucius betrachtete die Titelseite eingehend. „Was um alles in der Welt sollen bitte Nargel sein?!“

„Also diese Frage musst du schon an Xenophilius Lovegood richten. Seine Adresse steht hinten drin.“ Lucius verzieht keine Miene, doch er lacht auch nicht. Sein Gesicht scheint irgendwie eingefroren und wenn er es nicht so hassen würde, dann würde sie ihm auf offener Straße in die Wange kneifen.

„Xenophilius Lovegood?“

„Ja, glaub ich wenigstes… ich hab nur kurz drüber gelesen, schau doch selber nach.“ Sie weiß nicht warum, aber eben noch hat sie sich eigentlich ganz gut unterhalten gefühlt und jetzt kommt sie sich vor, als hätte sie sich von einem Straßenhändler über den Tisch ziehen lassen. Und das nur, weil Lucius' Gesicht eingefroren ist. Als er das Magazin wieder einrollt und ihr zurückgibt, ist sie gewissermaßen erleichtert.

„Kein Interesse. Wolltest du noch etwas erledigen?“

„Ich? Wir sind doch nur rausgegangen, weil du meinst, dass du unbedingt noch raus willst, obwohl gleich sowieso alles geschlossen ist.“ Im Großen und Ganzen ist Lucius nicht so unpünktlich wie sie einst befürchtet hat, aber sein Zeitgefühl ist manchmal trotzdem nicht das Beste.

„Ich will mir einfach noch ein bisschen die Beine vertreten. Ich saß immerhin den ganzen Tag nur rum. Und du auch.“

„Das weißt du doch gar nicht! Ich habe heute Mittag einen ganz wunderbaren Spaziergang mit Diana gemacht.“ Das ist eine Lüge. Das war schon vorgestern. Um zu Beginn des neuen Semesters nicht mit leeren Händen dazustehen und hochkant aus dem Studium zu fliegen, hat sie seit zwei Wochen jeden Tag, die Sonntage ausgenommen, in der Bibliothek verbracht. Die Wohnung ist nämlich weder besonders inspirierend, noch ein geeigneter Raum, um irgendwelche halbseiden konstruierten Sprüche auszuprobieren. In der Universität gibt es ausreichend leere Räume, in denen sich niemand daran stört, wenn irgendwelche Stühle durch die Luft fliegen oder es kleinere Explosionen gibt.

„Dann erbarm dich und mach einen ebenso wunderbaren Spaziergang mit mir, ja?“

Er greift nach ihrer Hand, doch sie läuft einmal um ihn herum und bietet ihm ihre linke Hand an. Unter seinem linken Ärmel guckt der Rand des hässlichen Mals hervor. Sie ist schon gespannt, wie er im Sommer damit umgehen möchte. Ob er für immer langärmelige Hemden tragen wird oder ob es sich mit einem schlichten Desillusionierungszauber verbergen lässt.

„Du findest das nicht ein wenig kindisch?“

„Nein, ich mag deine rechte Hand einfach ganz eindeutig lieber.“ Und es ging hier auch irgendwo ums Prinzip. Würde sie so tun, als wäre nichts geschehen, dann wäre nichts geschehen. Und so ging es nicht. Wenn schon niemand einen Unterschied machte, dann musste sie zumindest ein kleines Zeichen setzen.

„Du weißt aber schon, dass ich dich normalerweise mit zwei Händen berühre? Ich koche manchmal auch mit links.“

„Das ist ja auch schön für dich. Und es ist deine Sache, was du tust, aber ich möchte diese Hand halten.“ Entschieden hebt sie ihre ineinander verschlungenen Hände hoch und er seufzt leise.

„Ich wünschte, du hättest es mir einfach gleich verboten. Hätte ich gewusst, dass du so ein Theater darum machst…“

„Dann was? Du wusstest, dass ich nicht begeistert bin. Und ich verbiete dir nichts. Ich bin nicht deine Mutter. Du bist ein erwachsener Mensch, der einen funktionstüchtigen Kopf auf seinen Schultern trägt… wenigstens sieht es danach aus.“

Anstatt auf ihre Provokation einzugehen, zieht er sie mit sich in einen Laden, der mit Antiquitäten handelt, ohne einen Händler zu haben. Das eigentliche Geschäft von Mr. Peppersmith ist am anderen Ende der Winkelgasse, doch er nutzt den Durchgang zum Muggel-London als einen Ausstellungsraum. Die meisten Hexen und Zauberer gehen zwar durch den „Tropfenden Kessel“ oder nehmen den Ausgang neben der „Goldenen Chimäre“, doch wahrscheinlich lohnt es sich dennoch als Werbefläche.

Widerstandslos folgt sie Lucius, der sehr genaue Vorstellungen davon zu haben scheint, wo er spazieren gehen möchte. Die Straße wirkt unbelebt, vor den meisten Häusern stehen geparkte Autos und als sie einmal in ein Fenster hineinsieht, erhascht sie einen Blick auf eine fünfköpfige Familie beim Abendessen. Es ist ganz eindeutig, dass in dieser Gegend überwiegend Muggel wohnen, die keine Ahnung haben, dass sie sich in der Nähe einer der größten, magischen Einkaufsstraßen des Landes niedergelassen haben.

Ihre Kenntnis der Londoner Innenstadt ist immer noch alles andere als perfekt und sie wartet darauf, dass Lucius sie mit einer Abkürzung durch irgendwelche Häuserschluchten überrascht, die sie direkt zum Hyde Park oder irgendeiner anderen idyllischen Grünfläche führen, doch als sie gerade meint, einen städtischen Rasen zu entdecken, da zieht er sie in die entgegengesetzte Richtung. Zwischen den Doppelhaushälften verbirgt sich die heruntergekommene Fassade eines Blumengeschäfts.

Der ortsansässige Florist hat bereits die Vorhänge heruntergelassen und die Orchideen im Schaufenster kommen ihr sogar ein wenig unecht, etwas angestaubt vor. Doch Lucius scheint sich davon nicht abschrecken zu lassen und steuert zielstrebig auf die Eingangstür zu.

„Lucius, ich glaube nicht, dass wir da noch reinkommen…“ Oder reinwollen. Überrascht beobachtet sie, wie Lucius die gläserne Ladentür, hinter der ein eindeutiges CLOSED-Schild hängt, einfach aufstößt. „Lucius, das ist Hausfriedensbruch!“ Sie versucht, nicht so laut zu sprechen, dass irgendjemand auf sie aufmerksam wird und ihm gleichzeitig klarzumachen, dass man nicht einfach so in fremde Geschäfte gehen darf, auch wenn unvorsichtigerweise die Tür unverschlossen geblieben ist. „Lucius!“ Ihre Stimme ist nur noch ein Zischen, da steht sie auf einmal selbst in dem Halbdunkel des Ladens.

Ihre Nase bemerkt das blumige Durcheinander zuerst und als ihre Augen sich gerade an die Lichtverhältnisse gewöhnen, hat Lucius sie hinter sich durch eine zweite Tür geführt und sie steht auf einmal in einem riesigen, gläsernen Gewächshaus. Links und rechts von ihr sind Blumen in allen Farben des Regenbogens aufgereiht. Sogar über ihren Köpfen hängen Gewächse in schwankenden Töpfen, die abenteuerlich befestigt sind. Um die scheinbar schwebenden Blumenkübel schlängeln sich gemächlich drei Lichtkugeln. Als Lucius andere Hand nach ihrer greift, hat es ihr die Sprache verschlagen. Sie weiß gar nicht, wohin sie gucken soll. Überall sind Blüten und Blätter und Licht. Es würde sie nicht wundern, wenn aus dem Rosengewächs neben ihrem linken Fuß eine kleine Elfenfamilie flattern würde.

„Da ich bedauerlicherweise immer noch keine Ahnung habe, was deine Lieblingsblumen sind, dachte ich, es wäre dem Anlass nur angemessen, wenn ich so sicher wie möglich sein kann, dass die richtigen Blumen zumindest in der Nähe sind.“

Dieser Satz war furchtbar lang und sie war versucht, ihm einfach direkt ins Gesicht zu sagen, dass sie Narzissen am liebsten mochte. Dieses wohlgehütete Geheimnis, das verriet, wie wenig einfallsreich sie war. Narzissa mochte Narzissen. Engelstränen. Weiter hinten sah sie die weißen Blüten eines prächtig gewachsenen Exemplars, das sich wunderbar auf ihrem Nachttisch machen würde, auch wenn es dort zu wenig Tageslicht bekommen und schnell verdorren würde. Aber das war nicht der Punkt. Das war ganz und gar nicht interessant, wenn Lucius sie mit so einem heiligen Ernst ansah und sich vor sie kniete.

„Ich weiß, ich habe schon so lange gewartet, dass es beinahe lächerlich ist… aber würdest du mir die Ehre erweisen und meine Frau werden, Narzissa Black?“

Ihr Hals fühlte sich an, als wäre sorgsam ein Geschenkband darum gewickelt und zusammengezogen worden. Sie war sich ganz sicher, dass sie kein Wort herausbringen würde, wenn sie jetzt den Mund aufmachte. Sie nickte so heftig sie konnte und auf seinem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus, in dem mehr als nur Erleichterung und pure Begeisterung steckten. Sie meinte auch ein wenig Schadenfreude zu erkennen und als er sich aufrichtete, konnte sie nicht anders, als mit ihrer Faust empört gegen seine Schulter zu schlagen.

„Kalt erwischt?“ Seine Mundwinkel zuckten, doch das änderte nichts daran, dass er sehr glücklich aussah.

„Eiskalt.“ Sie redete sich ein, dass es von Größe zeugte, das zugeben zu können – und sie war doch froh, dass sie nichts mehr sagen musste, weil er sie an sich zog und küsste. Sie schlingt ihre Arme um seinen Hals und vielleicht hat sie noch nie irgendeinen Kuss so bedenkenlos und gedankenlos erwidert. Vielleicht ist sie noch nie so glücklich gewesen. Vielleicht war ihr Kopf noch nie so vollkommen und perfekt leer.

Ihre Enttäuschung kennt keine Grenzen, als Lucius sich von ihr löst. Bis sie sieht, dass er aus seiner Hosentasche eine Schatulle holt.

„Jetzt hab ich doch fast das rechtlich bindende Schmuckstück vergessen. Darf ich?“ Es ist nicht so, als hätte sie eine konkrete Vorstellung davon gehabt, wie ihr Verlobungsring sein sollte, aber sie hatte nicht mit etwas gerechnet, das wie ein  Rubin aussah. „Der Ring gehörte meiner Mutter… er ist nicht unbedingt einer Verlobung entsprechend, aber ich glaube, sie hätte sich trotzdem darüber gefreut, wenn er getragen wird und ich… wenn er dir nicht gefällt, musst du ihn natürlich nicht annehmen.“

„Nein… nein, Schmuck ist dafür da, getragen zu werden.“

„So hat sie das auch gesehen.“ Er lächelt und steckt ihr den Ring vorsichtig an. Er ist ein wenig zu groß und das passt nicht zu dem Bild, das sie sich von Lucrezia Malfoy und ihrer schwächlichen Konstitution gemacht hat, aber es gibt ja auch dünne Personen mit dicken Fingern – oder Lucius hat ihn vergrößern lassen und sich dabei ein wenig verschätzt. Als sie den Ring ein wenig zurechtrücken will, spürt sie, wie sich das kühle Material an ihren Finger anpasst und auf einmal besteht nicht mehr die Gefahr, dass der Ring irgendwohin rutschen könnte. „Er steht dir.“

Das stimmt. Aber wem um alles in der Welt würde ein Rubin nicht stehen? Lächelnd sieht sie auf ihre Hand hinab, bevor sie sich auf die Zehenspitzen stellt und sich den Kuss zurückholt, der aus einem zugegebenermaßen nicht ganz unsinnigen Grund vorzeitig unterbrochen wurde.

Mit geschlossenen Augen kann sie sich fast einbilden, die Engelsträne in der hintersten Ecke des Gewächshauses riechen zu können und sie kann sich vor Lucius' Einfallsreichtum nur verneigen. Ihr Blumen zu schenken, ohne ihr Blumen zu schenken, ist ein derartig maßgeschneidertes Kunststück, sodass sie sich sicher ist, diesen Tag bis an das Ende ihres Lebens nicht zu vergessen.

Chapter 21: Gregory

Chapter Text

III  –  The Fire Sermon

 

“My feet are at Moorgate, and my heart
Under my feet. After the event
He wept. He promised a ‘new start.’
I made no comment. What should I resent?”

 

21 – Gregory

 

20. Oktober 1979



Das St. Mungo Hospital für Magische Krankheiten und Verletzungen war nicht unbedingt der schönste und glücklichste Ort auf der ganzen Welt, doch Narzissa war sich sicher, dass noch nie jemand jemals so schön und glücklich ausgesehen hatte wie Diana, die ihren nur wenige Stunden alten Sohn in den Armen hielt.

Die Eule war am späten Nachmittag eingetrudelt und am liebsten wäre sie sofort appariert, doch sie hatte sich in Geduld geübt und noch die eine Stunde gewartet, bis Lucius nach Hause kam. Nun ja, sie war ins Ministerium appariert und hatte vor seiner Abteilung gelauert, aber das war ja beinahe dasselbe. Offenbar konnte man ihr sehr genau ansehen, wessen Eule sie erreicht hatte und darum stellte Lucius keine blöden Fragen und sie nahmen den nächsten Kamin zum St. Mungo.

Obwohl Diana totmüde sein musste – die kurze Nachricht, die Narzissa erhalten hatte, war mit Dianas Worten, doch in der Handschrift von Erwin Goyle verfasst worden und darin stand, dass der gemeinsame Sohn der beiden in den frühen Morgenstunden des Tages zur Welt gekommen war – strahlte sie und schien gar nicht mitzubekommen, dass sie nicht alleine im Zimmer war. Drei Betten weiter lag eine Frau, die sich leise mit einem Mann stritt, der neben ihrem Bett saß. Auch die Beiden waren gerade Eltern geworden und Narzissa glaubte sogar, den Zauberer von irgendwoher zu kennen, aber sie hatte keine Lust, in ihren Erinnerungen zu kramen. Viel lieber wollte sie diesen winzigen, neuen Menschen kennenlernen, den Diana festhielt.

Erwin Goyle, der nicht unbedingt für seine große Palette an herzlichen Gesichtsausdrücken bekannt war, sah unermesslich stolz aus und blickte kaum auf, als Narzissa und Lucius das Zimmer betraten. Er ließ Diana und das Baby keine Sekunde aus den Augen.

Behutsam setzte Narzissa sich auf einen kleinen Hocker, der am Fußende des Bettes stand. Das Neugeborene, das sein Gesicht gegen Dianas Hals presste, gab ein leises Schmatzen von sich.

„Hi.“

„Hi.“ Narzissa hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte. Diana und Erwin zu gratulieren, erschien ihr viel zu förmlich und angesichts dieses zauberhaften, kleinen Wesens musste sie vermutlich gar nicht viel sagen. Frischgebackenen Eltern musste nun wirklich niemand erzählen, was für ein Glück ihnen da widerfahren war.

Diana richtete sich ein Stück auf und hob die winzige Hand zu einem kleinen Winken an. „Das ist Gregory. Ich glaube, er freut sich sehr, dich kennenzulernen, aber er macht seine Augen noch nicht so gerne auf. Er schläft jetzt schon lieber, dabei weiß er noch nicht einmal, was Hausaufgaben sind.“ Diana kichert und es ist schwer, nicht mit ihr zu lachen.

„Ein kluger Junge.“

„Ja… ja… das denke ich auch.“ Diana lächelt versonnen und im Gegensatz zu Erwin, der  es immerhin geschafft hat, ihre Ankunft mit einem kleinen Nicken zu würdigen, sieht sie sich im Zimmer um. Als sie Lucius bemerkt, der sich ein wenig zurückgehalten hat, da geht ein breites Lächeln über ihr Gesicht. „Lucius, ich bin froh, dass du mitgekommen bist! Kannst du dafür sorgen, dass Erwin etwas isst? Er weigert sich beharrlich, in die Cafeteria zu gehen mich allein zu lassen, aber jetzt ist Narzissa ja da.“ Über der Bettdecke greift Diana nach ihrer Hand und drückt sie.

„Selbstverständlich.“ Lucius und Diana kommen gut miteinander aus und im Laufe der Jahre hat Narzissa erfreut beobachtet, dass die Beiden eine Reihe von gemeinsamen Gesprächsthemen gefunden haben, doch sie bildet sich ein, dass Lucius sich hier dennoch ein wenig deplatziert fühlt. Als wäre es irgendwie Unrecht, dass er einer der ersten Menschen auf der Welt ist, die Gregory Goyle kennenlernen dürfen.

Widerwillig stößt Erwin Goyle sich von der Fensterbank ab, an der er wie ein steiniger Wächter gelehnt hat. Er scheint etwas sagen zu wollen, tut es schließlich doch nicht und folgt Lucius stumm aus dem Zimmer heraus. Diana lächelt in sich hinein.

„Oh, er wird mir noch Jahre vorhalten, dass ich ihn rausgeschmissen habe, aber er hat dieses Zimmer seit mehr als zwölf Stunden nicht verlassen. Er ist vielleicht dreimal zur Toilette gegangen, aber das war es. Ich bin immer mal wieder eingenickt, aber als er das letzte Mal kurz weg war, hat die Heilerin mir gerade etwas zum Abendessen gebracht und besorgt gefragt, ob sie ihm auch etwas holen sollte… und das geht ja nun zu weit. Er hat schon Glück, dass heute Samstag ist. Spätestens Ende der Woche muss er sich wieder bei der Arbeit blicken lassen, sonst entlassen sie ihn am Ende noch!“

„Ist doch schön, dass er so fürsorglich ist.“

„Ja… ja… die letzten vier Wochen hätte er mich am liebsten zuhause eingesperrt und in Wacke gepackt. Als wäre ich so zerbrechlich!“ Diana, die liegend in dem großen, weißen Bett wirklich täuschend zierlich aussieht, hält sich lachend die Hand vor den Mund. „Aber ich wollte mich gar nicht beschweren… ich wollte dich etwas fragen.“ Das Lachen verfliegt und sie sieht ganz ernst aus. „Du weißt, ich gehe nicht zur Kirche und ich glaube auch nicht an einen allmächtigen Vater, aber würdest du Gregorys Patin sein? So ganz heimlich und inoffiziell? Falls Erwin oder mir oder uns Beiden etwas passiert, dann braucht Gregory jemanden, der für ihn da ist und ich möchte, dass du dieser jemand bist. Ich glaube, du bist eine gute Mutter und die kann er im Zweifelsfall gebrauchen.“

Narzissa hat noch nie vor ihrer Freundin geweint, doch nun spürt sie, wie Tränen der Rührung über ihre Wangen laufen und sie muss den Blick abwenden. Gregory gluckst leise, als wollte er über ihre Sentimentalität lachen.

„Natürlich! Ich… natürlich. Aber dir wird nichts passieren. Und Erwin auch nicht.“

„Man kann nie wissen.“ Diana lächelt und sie widerspricht ihr nicht. Da gibt es nichts zum Widersprechen. Es sind verrückte Zeiten. Es erscheint kaum mehr eine Ausgabe des „Tagespropheten“, in der nicht von einem überraschenden Todesfall oder einem ungeklärten Mord berichtet wird. Narzissa weiß zum Teil, wer für das Verschwinden und Sterben dieser Menschen verantwortlich ist, doch das Wissen darum, wer es tut, ändert ja nichts daran, dass mehr Menschen als gewöhnlich sterben. Leben ist nun mal gefährlich, sagt ihre Schwester, doch das ist kein Trost, das ist nicht mal ein Kalenderspruch, das ist einfach nur eine Tatsache.

„Gregory… ein schöner Name. Ein Name für einen Papst. Oder einen König.“

„Es war Erwins Idee… der Mädchenname seiner Mutter ist wohl Gregory… und was soll ich sagen, es ist ein schöner Name. Und wir haben ausgemacht, dass ich entscheiden darf, wenn es ein Mädchen wird und Erwin, wenn es ein Junge wird… also Gregory. Gregory Goyle… das ist doch klangvoll oder verstopfen mir die Hormone die Ohren?“

„Nein, es klingt großartig.“

„Oder deine Hormone belügen dich auch schon.“ Diana kichert und sieht sie forschend an. „Du hast letzte Woche gesagt, du wärst dir nicht sicher, aber es könnte sein…?“ Der Satz bleibt ein halber Satz und darum ist Narzissa dankbar.

„Ich bin mir immer noch nicht sicher.“ Und sie sollte lernen, den Mund zu halten. Wer den Mund nicht halten konnte, der wurde fürs Leben bestraft, hatte ihre Tante früher immer gesagt und das war sogar irgendwie richtig. Man durfte nicht zu viel sagen und das Schicksal herausfordern. Ein Wort zu viel und die Dinge konnten wie verhext sein.

„Okay. Aber es könnte schon sein… oder? Ihr benutzt keinen Trank mehr, oder?“

Es war ihr ganz selbstverständlich vorgekommen, den blauen Flakon im Badezimmerschrank nur noch anzusehen und nicht mehr einzunehmen. Wie bereits seit Jahren erhielt sie pünktlich zum Monatsanfang einen neuen Flakon und im Sommer hatte sie irgendwann angefangen, die neuen Sendungen direkt in ihrem Nachttisch zu verstauen und gar nicht mehr zu öffnen. Lucius hatte sie nichts davon gesagt und der Teufel musste in sie gefahren sein, dass sie es Diana gegenüber erwähnt hatte. Wenn man schon schmutzige, kleine Geheimnisse hatte, dann sollte man sie auch für sich behalten können.

„Lass uns nicht weiter davon sprechen.“

„Warum nicht? Gregory schläft. Und er versteht so oder so kein Wort von dem, was wir sagen.“ Sie streichelt durch den Nacken des Winzlings und beißt sich lächelnd auf die Unterlippe. „Kein Wort versteht er… wie herrlich das sein muss. Manchmal würde ich auch gerne nichts von irgendetwas verstehen.“

„Wem sagst du das.“

„Ja… wem sage ich das. Aber du wirst mit Lucius darüber sprechen, oder? Oder denkst du, er würde sich nicht freuen?“

„Keine Ahnung. Wir haben… wir haben irgendwie nie ernsthaft darüber gesprochen. Wenn wir über Kinder reden, dann tun wir immer so, als wäre es ganz logisch, dass wir irgendwann welche haben, aber über das Wann… darüber reden wir eigentlich nie. Und jetzt ist vielleicht gar kein besonders guter Zeitpunkt.“

„Warum denn das nicht? Du bist fast fertig mit deinem Studium, Lucius hat eine sichere Anstellung, nächstes Jahr könnte er Abteilungsleiter sein, wenn das so weitergeht mit den Pensionierungen und… Geld ist doch eigentlich sowieso kein Problem.“

„Sicher… das stimmt alles… aber… was, wenn wir nicht bereit sind? Wir streiten uns ja manchmal selbst, als wären wir noch Kinder. Manchmal hab ich das Gefühl, ich bin eine schmollende Vierzehnjährige.“ Das gibt sie nicht gerne zu, denn sie redet sich immerhin ein, ein gesundes, kultiviertes Streitverhalten zu haben – und streiten, das ist zu viel gesagt, Lucius und sie haben schließlich seit jeher lebhaft miteinander diskutiert. Diana lacht – vermutlich kann sie erraten, dass Narzissa sich ihre eigenen Worte in Gedanken schönredet.

„Also ich kann nur für mich sprechen, aber mir kam Lucius schon immer sehr erwachsen vor. Und ich habe es heute schon einmal gesagt, aber ich wiederhole mich gerne: Du wirst eine tolle Mutter sein. Für deine eigenen Kinder – und für Gregory.“ Ein Hauch von Besorgnis und Kummer geht über Dianas Gesicht. „Aber nur mal angenommen, es wäre so weit und du würdest es Lucius sagen und er wäre nicht begeistert… würdest du es wegmachen lassen?“

Es versetzt ihr einen Stich, daran zu denken, dass Diana diese Frage nicht einfach nur so stellt. Der Grund dafür, dass Samara nicht hier ist, ist nicht nur, dass sie an einem Samstagabend wahrscheinlich irgendwelche Pläne hat, sondern auch ein Vorkommnis, das zwei Sommer zurückliegt und der sowieso eher unbeständigen Freundschaft zwischen Samara und Diana einen nachhaltigen Schaden hinzugefügt hat. Nach einem von Samara selbst so betitelten „Rückfall in die Arme von diesem verdammten Bastard“ war sie schwanger gewesen. Etwa zwei Monate lang. Zwei Monate nach dem Rückfall waren Viktor und sie schon wieder geschiedene Leute und weil Samara weder eine unverheiratete, aber schon gar keine alleinerziehende Mutter sein wollte, hatte sie sich gegen das Kind entschieden. Über diese Entscheidung trauerte Samara einige Wochen – doch Diana hatte es ihr bis heute nicht wirklich verziehen. Narzissa wusste nicht so recht, zu wem sie halten wollte, doch da sie Diana ungleich öfter sah als Samara, war es letzten Endes sowieso egal, weil Samara anscheinend nicht daran glaubte, nur mit einer von ihnen befreundet sein zu können, wenn die andere ihr nicht wohlgesonnen war. Gegenwärtig beschränkte sich ihr Kontakt zu Samara auf Briefe und Grüße anlässlich von wesentlichen Feiertagen und Geburtstagen. Das war schade, aber so war es nun einmal.

„Ich glaube nicht, dass ich das über mich bringen könnte… und es wäre ja kein Unfall. Ich habe ja… ich habe den Trank ja nicht einfach nur vergessen. Wahrscheinlich würde ich mich vollkommen verausgaben in der Hoffnung, Lucius' Meinung irgendwie zu beeinflussen…“

„Oder bei dem Versuch sterben.“ Diana wirkt erleichtert und sie lacht schon wieder. „Aber wann hat Lucius schon mal nicht nachgegeben? Wenn einer von euch beiden wahrlich stur ist, dann bist du das.“

Das mochte wahr sein, doch als durchsetzungsfähigster Sturkopf des Tages bewies sich Erwin Goyle, der mit zwei Sandwiches und einem Getränk in einer Dose zurückkehrte und Lucius dabei einige Meter hinter sich gelassen hätte.

„Ich hab dich schon vermisst.“ Diana verdreht die Augen, während Erwin sich einen freien Hocker von dem leeren Bett neben Diana nimmt und das erste Sandwich von seinem Papier befreit.

„Du wolltest, dass ich esse. Ich esse. Aber in einer Cafeteria habe ich mich seit zwanzig Jahren nicht mehr aufgehalten und ich habe nicht vor, ausgerechnet heute damit anzufangen, Ana.“ Narzissa fällt es schwer, sich ein Lachen zu verbeißen. So nahbar und trotzig gibt sich Erwin Goyle eher selten und es macht ihn um Längen sympathischer als seine höflichen, aber immer ein wenig auswendig gelernt klingenden Fragen nach ihrem Wohlbefinden und ihrem Studium. Nicht, dass sie nicht glaubt, dass Erwin sich dafür interessiert, wie es ihr geht, doch er bringt es einfach nicht so gut rüber. Er ist kein Charmeur im klassischen Sinne, doch wie er da sitzt, stoisch in sein Sandwich beißt und sich von Dianas postnataler Ironie nicht beeindrucken lässt, da kann sie doch sehr gut verstehen, wie man sich in diesen Mann verlieben kann.

Lucius, dem sie auch von einem objektiven Standpunkt aus ein wenig Charme oder doch wenigstens Taktgefühl zusprechen würde, scheint noch immer nicht so richtig zu wissen, wie er sich in der Situation verhalten soll, doch immerhin steht er nicht mehr unmittelbar neben der Tür, sondern hinter ihr, sodass sie sich ein bisschen gegen ihn lehnen kann.  

Schließlich sagt er auch nochmal, dass Gregory ein hübscher Name ist und Diana erzählt noch einmal, dass es sich dabei um den Mädchenamen von Erwins Mutter handelt. Dabei guckt sie so, als würde ihr schwanen, wie häufig sie diese Worte in den nächsten Tagen und Wochen noch wiederholen würde, aber sie gab sich Mühe, nicht weniger beschwingt zu klingen als vor wenigen Minuten, als sie Narzissa den Weg der Namensfindung präsentiert hatte.

 

* * *



„Ein wirklich süßes Baby.“ Sie weiß nicht genau wieso, aber sobald Lucius und sie sich von der Kleinfamilie Goyle verabschiedet und das Treppenhaus des St. Mungo Hospitals betreten haben, hat sich zwischen ihnen eine merkwürdige Stimmung ausgebreitet. Das Bedürfnis, irgendetwas zu sagen, ist übermächtig und sie staunt, wie einfallslos sie doch sein kann, wenn sie nur will.

„Ja… ja, wirklich. Also Babys sehen in meinen Augen alle ziemlich gleich aus, aber es war sehr ruhig. Schlafende Babys sind… nett.“ Und der Schlaf von Gregory war wirklich gesegnet gewesen. Das andere Baby, dessen Vater Lucius beim Hinausgehen freundlich nickend gegrüßt hatte, war irgendwann in Tränen des Hungers oder der Müdigkeit ausgebrochen und hatte sich kaum beruhigen lassen. Der Mutter war es sichtlich unangenehm gewesen, dass ihre trostspendenden Gesten keinerlei Wirkung hatten, doch irgendwann war eine Heilerin ins Zimmer gekommen und hatte festgestellt, dass die Decke des Neugeborenen zu eng gewickelt war, sodass es seine Hände und Füße kaum bewegen konnte.

„Vielleicht haben wir ja auch Glück und geraten an ein schläfriges Exemplar.“

Ihnen kommt eine Gruppe von sehr kleinen Zauberern mit roten Hüten und schwarzen Roben entgegen, die aufgeregt in einem wüsten Dialekt sprechen. Dieser chaotische Gegenverkehr lässt ihre Worte nur noch bedeutungsvoller in der Luft hängen und sie wünschte, sie hätte angefangen, über das Wetter zu sprechen.

„Willst du mir irgendetwas sagen, Zissy?“

„Ach… nein!“

Durch die Blume ist nicht meine Muttersprache.“

„Witzig.“ Sie schenkt ihm ein – hoffentlich – hinreißendes, unschuldiges Lächeln. „Wirklich witzig… sollen wir irgendwo Essen gehen? Ich kann auch kochen, ich habe gestern extra frisches Gemüse gekauft… aber es ist schon so spät. Du hättest dir auch ein Sandwich holen sollen.“

„Deine Ausweichmanöver waren auch schon mal besser.“

„Waren sie das wirklich?“ Sie unterdrückt den Drang, vor ihm zu flüchten und lässt zu, dass er einen Arm um sie legt, während sie durch das annähernd menschenleere Foyer des Hospitals gehen. „Hast du schon mal darüber nachgedacht, wie lange wir noch in der Wohnung bleiben wollen? Ich meine, ja, die Nähe zum Ministerium ist bestechend, aber du könntest genauso gut das Flohnetzwerk nutzen… und es wäre wirklich schön, für meine Abschlussarbeit ein wenig mehr Platz zu haben.“ In der Bibliothek der Universität war sie im vergangenen Sommer gewissermaßen auf der schwarzen Liste gelandet, weil sie bei einem etwas unbedachten Versuch einen Spruch kreiert hatte, der dafür sorgte, dass Papier unwiderbringlich zu Staub zerfiel. Seit diesem Missgeschick nutzte sie die Bibliothek nur noch, um dort Bücher auszuleihen, die sie zuhause las. Selbst wenn sie ihren Zauberstab nicht aus der Tasche holte, kam die Bibliothekarin nämlich auffällig oft an ihrem Tisch vorbei und beobachtete ihr Tun.

Ich habe darüber noch nicht allzu viel nachgedacht, allerdings hat mich die Eule meines Vaters erst gestern im Ministerium gefunden. Er erkundigte sich, ob wir ihn nicht besuchen wollen, um über unsere gegenwärtigen Lebensverhältnisse zu sprechen…“ Er rümpft die Nase und sieht sie streng an. „Wenn du und mein Vater gemeinsame Geheimnisse habt, dann muss ich leider die Scheidung einreichen.“

„Sei nicht so dramatisch! Dein Vater ist eben… Realist. Die Wohnung ist wunderbar, aber sie ist auch… klein. Und wer sechs Tage in der Woche arbeitet, der kann sich auch ein drittes Zimmer leisten!“

„Ein drittes Zimmer, das schwebt dir also vor?“

„Für den Anfang. Platz ist relativ. Mein Vater teilt sich ein ganzes Haus mit Wretcha und Coco und behauptet trotzdem, die Beiden würden ihn einengen.“ Coco war eine etwas einfältige, aber sehr freundliche Hexe von siebzig Jahren, die Zeit ihres Lebens als Heilerin im St. Mungo gearbeitet hatte und es statt einer schlichten Pensionierung vorzog, ihrem Vater den Haushalt zu machen und sich darum zu kümmern, dass er keine Dummheiten beging. Im Gegensatz zu ihrer Schwester, die Coco gerne als „unterbelichtet“ bezeichnet, fand Narzissa, die Haushälterin strahlte stets etwas Herzliches und Beruhigendes aus. Sie mochte nicht besonders gewitzt sein, aber mit ihrem Vater ließen sich ohnehin keine hochgeistigen Diskussionen mehr führen und er hatte wirklich genug Zeit mit Menschen verbracht, die vielleicht gescheit, aber himmelschreiend unfreundlich waren. Und Coco war eine gute Gesellschafterin. Sie spielte sogar Schach mit ihrem Vater, wenn er sich dazu berufen fühlte, und aufgrund der geistigen Aussetzer ihres Vaters hatten dabei beide eine reelle Chance, das Spiel zu gewinnen.

„Platz ist relativ… so so… und du willst mir wirklich nichts sagen?“

„Nein. Noch nicht.“ Sie lächelt ihn an und freut sich, dass sie so einen geduldigen und zugleich spitzfindigen Mann geheiratet hat.

Chapter 22: Der doppelte Barty

Chapter Text

22 – Der doppelte Barty



Ihre rechte Hand zittert. Ihr ganzer Arm zittert und man könnte denken, ihr Zauberstab würde fünfzig Pfund wiegen. Es ist das erste Mal, dass sich Professor Chamberlain erhebt und ihr applaudiert und diese Premiere scheint ihr ein würdiger Abschluss für ihr Studium zu sein.

Professor Chamberlain wendet sich nach links und nach rechts zu den beiden anderen Prüfern, die ihr in der letzten Stunde sehr genau auf die Finger geschaut haben. Die Hexe mit den kurzen weißen Haaren hat Narzissa in ihrem zweiten Semester kennengelernt und man muss leider sagen, dass sie keinen besonders glänzenden Eindruck voneinander bekommen haben. Professor Ellis ist zwar auf ihre Weise durchaus brillant, aber sie vertritt auch die Meinung, dass man Zaubersprüche nur durch Praxis üben kann und hat darauf bestanden, allen Studenten verschiedene Techniken beizubringen, mit denen sie Zauber körperlich erlernen können. Ohne Texte. Ohne Erklärungen. Ohne Beobachtungen. Diese Techniken gingen komplett gegen Narzissas Natur und auch, wenn sie sich einbildet, keine allzu schlechte Leistung erbracht zu haben, hat sie danach sämtliche Kursangebote von Professor Ellis gemieden, auch wenn sich ihr Studium dadurch um ein volles Semester verlängert hat. Der dritte Professor ist ein sehr junger, recht aufgeregter Mann, der im vergangenen Herbst erst seinen akademischen Titel erhalten hat und ein ehemaliger Schüler von Professor Flitwick ist und diese Begebenheit auch ständig erwähnt, sodass sie ihn in Gedanken nur Flitwick Junior nennt.

Die Besprechung der Prüfer dauert nicht besonders lange, aber die Sekunden dehnen sich ins Unendliche und obendrein wird Narzissa das Gefühl nicht los, dass Flitwick Junior seinen Blick nicht von ihrer Mitte loseisen kann. Dabei hat sie sich wirklich bemüht, so wenig schwanger wie nur irgendmöglich zu wirken, was im sechsten Monat allerdings gar nicht mehr so leicht ist, wenn zugleich ein gewisser Anspruch an die Garderobe gestellt wird. Eine Abschlussprüfung legt man schließlich nicht in einem sackartigen Pullover ab.

Abrupt erhebt Professor Chamberlain sich zum zweiten Mal und sieht ihr geradewegs in die Augen. „Das Prüfungskomitee hat sich, im Namen der Hochschule für Praktische Zauberei zu Cambridge, in Anbetracht der kontinuierlich hervorragenden Leistungen der letzten Jahre und dieser außerordentlichen Präsentation eigenständig kreierter Magie, dazu entschlossen, die Prüfung mit der Note Ohnegleichen zu bewerten. Herzlichen Glückwunsch, Miss Black.“

Sie unterdrückt den heftigen Impuls, sich zu bedanken. In lebhafter Erinnerung geblieben ist ihr eine Zwischenprüfung, bei der sie sich allzu überschwänglich für ein Lob bedankte und Professor Chamberlain nur tadelnd die Zunge geschnalzt hat. Wofür bedanken Sie sich, Miss Black? Ich habe doch nichts getan. Bedanken Sie sich bei sich selbst. Sie ist sich sicher, dass auch Professor Chamberlain diese Szene nicht vergessen hat, auch wenn sie sicher nicht die erste Studentin ist, die er darüber belehrt, wie irrsinnig es ist, sich für eine Bewertung zu bedanken.

Dennoch neigt sie dankbar den Kopf und verabschiedet Professor Ellis, die sogar ein Lächeln für sie übrig hat, und Flitwick Junior mit großer Freude. Als sie mit Professor Chamberlain allein in dem Hörsaal zurückbleibt, der Ort der Prüfung gewesen ist, entdeckt sie ein bedauerndes Schmunzeln auf dem Gesicht des Professors.

„Miss Black, Miss Black… Sie bereiten mir solche Bauchschmerzen, wissen Sie das?“ Ja, das weiß sie, seitdem er es ihr vor einigen Wochen gesagt hat. „Seit Jahren habe ich keine Hexe mehr kennengelernt, die es sich so redlich verdient hätte, eines schönen Tages meine Nachfolge anzutreten und ausgerechnet Sie haben keinerlei Interesse an einer akademischen Laufbahn… ich könnte weinen, wenn ich daran denke, dass in zwanzig Jahren der gute Johnny auf meinem Stuhl sitzt und die Erstsemester in die Flucht schlagen soll. Dieser Studiengang wird zugrunde gehen… mehr als ein Fünftel aller Studienanfänger werden ihren Abschluss auch wirklich machen.“ Er gibt ein tiefes Seufzen von sich, kommt zu ihr nach vorne, greift mit beiden Händen nach ihrer zauberstabfreien Hand und drückt sie. „Versprechen Sie mir, dass Sie mir ein paar anständige Zauberer und Hexen erziehen, die sich irgendwann hierher verirren, ja?“

„Ich werde mein Bestes tun, Professor.“

„Und damit muss ich mich begnügen…“ Er beugt sich ein Stück zu ihr vor und ihr schlägt der Geruch von Tannen und Kräutertabak entgegen. „… aber seien Sie gewiss, Miss Black, ich lasse Sie nicht gerne gehen. Es ist nicht meine Art, mich in das Privatleben meiner Studenten oder viel mehr meiner Absolventen einzumischen, aber sollte Ihr Leben irgendwann einmal nicht das sein, was Sie sich erhofft haben, dann denken Sie an mich. Denken Sie an Cambridge. Hier wird immer ein Platz für Sie sein.“

„Danke, das ist… danke. Für alles.“ Sie drückt die Hände des Professors, ehe er zurücktritt und als er sie dann loslässt und einen Schritt fort macht, bemerkt sie, wie ungewohnt glänzend seine Augen sind.

„Bitte entschuldigen Sie meine Sentimentalität. Das ist das Alter, früher wäre mir das nicht passiert.“ Er räuspert sich durchaus ein wenig verlegen. „So, dann will ich Sie auch gar nicht weiter aufhalten… grüßen Sie mir Ihren Gatten und vergeben Sie es mir, dass ich mich nicht gerne an neue Namen gewöhne.“ Sein Zwinkern hat einen jugendlichen Schelm, den sie bei einem Zauberer jenseits der 60, womöglich auch jenseits der 70 oder 80, danach hat sie nie gefragt, nicht vermutet hätte.

„Auf Wiedersehen, Professor.“

„Auf Wiedersehen… das klingt gut, darauf will ich hoffen, Miss Black. Alles Gute für Sie.“ Auf dem Weg zur Tür des Hörsaals kann sie nicht anders, als sich noch einmal umzudrehen. Es ist ein wenig albern zu winken, aber sie kann nicht anders und Professor Chamberlain winkt ihr fahrig zurück und dann ist sie verschwunden.

Dann ist da Lucius, der sich an einem Mittwoch den ganzen Nachmittag freigenommen hat, um zur richtigen Zeit am richtigen Ort mit den richtigen Blumen zu sein. Zumindest fast. Die blassen, rosaartigen Gladiolen sind ein hehrer Versuch.

„Erleichtert? Glücklich? Todtraurig?“

„Wehmütig… ich werde das hier vermissen.“

„Diesen Gang?“ Ehe sie sich zügeln konnte, hatte sie seiner Schulter einen Schlag versetzt.

„Die Universität. Professor Chamberlain. Sogar die quietschenden Sitze in den Hörsälen und… alles irgendwie.“ Die Aufgaben. Die Möglichkeit, sich zu beweisen. Die Chance, einmal die Beste zu sein – oder wenigstens wirklich gut. Und Professor Chamberlain, der von Jahr zu Jahr mehr hatte durchblicken lassen, wie viel er von ihr hielt. Für wie begabt er sie hielt. Irgendwann, nicht erst vor rund viereinhalb Monaten, war ihr klar geworden, dass sie mit dem Studium vermutlich niemals etwas tun würde. Die Wahrscheinlichkeit, damit einen Job zu finden, den sie wirklich ausüben wollte, war gering. Im Alltag waren viele der Zaubersprüche, die sie gelernt oder zusammengebastelt hatte, schlichtweg ungebräuchlich. Und selbst wenn es knapp ein Dutzend Formeln gab, die in irgendwelchen Registern standen und auf sie zurückgingen, es waren doch keine Zauber, mit denen man die Welt verändern konnte. Es waren keine Zauber, die Professor Flitwick seinen Schülern beibringen würde. Außerdem war das Erfinden und Verbessern von Zaubersprüchen keine richtige Arbeit. Man tat es einmal und dann war es getan. Dann musste man sich ein neues Projekt suchen. Oder es drangeben.

Professor Chamberlain hatte ganz richtig gesagt, dass nur jeder Fünfte von ihren Mitstudierenden aus dem ersten Semester immer noch dabei war – doch das lang sicher nicht nur an der Schwere, sondern auch an der schlussendlichen Sinnlosigkeit, der Irrelevanz des Studiums. Einer von hundert Zaubern war ein wirklich brauchbarer Zauber. Und einer von zehn brauchbaren Zaubern war ein wirklich guter Zauber, das pflegte Professor Chamberlain beinahe ununterbrochen zu sagen und er hatte nicht Unrecht. Der einzige Raum, in dem man etwas mit diesem Abschluss, den sie nun besaß und den sie auch bald in Form einer Urkunde fassbar in den Händen halten könnte, besehen konnte, war der akademische Raum. Und den verließ sie nun. Wahrscheinlich auf immer.

Das war nun kein Grund, in Tränen auszubrechen, aber so ganz unbefangen freuen konnte sie sich auch nicht. Sie umklammerte die Gladiolen mit beiden Händen und sah stur geradeaus.

„Möchtest du einen Volkstrauertag einlegen oder bist du bereit für eine erquickliche Ablenkung?“

„Das kommt darauf an… schließt diese Ablenkung irgendwelche Lebensmittel mit ein?“

„Das ließe sich einrichten… frag mich nicht, wie genau er das wieder in Erfahrung gebracht hat, aber mein Vater hat Wind davon bekommen, dass ich heute nicht im Ministerium bin und er hat gefragt, ob wir dieses „Übermaß an freier Zeit“ nicht nutzen wollen, um uns noch einmal mit der Raumfrage zu befassen.“

Die Raumfrage. Seitdem klar war, dass sie in absehbarer Zeit nicht mehr zu zweit sein würden und zwei Zimmer unzumutbar wären, stand diese Frage… ja, im Raum eben. Abraxas Malfoy hatte, ganz pragmatisch, den Vorschlag gemacht, dass sie doch nach Malfoy Manor ziehen sollten. Dort sei schließlich mehr als genug Platz – und zu viel Platz für ihn allein. Diese Idee begeisterte Lucius ganz und gar nicht – und er hatte darauf gepocht, dass das Manor doch nun wirklich nicht der einzige, mögliche Wohnort sei.

Narzissa hatte einen vagen Eindruck davon, wie viel Land und wie viele Immobilien im Besitz der Familie Malfoy waren, doch ihr war auch klar, dass Lucius seinen Vater nicht einfach um die Schenkung eines Hauses bitten konnte. Ebenso wenig konnte er den Inhalt seines Verlieses bei Gringotts für ein Haus opfern oder Abraxas um Geld bitten. Es war irgendwo faszinierend, wie viel an Abraxas Malfoy hing – und wie wenig der faktisch vorhandene Reichtum der Malfoys doch fassbar war. Wie wenig zugänglich all das Geld, das es scheinbar gab, doch war. Von Narzissas Seite gab es zwar auch ein Verlies, das alles andere als leer war, doch für ein Haus, einen Garten und all das reichte es noch lange nicht. Und das Vermögen der Familie Black wurde an anderer Stelle verwaltet. Nicht, dass ihr Vater sich verweigern würde, wenn sie um eine bestimmte Summe bat, doch auch hier stieß sie auf ein gewisses Abhängigkeitsverhältnis. Sie waren jung, sie brauchten das Geld – und sie hatten es und sie hatten es doch nicht. Nicht ohne Bedingungen.

„Vielleicht wäre es keine so schlimme Idee. Das Haus ist wunderschön – und riesig. Abraxas hat vollkommen Recht, wenn er sagt, dass man sich dort mit Leichtigkeit aus dem Weg gehen könnte… um Himmels Willen, es gibt einen Westflügel und einen Ostflügel. Außerdem ist dein Vater ständig unterwegs. Es wäre ja nicht so, als würden wir dreimal am Tag zusammen essen und uns ein Badezimmer teilen… wir könnten an manchen Tagen so tun, als wäre er ein ungeliebter Nachbar.“

„Zissy, dieses Haus… mein Vater… das ist mein Albtraum. Mein persönlicher Albtraum.“

„Und willst du wissen, was mein persönlicher Albtraum ist? Eine Wohnung, in der man den Fußboden nicht mehr sehen kann, weil überall Essen, Kleidungsstücke, Spielzeug, Kuscheltiere, Windeln, Aktenordner und Bücher liegen und niemand mehr Zeit hat, aufzuräumen, weil man gar nicht weiß, wo man anfangen soll!“

Es tut gut, ihre Aufregung rauszulassen, die nicht nur von der Aussicht rührt, in einer platzenden Zweizimmerwohnung alt zu werden, sondern auch ein bisschen daher, dass sie gerade durch den großen Torbogen der Universität gelaufen sind und das Ende des Campus in Sichtweite ist.

„Zissy…“

„Grenzen. Wir müssen Grenzen ziehen. Wozu echte Wände, wenn wir zaubern können? Wir können das Haus doch aufteilen. In Bereiche, zu denen dein Vater keinen Zutritt hat. Wäre das denn so absurd?“ Er hat die Lippen aufeinandergepresst.

„Mein Vater kennt in der Regel keine Grenzen.“

„Dann lernt er eben meine Grenzen kennen. Unsere Grenzen. Lass es uns doch wenigstens versuchen. Lass es uns gleich versuchen! Ich bin immerhin schon aufgewärmt.“ Lucius lacht und versteckt dahinter seinen Unwillen.

„Das kann man wohl sagen… und ich hab noch gar nicht gefragt. Gab es überhaupt irgendetwas zu beanstanden? Oder gab es eine finale Liebeserklärung vom Dekanat?“

„Professor Chamberlain ist kein Dekan.“ Er verdreht die Augen, lässt aber die Berichtigung auf sich sitzen. Ehe sie den Rand des Campus erreichen, dreht sie sich um und wirft einen Blick auf das imposante, helle Gebäude mit den herrschaftlichen Säulen und dem immergrünen Rasen. Sie versucht, den Anblick zu genießen und nicht zu heulen. Abschiede sind nicht ihre Stärke, werden es nie sein und das ist in Ordnung. Damit hat sie sich abgefunden. Sie klemmt die Gladiolen zwischen ihren Arm und ihre Brust und reicht Lucius die frei gewordene Hand.

„Bist du sicher, dass du apparieren möchtest? Bis zum nächsten Kamin sind es nur zwei Minuten…“

„Mäßiges Apparieren ist nicht schädlich. Ich will ja keinen Ausflug ans Mittelmeer machen.“

„Schade eigentlich…“

„Sei nicht so wehleidig.“ Wortlos nimmt er ihre Hand und sie disapparieren. Es ist immer noch ein ungewohntes Gefühl, ganz unbehelligt in dem Salon von Malfoy Manor landen zu können. Um sich gegen unerwünschte Eindringliche zu wappnen, hat Abraxas Malfoy das Apparieren innerhalb des Hauses für Nicht-Malfoys nahezu unmöglich gemacht. Der einzige mögliche Eingang zum Haus ist der Kamin, der – das hat er ihr irgendwann anvertraut – ganz absichtlich so selten gesäubert wird.

In aller Seelenruhe erhebt sich Abraxas, der auf dem Sofa sitzt und eine Zeitung in einer ihr unbekannten Sprache aufgeschlagen hat. Wie üblich verpasst er ihr einen halb vornehmen, halb albernen Handkuss.

„Darf man zum Bestehen des Examens gratulieren?“ Sie nickt und bekommt einen ungewohnt festen Händedruckt verpasst. „Eine Schwiegertochter mit Hochschulabschluss, was kann ich mir jetzt noch wünschen?“ Wie immer wird sie das Gefühl nicht los, dass sie erheblich zu seiner Belustigung beiträgt, aber das ist in Ordnung, es gibt Schlimmeres als einen Mann wie Abraxas Malfoy durch ihre bloße Existenz zu unterhalten. „Und, habt ihr es euch überlegt?“

„Narzissa würde gerne etwas versuchen.“

„Also genau genommen würde ich gerne erst eine Kleinigkeit essen… heute Morgen war ich zu nervös.“ Seitdem das rasant wachsende Etwas in ihr mitisst, hat sie jede Scheu verloren, sich vollzustopfen. Das Gefühl von Hunger ist ihr ständiger Begleiter und sie weiß, dass sie sich irgendwann dafür hassen wird, dass sie nicht weniger zurückhaltend ist, doch bisher kommt es ihr so vor, als hätte sie nicht überdimensional viele Pfunde zugenommen. Nur die nötigen Pfunde.

„Ah, natürlich! Ich sage Dobby unverzüglich Bescheid… nehmt doch einen Moment Platz und dann besprechen wir in Ruhe das weitere Vorgehen. Möchtest du etwas trinken? Tee? Wasser? Saft?“

„Wasser genügt.“

„Lucius?“

„Ich brauche nichts, danke.“ Diese Konversation zwischen Vater und Sohn ist verhältnismäßig unbefangen und sie nutzt den kurzen Moment, in dem Abraxas Malfoy nicht im Zimmer ist, um Lucius mit einem Kuss dafür zu belohnen, dass er in ganzen Sätzen spricht. Zu ihrem Erstaunen lässt er sich sogar ein bisschen auf den Kuss ein und sie ist diejenige, die entscheidet, dass nun vielleicht der richtige Zeitpunkt gekommen ist, um sich artig auf das Sofa zu setzen und  zu überlegen, wie man ein Gespräch über Grenzen bestmöglich beginnt.

Kaum haben sie sich hingesetzt, erscheint Dobby, die Hauselfe von Malfoy Manor, mit einem Tablett, auf dem eine Karaffe mit Wasser, eine Schüssel mit Weintrauben, eine Tüte Zuckermäuse und ein belegtes Brot hübsch angerichtet sind. Sie bedankt sich, Dobby verneigt sich so tief, dass seine großen Ohren den Boden berühren und disappariert mit einem ohrenbetäubenden Lärm. Abraxas setzt sich auf seinen alten Platz und sieht ihr dabei zu, wie sie isst.

Es ist ein bisschen unheimlich, dass weder Lucius, noch sein Vater den Ehrgeiz haben, ohne sie irgendein sinnvolles Gespräch über irgendwelche Belanglosigkeiten am Laufen zu halten. Wenn es nicht so unhöflich wäre, dann würde Abraxas sicher wieder zu seiner Zeitung greifen. Kaum hat sie das Brot aufgegessen und einen Schluck Wasser getrunken, schaltet Abraxas sich ein.

„Also… was würdest du gerne versuchen, meine Liebe?“

„Ich würde gerne einige Grenzen setzen.“ Sie lächelt gewinnend und Abraxas fordert sie mit einem Nicken auf, weiterzusprechen. „Ich für meinen Teil würde gerne hier leben. Allerdings würde ich es als vernünftiger erachten, wenn wir einige räumliche… Trennungen vornehmen würden. Lucius und ich schätzen unsere Privatsphäre sicher ebenso wie du die deine. Mit einigen, schlichten Zaubern wäre es sicher möglich, das Haus so aufzuteilen, dass du deine Räumlichkeiten hast und wir unsere… ich spreche von Schlafzimmern, Badezimmern… und gibt es nicht auch eine kleine, zweite Küche, die gegenwärtig nicht gebraucht wird? Der Garten und der Salon, eventuell sogar das ganze Erdgeschoss könnten Bereiche sein, in denen wir alle uns gerne aufhalten.“ Sie lächelt immer noch und ist stolz darauf. Abraxas nickt verstehend.  „Ich denke, ein Zusammenleben wäre für uns alle dann erfreulich und harmonisch, wenn es Rückzugsorte gäbe.“

„Das denke ich auch. Ich habe auch nicht die Absicht, mich aufdringlich zu verhalten. Ihr seid zwei erwachsene Menschen, ihr seid bald Eltern und auch, wenn ich natürlich froh wäre, am Leben meines Enkels so viel wie möglich teilnehmen zu dürfen, mache ich mir keine Illusionen, dass wir auf engstem Raum zusammen hausen sollten. Aber das hier ist ein großes Haus und kein enger Raum…“

„Du wärst also damit einverstanden, wenn wir das Haus… aufteilen würden?“

„Sicher. Zurzeit verlasse ich den Westflügel kaum. Durch die Zimmer dort oben schicke ich Dobby gelegentlich, damit nichts verkommt, aber ich nutze nur einen Bruchteil aller Räumlichkeiten. Ich habe rein gar nichts dagegen einzuwenden, wenn ihr euch dort austobt… ich sehe allerdings keinen Grund, meinerseits ebenfalls irgendwelche magischen Wände zu ziehen. Es würde mir ausreichen, wenn ihr euch mit einem einvernehmlichen Räuspern oder einem Türklopfen ankündigt.“

Fragend wendet sie sich an Lucius, der eine Hand auf ihrem Bein abgelegt hat und mit seinen Fingern gleichmäßige Kreise auf ihr Knie malt. „Was sagst du dazu?“

„Wenn ich in allen Räumen jenseits dieser Treppe das Gefühl haben könnte, alleine zu sein… das würde ich sehr begrüßen. Ich meine, mich zu erinnern, dass es in der besagten, verwaisten Küche auch einen alten Kamin gibt. Dieser Kamin würde einen Anschluss an das Flohnetzwerk benötigen.“

„Kein Problem.“ Abraxas Malfoy ist ganz offensichtlich in der Stimmung, sich großmütig zu geben und nicht eingeschnappt zu sein, auch wenn sie ihn in seinem eigenen Haus aussperren wollen.

„Ich möchte dich nicht jeden Tag sehen. Vielleicht möchte ich dir auch einmal eine ganze Woche nicht begegnen. Oder einen vollen Monat.“ Das Schulterzucken von Abraxas ist ein Anblick für die Götter. Weder ihm, noch Lucius scheint klar zu sein, wie sehr sie sich in dieser teils aufrichtigen, teils gespielten Arroganz ähneln.

„Das beruht nicht auf Gegenseitigkeit, aber ich akzeptiere, dass das deine Vorstellung von Freiheit ist. Ich wiederhole mich ungern, aber ich sage gerne nochmal, dass ich nicht die Absicht habe, mich euch aufzudrängen.“

„Schön.“

„Auch wenn ich natürlich hoffe, dass du irgendwann altersmilde wirst und begreifst, dass man als erwachsener Mann auch mal eine Entscheidung treffen muss, über die sich die eigenen Kinder nicht unbedingt freuen.“

„Hör auf, Vater.“

„Ich wollte es ja nur gesagt haben…aber wenn alles geklärt ist, dann würde ich sagen, ihr zeigt mir mal, wie ihr euch eure Grenzen so vorstellt.“ Zügig erheben sich Abraxas und Lucius nacheinander und sie selbst fühlt sich ein wenig schwerfällig, wie sie sich auf der Lehne des Sofas abstützt und nach oben drückt. Es ist ihr ein wenig peinlich, als Lucius sich genötigt sieht, ihr aufzuhelfen.

„Danke…es ist nur… das Sofa ist so niedrig.“ Ihr wird ein identisches, verständnisvolles Nicken präsentiert und sie spürt Lucius' Hand, die ganz leicht auf ihrem unteren Rücken liegen bleibt, als sie sich eine Handvoll Zuckermäuse nimmt und Abraxas in Richtung der Treppe folgt, die in den nun schon viel besprochenen Ostflügel führt.

* * *



Nachdem sie annähernd zwei Stunden damit verbracht hat, sich mit den Bauplänen von Malfoy Manor auseinanderzusetzen und ihr Möglichstes getan hat, um Grenzen zu ziehen, von denen Abraxas sich nicht beleidigt und Lucius sich nicht eingeengt fühlt und dabei, so scheint es ihr, eine Menge Arbeit in Sachen Konfliktvermeidung geleistet hat, könnte sie sich einfach so hinlegen und einschlafen. Die Dimensionen von Malfoy Manor sind erschlagend und doch hat sie sich gerade einigermaßen an die hohen Decken und weiten Flure gewöhnt, sodass die Wohnung plötzlich wie eine Schuhschachtel aussieht.

Lucius hat sie in Richtung des Kamins geschoben, als Abraxas sich danach erkundigt hat, zu welchem Datum er die Wohnung denn wieder auf dem Markt anbieten könnte. Das Aufschieben einer Unterhaltung, die so oder so bald stattfinden würde, war in ihren Augen nichts weiter als sinnlos, doch sie hatte es nicht so eilig. Und Lucius hatte es immerhin geschafft, den ganzen Nachmittag über nicht laut zu werden oder komplett zu verstummen.

„Und? Wäre es wirklich so unzumutbar?“ Lucius gibt ein undefinierbares Geräusch von sich, schlingt einen Arm um sie und drückt einen Kuss auf ihren Hals. „Das ist keine Antwort.“

„Es ist immer noch nicht mein ganz großer Traum, im selben Haus wie mein Vater zu leben.“

„Wir haben das Haus geteilt. Es ist nicht mehr dasselbe Haus. Das ist nur in deinem Kopf… außerdem, wenn dein Vater wollte, dann könnte er auch hier täglich durch den Kamin steigen. Es ist ja nicht so, als wüsste er nicht, wo wir zu finden sind.“ Lucius macht dasselbe Geräusch ein zweites Mal und zieht sie enger an sich. „Wir können das Thema ja für den Moment fallen lassen und morgen darüber reden?“ Sie dreht sich zu ihm um und hofft, dass er nicht allzu verstimmt ist. Der Tag ist immerhin noch nicht vorbei.

„Das werden wir sogar müssen. Ich bezweifle nämlich ganz stark, dass Barty Crouch sich für unsere Wohnsituation interessiert.“

„Barty Crouch? Du hast ihn doch nicht etwa eingeladen? Du weißt, ich will keinen von ihnen hier bei uns haben! Und guck dich mal um, wie es hier aussieht! Im Kühlschrank haben wir sowieso nichts!“ Lucius' Hand, die eigentlich irgendwo auf ihrer Seite lag, hat sich sanft über ihren Mund geschoben. Es fehlt nicht viel und sie hätte ihn reflexartig gebissen.

„Nicht der Barty Crouch. Der andere Barty Crouch. Der Leiter der Abteilung für Magische Strafverfolgung. Er hat uns zum Abendessen eingeladen. Ich habe dir davon erzählt.“

„Und das ist heute? Wieso denn ausgerechnet heute?“ Irgendwo in der hintersten Ecke ihres Gedächtnisses regt sich etwas. In den letzten Tagen hat sie sich in ihren Aufzeichnungen der letzten Jahre vergraben, eigentlich nur an die Prüfung und an Essen gedacht. Als sie heute Morgen in den Spiegel gesehen hat, da hat sie feststellen müssen, dass sie ihr Nachthemd verkehrt herum getragen hatte. Sie war nicht sicher, ob es wirklich die Prüfung gewesen war, die sie so beansprucht hatte oder ob das Baby sich nicht vielleicht auch irgendwie von ihrem Gehirn ernährte. „Muss ich wirklich mitkommen? Mr. Crouch kennt mich doch gar nicht… und diese Ministeriumsangestellten sind immer so langweilig!“

„Mr. Crouch ist kein Angestellter, sondern der Leiter der Abteilung für Magische Strafverfolgung. Um es mit anderen Worten zu sagen: Er ist der Vorsitzende des Zaubergamots und neben dem Zaubereiminister und Albus Dumbledore eine der einflussreichsten Personen des Landes. Und er hat uns zum Abendessen eingeladen. Weißt du, was das in Zukunft für uns bedeuten könnte, wenn Barty Crouch uns wohlgesonnen ist?“

„In Ordnung. Ich verstehe, was du sagen willst. Es ist nicht einfach nur ein Abendessen – aber ich verstehe immer noch nicht, warum ich deshalb zwingend dabei sein muss? Ich bin sicher, du kannst dich viel besser mit Mr. Crouch unterhalten… ich werde sowieso nur dort sitzen und gähnen und mir wünschen, meine Füße hochlegen zu können. Weißt du eigentlich, wie schwer meine Füße sind? Es ist, als hätte ich Schuhe aus Blei an. Hast du schon mal Schuhe aus Blei getragen? Soll das hier der anstrengendste Tag meines Lebens werden? Weißt du, was ich heute schon alles gemacht habe?“ Sie kann sich selbst gar nicht leiden, wenn sie so jammert und sie weiß auch, dass Lucius nicht zu viel von ihr verlangen würde, wenn er es nicht als überlebenswichtig bewerten würde, dass sie den Abend nicht auf dem Sofa verbringt. Um dort aber zumindest den Rest des Nachmittags verbringen zu können, macht sie sich von ihm los und lässt sich gegen das herrlich weiche, große, gelbe Kissen fallen, das er ihr zu Weihnachten geschenkt hat. „Ich muss ganz sicher mit?“ Bestimmt bietet sie einen gotterbärmlichen Anblick, wie sie so flehend zu ihm aufschaut. Aber immerhin macht er so einen schön zerknirschten Eindruck.

„Barty Crouch ist ein ziemlich harscher Charakter. Er ist… na ja, wenn er und Alastar Moody im selben Raum sind, dann müsste eigentlich die nächste Eiszeit ausbrechen, sagen wir es mal so. Und nach jahrelanger Beobachtung seiner Person habe ich nur zwei Schwachstellen entdeckt.“ Lucius legt eine Kunstpause ein und setzt sich neben sie. „Seinen Sohn und schöne Frauen.“

„Wie schade, dass ich weder das eine, noch das andere bin, sondern nur ein aufgeschwemmter Murtlap mit Bleifüßen.“ Lucius lacht schallend und greift nach ihrer Hand.

„Dieses Abonnement vom Klitterer… das hat deinen Wortschatz wirklich erheblich bereichert, Teuerste. Was genau darf ich mir unter einem Murtlap vorstellen?“

„Das weißt du doch genau! Ich weiß, dass du das Magazin beim Frühstück liest, wenn ich noch nicht wach bin. Ich hab die Honigflecken genau gesehen!“

„Schön. Erwischt. Es hat seinen Reiz. Die Buchstabenrätsel sind… anspruchsvoll.“ Mit schöner Regelmäßigkeit macht Lucius sich darüber lustig, dass sie sich auf die Eule stürzt, die das Magazin von Xenophilius Lovegood hereinträgt. Auch wenn sie dem Chefredakteur nie wieder begegnet ist, hat sie doch eine sehr freundliche Antwort auf ihren Brief erhalten, in dem sie darum gebeten hat, ab sofort jede Ausgabe des „Klitterers“ zu erhalten – was auch immer sich in Zukunft als Preis etablieren würde. Mittlerweile zahlte sie drei Sickel pro Monat – auch wenn nicht jeden Monat eine Ausgabe erschien. Da sie nicht davon ausging, dass dieser Mensch eine Zeitung nur für sie zusammenstellte und druckte und es immer häufiger irgendwelche Beiträge von Korrespondenten und ähnlich komischen Käuzen wie Xenophilius Lovegood selbst gab, nahm sie an, dass das Magazin sich gut verkaufte. Oder zumindest ganz ordentlich.

„Ach, sag bloß? Hast du noch ein Bekenntnis auf Lager oder war es das für heute?“

„Das war’s. Also… Barty Crouch. Du kommst mit?“

„Ja. Aber du bist mir einen Abend in schlechter Gesellschaft schuldig.“

Chapter 23: Rabastan

Chapter Text

 

23 – Rabastan



Die Luft im Esszimmer der Familie Crouch ist trocken und sie verwendet ihre ganze Konzentration darauf, nicht allzu häufig zu husten. Das Wasser, das ihr an Stelle des Elfenweins serviert wird, schmeckt seltsam, irgendwie metallisch, aber sie sagt nichts dazu, denn es wäre nicht das erste Mal, dass ihre Geschmacksnerven sie in letzter Zeit täuschen. Üblicherweise sind diese Sinnestäuschungen Vorboten von plötzlicher Übelkeit und sie kann nur hoffen, dass ihr erst übel wird, wenn sie wieder zuhause sind.

Lucius' Einschätzungen von Bartemius Crouch, dem Älteren, stellen sich als sehr zutreffend heraus. Es geht erfreulich wenig um Politik, das Ministerium, den Unaussprechlichen und andere Themen, die es auf die Titelseite des „Tagespropheten“ schaffen. Die Gattin von Barty Crouch, deren Namen sie schon wieder halb vergessen hat – er fängt mit einem A an, da ist sie sich fast sicher – ist schweigsam und kommt ihr irgendwie anämisch vor, aber sie stellt die üblichen Fragen. Wann ist es denn soweit? Wird es ein Junge oder ein Mädchen? Haben Sie sich schon für einen Namen entschieden? Narzissa wird konstant als „Mrs. Malfoy“ angesprochen und beinahe jedes Mal will sie darüber lachen. Heute Mittag ist sie doch noch Miss Black gewesen! Sie wünschte, sie könnte sich an Lucius rächen, indem sie ihn an einen Tisch mit Professor Chamberlain setzt, doch diese Fantasie wird wohl kaum je Wirklichkeit werden.

Als Bartemius Crouch, der Jüngere, den Raum durchkreuzt, fühlt sie sich handlungsunfähig. Sie weiß, dass ihre Schwester und Rodolphus ausgesprochen viel Zeit mit Bartemius verbringen – aber sie weiß auch, dass sie das eigentlich nicht wissen darf. Der Sohn des Leiters der Abteilung für Magische Strafverfolgung – woher sollte sie den kennen? Von unvermeidlichen Zusammenkünften? Aus Geschichten über irgendwelche Patrouillen? In ihrer Welt ist Bartemius Crouch ein flüsternder Schatten, mit dem sie keine nähere Bekanntschaft machen will – doch in diesem staubtrockenen Esszimmer, da ist er der wohlerzogene Sohn, der sie freundlich grüßt und seinen Vater höflich darüber unterrichtet, noch einen Spaziergang machen zu wollen, ehe er zu Bett geht.

Ihr Magen zieht sich zusammen, als Bartemius Crouch den Raum verlässt und ein kühler Luftzug sie streift. Sie sehnt sich nach Sauerstoff. Nach Wind. Am liebsten wäre ihr ein kleiner Orkan.

„Mrs. Malfoy, fühlen Sie sich nicht wohl? Sie sind plötzlich so blass.“ Diese Frage kommt von Amanda – oder Amalia, sie kann ihre Hand dafür nicht ins Feuer legen – Crouch, deren Wangen so weiß wie Schnee sind. Fast könnte sie das witzig finden – wenn die Luft doch nur ein wenig besser wäre.

„Ich fürchte, mir würde ein Spaziergang auch gut tun… oder zumindest ein Gang in den Garten. Bitte entschuldigen Sie mich für einen Moment, ich bin gerade so empfindlich, wenn es um die Luft in geschlossenen Räumen geht.“ Sofort springt Bartemius Crouch auf und geht um den Tisch herum auf sie zu.

„Aber, Mrs. Malfoy, warum haben Sie denn nicht eher etwas gesagt? Erlauben Sie, dass ich Sie in den Garten begleite? Ich bin sicher, Amanda und Lucius können sich auch ohne uns bei Laune halten.“ Lucius und der Gastgeber haben eine recht müßige Unterhaltung über die Vorzüge von solchen und solchen Memos bestritten und es wäre kein Verlust, wenn diese Konversation nie fortgeführt werden würde.

Als sie sich erhebt, registriert sie Lucius' besorgte Miene. Man kann ihm förmlich ansehen, dass er ein schlechtes Gewissen hat, weil sie hier ist und nicht bei dem weichen, gelben Kissen auf dem Sofa. Sie lächelt ihm zu, um ihm zu signalisieren, dass es halb so schlimm ist, aber sie glaubt nicht, dass sie besonders überzeugend aussieht.

An den Weg durch das Haus der Crouchs kann sie sich schon kaum mehr erinnern, als sich schließlich eine gläserne Tür für sie öffnet und sie in einen Rosengarten tritt, der wie gemalt aussieht. Erleichtert atmet sie die kühle Abendluft ein und stellt zufrieden fest, dass das Gefühl, sich binnen weniger Minuten übergeben zu müssen, ein wenig schwindet.

„Wollen Sie sich nicht hinsetzen? Gleich da vorne ist eine Bank.“

„Danke, ich stehe lieber für den Moment.“ Möglicherweise ist das Sitzen ja auch ein Teil des Problems. Seitdem ihr Bauch langsam aber sicher eine unpraktische Größe erreicht hat und sie den Großteil ihrer Garderobe nicht mehr tragen kann, zieht sie es vor, entweder zu liegen oder zu stehen. Sie weiß, dass sie das Baby nicht erdrückt, aber sie hat dennoch das Gefühl, dass das Etwas in ihrem Bauch bereits eine sehr klare Meinung hat – und es gar nicht gerne mag, wenn sie sich verkrampft irgendwohin setzt.

„Stört es Sie, wenn ich mir eine Pfeife anzünde?“

„Das stört mich nicht.“ Im Gegenteil. Ihr Leben lang hat sie den Geruch von Tabak und Alkohol eher als unangenehm wahrgenommen, doch seit einigen Wochen empfindet sie die süßlichen und scharfen Gerüche als äußerst wohltuend. Lucius hat sich schon darüber lustig gemacht, ob das wohl der Reiz des Verbotenen ist und zugleich angeboten, sich eine Pfeife zu kaufen.

Genüsslich pustet Bartemius Crouch den Rauch in die Luft hinein und lächelt sie dankbar an. „Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie sehr die Raumtemperatur Amanda zugesetzt hat, als sie in anderen Umständen gewesen ist. Es durfte weder zu warm, noch zu kalt sein – auf jeden Grad kam es plötzlich an. Ein wahres Kunststück… unser Barty ist im Dezember geboren, müssen Sie wissen. Damals haben wir noch oben in Durham gelebt… schweinekalt konnte es da werden!“

„So hoch im Norden bin ich noch nie gewesen.“

„Oh, es lohnt sich, die Landschaft ist bezaubernd, die Menschen sind angenehm… aber der Winter, auf den Winter könnte man dort gerne verzichten.“ Sie versucht, sich vorzustellen, wie Bartemius Crouch wohl als junger Mann ausgesehen hat… ob seine Augen schon damals so klein und stets ein wenig verkniffen aussahen? Oder sind das Erscheinungen des Alters und der Belastung? „Sie leben derzeit in London, nicht wahr?“

„Ja, für den Moment. Aber wir werden noch vor dem Sommer umziehen.“ Verständig nickt Bartemius Crouch und pustet den Rauch rücksichtsvoll in eine andere Windrichtung.

„In welchen Winkel des Landes wird es Sie verschlagen?“

„Kent.“

„Oh, der schöne englische Garten! Wir haben unsere Flitterwochen da unten verbracht und sind danach noch einige Male in die Richtung gefahren. Wenn wir das Haus hier nicht hätten, ach ich bin sicher, dann hätte mich Amanda längst bearbeitet, in den Süden zu ziehen.“ Narzissa tut so, als müsste sie schmunzeln. Es wäre schön, wenn Bartemius Crouch glauben könnte, dass er ihr sympathisch ist. Dann wäre dieser Abend nicht vollkommen sinnlos. „Ich weiß nicht, ob Ihr Gatte es erwähnt hat, aber ich war früher selbst in der Zaubergamot-Verwaltung, ehe ich zur Magischen Strafverfolgung gekommen bin… ich halte ihn für einen sehr fähigen Mann, aber ich muss gestehen, dass ich doch neugieriger darauf gewesen bin, Ihre Bekanntschaft zu machen. Sie sind eine geborene Black, richtig?“

Das ist es. Das ist der Kern dieser Einladung zum Abendessen. Schlagartig fühlt sie sich hellwach. Lucius' Worte klingeln in ihren Ohren. Ein harscher Charakter. Wenn er und Alastar Moody im selben Raum sind, dann müsste eigentlich die nächste Eiszeit ausbrechen, sagen wir es mal so. Ein harter Hund. So würde Bella das nennen. Ein harter Hund mit einer kalten Schnauze.

„Ja, das ist richtig.“ Es ist keine richtige Frage, sondern nur eine Einleitung. Natürlich weiß er, dass ihr Mädchenname Black ist. Wahrscheinlich kennt er ihren gesamten Stammbaum, ihr Geburtsdatum und ihre Blutgruppe.

„Und haben Sie ein gutes Verhältnis zu Ihrer Familie?“

„Das verhält sich ganz unterschiedlich. Meine Großeltern sehe ich leider nicht allzu häufig und meine Cousins sind wesentlich jünger als ich und  gerade erst mit der Schule fertig.“ Ihr Plauderton bringt rein gar nichts und das lässt Bartemius Crouch durchblicken. „Aber vermutlich zielt Ihre Nachfrage eher darauf, wie das Verhältnis zu meiner Schwester Bellatrix ist.“

„Wie kommen Sie darauf, Mrs. Malfoy?“

„Mir ist bekannt, dass Sie und Mr. Moody meine Schwester und Ihren Ehemann bereits mehrmals in die Aurorenzentrale vorgeladen haben.“ So forsch sollte und wollte sie sich nicht geben. Egal wie kühl und direkt Bartemius Crouch sein mag – sich so wie er zu verhalten, bringt sie nicht weiter. Er hat ihr zwanzig, womöglich sogar dreißig Jahre Lebenserfahrung voraus und er wird nicht umsonst in solchen unbeständigen Zeiten an die Spitze der Abteilung für Magische Strafverfolgung gesetzt worden sein. „Meine Schwester und ich pflegen ein freundschaftliches Verhältnis. Wir stehen uns nicht mehr so nahe wie in unserer Kindheit und ich teile nicht all ihre Ansichten, aber wir sind eine Familie.“

„Sie sind eine wahre Diplomatin, Mrs. Malfoy.“ Bartemius Crouch lächelt, doch dieses Lächeln ist kein Ausdruck purer Freundlichkeit. Es ist lediglich ein Zeichen dafür, dass er ihr Manöver anerkennt und respektiert und sich seine Skepsis doch erhält.

„Ich bin keine Lügnerin. Und Sie hätten mir ja auch nicht geglaubt, wenn ich gesagt hätte, dass meine Schwester und ich uns seit Jahren nicht gesprochen haben.“ Ihre eigenen Worte versetzten ihr einen Stich. Wenn sie sich so ausgedrückt hätte, dann wäre es schließlich nicht einmal eine Lüge gewesen. Es waren schließlich Jahre, ganze lange Jahre, vergangen, seit Andromeda und sie einander gesehen, gesprochen oder geschrieben hatten. Der Stapel mit angefangenen Briefen in ihrem Nachtschränkchen war zwar immer wieder angewachsen, aber es war ihr auch immer absurder vorgekommen, einen dieser Briefe wirklich zu verschicken.

„Das stimmt. Ich schätze Ehrlichkeit. Ein gewisses Maß an diplomatischer Zurückhaltung schätze ich ebenso… in meiner Schulzeit war ich ein glücklicher Slytherin. Ich habe mich dort immer gut aufgehoben gefühlt. Und zugleich hatte ich das unschätzbare Glück, zu lernen, wie die blutigen Bande geknüpft werden. Der Zusammenhalt und das Verständnis der alten, reinblütigen Familien versetzen mich bis heute immer wieder in Erstaunen. Sie müssen nicht denken, mir wäre diese Sehnsucht nach der guten, alten Zeit, in der bestimmte Namen und Blutlinien mit absoluter Macht und einer gewissen… Herrschaftlichkeit gleichgesetzt wurden, vollkommen unverständlich oder suspekt. Dieses Land liebt seine Lords und Ladys und seine Hierarchien. Gott schütze die Königin… Gott bewahre, dass Blut auf einmal nichts mehr bedeutet. Aber diese Menschen, diese Parasiten, die versuchen, unsere Ordnung zu zerstören und sich über jegliche moralischen Gesetze hinwegzusetzen, für solche Personen habe ich kein Verständnis. Und es wird der Tag kommen, an dem nicht das Jüngste Gericht tagt, sondern der Zaubergamot. Und sollte ich diesen Tag erleben, Mrs. Malfoy, das dürfen Sie mir glauben, dann wird es nicht diplomatisch zugehen. Dann wird Gerechtigkeit herrschen – und keine Namen.“

„Das war eine schöne Ansprache… ich bedauere, dass Sie kein besseres Publikum dafür hatten, Mr. Crouch.“

„Oh, Sie haben das gut gemacht. Ich schätze keine großen Gruppen. Genau genommen ist es mir ein Gräuel, vor dem ganzen Gamot zu sprechen. Wann immer ich dort spreche, konzentriere ich mich auf die Person, die dort unten steht und um deren Worte es mir geht. Alle anderen sind für mich gar nicht da. Es ist, als wären wir nur zu zweit… so wie wir beide in diesem Moment.“ Bartemius Crouch setzt seine Pfeife ab und betrachtet sie mit einer beneidenswerten Gelassenheit. „Fühlen Sie sich besser oder wollen wir noch ein wenig hier verweilen?“

„Es ist angenehm mild. Man spürt, dass der Frühling auf dem Weg ist.“

Nach einem kurzen Augenblick des Schweigens, in dem Bartemius Crouch sich vielleicht ein Urteil über ihr Nervenkostüm macht, vielleicht aber auch an etwas gänzlich anderes denkt, erkundigt er sich danach, ob sie sich für Blumen interessiert. Was für eine Frage das ist. In wenigen Schritten sind sie bei den Rosen, die sich um kunstvoll gesetzte, hölzerne Stäbe ranken und Narzissa bekommt endlich die Gelegenheit, mit ihren botanischen Grundkenntnissen zu glänzen, die ihr – entgegen der Behauptungen ihrer Mutter – noch nie außerhalb des Unterrichts von Professor Sprout von Nutzen gewesen sind.

 

* * *



Nachdem sie sich von dem mutmaßlich anstrengendsten Tag des Jahres, wenn nicht des Jahrzehnts, erholt hat, stellt sich auch schon eine gewisse Langeweile ein. Sie hat keine richtige Aufgabe und sucht nach einem Sinn, der darüber hinausgeht, ihre Besitztümer in Erwartung eines baldigen Umzugs zu sortieren. Gegen Ender der Woche kann sie behaupten, sich aufrichtig zu langweilen und um den Sonntag nicht verstreichen zu lassen, zieht sie am Samstagnachmittag ein Kleid an, von dem Lucius immer wieder behauptet, dass sie ihm darin ganz besonders gut gefällt und reist ins Ministerium.

Es ist eine Weile her, seitdem sie ihn das letzte Mal abgeholt hat, doch sie findet den Weg zu seiner Abteilung mit Leichtigkeit. Von den gegenwärtigen geistigen Aussetzern ist vor allem ihr Kurzzeitgedächtnis betroffen – und trotzdem dauert es schändlich lange, bis sie den großgewachsenen, dunkelhaarigen Zauberer erkennt, der auf sie zu geht und, ein wenig fragend, die Arme ausbreitet.

Rabastan und sie haben einander schon lange nicht mehr unter vier Augen gesprochen, obwohl es ausreichend Gelegenheiten dazu gegeben hätte. Die Zeiten, in denen er sich an den Amazonas flüchtet und sich studiert gibt, sind längst vorbei. An seinem Arm prangt für gewöhnlich gut sichtbar das dunkle Mal, an diesem Tag hat er es unter einem langen Ärmel verborgen. Sie weiß, dass Rabastans bürgerliches Leben sich darauf beschränkt, das Vermögen seiner Familie zu verwalten, seinen eigenen Whiskey zu brauen und seinen Eltern, die noch immer auf Enkelkinder hoffen, eine stetige Enttäuschung zu sein. Abgesehen davon verbringt er sehr viel Zeit mit seinem Bruder und Bellatrix. Wenn Lucius dann und wann ein wenig genauer über die Abende, die er in der Gegenwart des Unnennbaren verbringt, dann fällt Rabastans Name nicht selten.

Trotz allem lässt sie sich bedenkenlos in Rabastans Arme fallen und ein wenig zu fest drücken. Er lässt sie rasch los und bewundert ihren gerundeten Bauch, der von dem Kleid eher betont als kaschiert wird.

„Wer hätte gedacht, dass du noch schöner werden könntest?“

„Du kannst wirklich keine zehn Sekunden aushalten, ohne mich in Verlegenheit zu bringen, oder? Das würde dir körperliche Schmerzen bereiten.“ Rabastan erhebt die Hände und ergibt sich. Schuldig. „Was machst du überhaupt hier? Hattest du ein Vorstellungsgespräch?“

„Ha! Kann man… kann man so nicht gerade sagen. Ich bin einer Einladung von dem verehrten Mad-Eye Moody gefolgt. Er hatte den dringenden Wunsch, meine sagenumwobene Person kennenzulernen… hat mich gefragt, ob ich schon mal Schlangenblut getrunken hab. Irrer Kerl. Komplett durchgeknallt, wenn du mich fragst, aber fragst du mich?“

„Ich hätte schon noch gefragt.“

„Und du… was machst du hier? Ach, blöde Frage, Lucius' Büro ist direkt um die Ecke. Hat er gleich Schluss? Wie viel Uhr ist es überhaupt? Ach, egal, ich hab heute so oder so nichts mehr vor, ich hab ja keinen so geregelten Tagesablauf… darf ich dich denn noch ein bisschen belästigen, während du wartest?“

„Natürlich… seit wann fragst du überhaupt?“ Mit einem breiten Grinsen entblößt Rabastan sein ganzes Gebiss. Aber er wirkt dabei nicht ganz so souverän wie früher. Überhaupt hat sie das Gefühl, dass die Unsicherheit, die er früher immer gut versteckt hat, nun fast schon für den ungeübten Beobachter erkennbar ist.

„Wir haben uns ewig nicht wirklich gesprochen… du begleitest ihn ja nie.“

„Warum sollte ich?“

„Bella ist da. Das ist keine Liga von atemberaubenden Gentlemen oder so… du wärst ein echter Lichtblick. Und du bist eine begnadete Hexe – auch wenn du dich und deine Begabung in den heiligen Hallen der Universität von und zu Cambridge versteckst.“

„So gut bin ich gar nicht.“ Rabastan verdreht die Augen.

„Das kannst dem Ghul auf dem Dachboden erzählen, Schätzchen. Und ich werfe dir ja auch gar nicht vor, dass du dich im Hintergrund hältst… ist vermutlich besser für Lucius' Ego. Wenn du dort wärst, dann wäre er definitiv die zweite Geige – so kann er sich die Illusion erhalten, dass er mehr ist als nur ein Statist.“ Und da ist sie wieder. Die Bestätigung, dass sich in den letzten zehn Jahren doch nicht so unfassbar viel geändert hat. Nicht, dass sie angenommen hätte, Lucius und Rabastan wären ob der abendlichen Versammlungen und geteilter Weltbilder irgendwie Freunde geworden. „Weißt du, es tut mir immer noch in der Seele weh, dass du es ihm damals so leicht gemacht hast. Also nicht, dass du leicht zu haben wärst, so meine ich das nicht, aber es war wirklich eine verschenkte Gelegenheit, seine Schmerzgrenzen zu entdecken. Und wir wären so ein hübsches Paar gewesen.“

„Dieser Zug ist abgefahren.“

„Dieser Zug ist niemals eingefahren! Er ist einfach durch den Bahnhof meines Herzens gerauscht und hat mich einsam winkend am Bahnsteig stehen lassen!“ Mit dramatischem Gestus schlingt er einen Arm um sie und natürlich – er muss es gehört, gerochen oder einfach gefühlt haben – ist das der Moment, in dem Lucius auf den Korridor tritt. So viel zum Thema gute Laune. So viel zu guten Voraussetzungen für produktive Verhandlungen zum Thema Malfoy Manor.

Da Rabastan sie immer noch nicht losgelassen hat, ist es nicht ganz leicht, Lucius irgendwie zu begrüßen und deshalb bleibt ihr nichts anderes übrig, als ihn verzweifelt anzulächeln und zu hoffen, dass Rabastan schnellstmöglich auf die Idee kommt, seine Hände von ihr zu nehmen.

„Oh, Verzeihung!“ Selbstzufrieden macht Rabastan einen übertrieben großen Schritt nach hinten – und verglichen damit wirkt der Kuss, den Lucius ihr gibt, schon gar nicht so überzogen. Auch, wenn es sich für sie ganz stark danach anfühlt, als würde hier eine unangenehm deutliche Demonstration stattfinden.

Um keinen Unfrieden entstehen zu lassen, hakt sie sich bei Lucius ein und hofft, dass der Sadismus eines Rabastan Lestrange nicht so ausgeprägt ist. Die Freude, die es ihm bereitet, Lucius einfach nur zu verunsichern, indem er existiert, ist ihm anzusehen – und sie wundert sich ein bisschen, wie Lucius so blind dafür sein kann, wie billig gemacht diese Provokation ist. Wie einfallslos.

„Narzissa, es war mir wie immer ein innerliches Blumenpflücken, dich zu sehen.“ Das muss eines der fürchterlichsten Wortspiele sein, das sie je von ihm zu hören bekommen hat. „Lucius… wir sehen uns sicher.“ Rabastan nickt, salutiert mit gespieltem Ernst und geht seines Weges.

Lucius atmet geräuschvoll ein und aus und sie vermutet, dass er damit ringt, ob er etwas zu den letzten sechzig Sekunden sagen soll oder ob er lieber so tut, als wäre Rabastan einfach nie dagewesen. Sie nimmt ihm die Entscheidung ab, indem sie sich auf die Zehenspitzen stellt und einen kleinen Kuss in seinem Mundwinkel platziert.

„Du machst es ihm einfach viel zu leicht.“

„Ich mache aber doch gar nichts. Soll ich mich etwa freuen, wenn er da ist und dich begrabscht? Ich hab weder mit dir gerechnet, noch mit ihm – und bitte entschuldige, wenn die negative die positive Überraschung etwas überschattet.“ Sie lässt einen zweiten Kuss folgen.

„Was wäre, wenn ich dir sagen würde, dass es einen Satz gibt, der deine komplette Antipathie für Rabastan ins Lächerliche ziehen würde?“ Lucius' Irritation lässt ihn um Jahre jünger aussehen und sie beschließt, dass es sie schon nicht den Kopf kosten wird, wenn sie einmal in ihrem Leben ein Versprechen nicht ganz so genau nimmt. „Eigentlich hätte ich sogar mehr Recht, eifersüchtig zu sein, weil du abends so oft bei Rabastan bist und ich nicht weiß, was ihr tut.“ Der Groschen fällt und sie klopft ihm aufmunternd auf die Schulter. „Ich hab versprochen, es für mich zu behalten und wenn ich damals hätte ahnen können, dass sein Geheimnis so lange eine Rolle in meinem Leben spielen würde, dann hätte ich mir die Ohren zugehalten. Aber bitte tu einfach so, als hätte ich nichts gesagt. Lass uns die letzte Minute einfach löschen.“

„Die letzten fünf Minuten, wenn es nach mir geht.“

„Einverstanden.“

Chapter 24: Caradoc Dearborn

Chapter Text

24 – Caradoc Dearborn



Ihr Vater hat einen guten Tag. So gut, dass sie beschlossen hat, mit ihm einkaufen zu gehen. Normalerweise ist es die Aufgabe von Coco, einmal in der Woche in Absprache mit ihrem Vater, falls möglich, frische Lebensmittel zu besorgen. Doch als ihr Vater sie mit einer kräftigen Umarmung begrüßt und sie fragt, ob sie mit dem Roman weitergekommen ist, von dem sie ihm letzte Woche erzählt hat, da beschließt sie, dass sie einen kleinen Ausflug wagen können.

Ihr Vater besteht darauf, die schwerere Tüte mit Gemüse zu tragen und lässt nur zu, dass sie ihm ein Netz mit Zitronen und eine Schachtel Erdbeeren abnimmt. Eigentlich ist es noch etwas zu früh für Erdbeeren, aber der Sommer naht. Für gewöhnlich bleibt sie nicht länger als zwei Stunden in ihrem Elternhaus. Die Gegenwart ihres Vaters ist häufig zu deprimierend und frustrierend. Einmal hat er sie im Abstand von zwei Minuten gefragt, ob Andromeda noch vorbeikommt. An jenem Tag ist sie bereits nach einer Viertelstunde gegangen, auch wenn sie sich deswegen wie eine furchtbare Tochter vorkam.

Sie hofft, dass solche Tage wie dieser nicht seltener werden – und es irgendwie wiedergutmachen, dass sie meistens nur einmal und nicht zweimal in der Woche bei ihrem Vater vorbeischaut. Etwas überambitioniert hat er sich dran versucht, einen Eistee zu mischen und sie versucht, trotz der kräftigen Säure, nicht ständig das Gesicht zu verziehen. Diese Mühe macht ihr Vater sich gar nicht. Er zieht Grimassen und lacht verzweifelt darüber, dass ihm nicht einmal mehr solche Kleinigkeiten gelingen.

Trotz dieser Niederlage hat ihr Vater außergewöhnlich gute Laune und steckt sie damit an, auch wenn sie in den letzten Tagen eine konstante, innere Anspannung einfach nicht abschütteln konnte. Sie weiß nicht, ob das normal ist und sie sich nur nicht eingestehen will, dass der näherrückende Entbindungstermin sie in den Wahnsinn treibt – oder ob sie vielleicht wetterfühlig ist. Vielleicht zieht ein Jahrhundertsturm heran, der noch in keiner Unwetterprognose erwähnt wurde. Vielleicht war sie im ersten Leben eine Wetterhexe – oder ein Frosch.

Beinahe ist sie erleichtert, als Lucius mit einem Knall mitten in das Wohnzimmer appariert. Das letzte Mal, dass ihr Vater und Lucius einander begegnet sind, war kurz vor dem Jahreswechsel, deswegen ist es kein vollkommener Nonsens, dass ihr Vater mit lauter Stimme ein „Frohes neues Jahr“ durch den Raum schallen lässt.

„Narzissa. Ich brauche zuhause deine Hilfe. Es eilt.“ Erst auf den zweiten Blick bemerkt sie, wie bleich und verschwitzt Lucius aussieht. Sogar seine Augen kommen ihr irgendwie fiebrig vor. Andromeda hat immer behauptet, alle Menschen hätten ein Notfall-Gesicht. Ein Gesicht, das man nur in Augenblicken des ärgsten Elends und der größten Hilfslosigkeit und Überforderung zu sehen bekäme. An diese Behauptung hat Narzissa schon ewig nicht mehr gedacht und nach all den Jahren hat sie sogar geglaubt, jedes Mienenspiel von Lucius zu kennen, doch so hat sie ihn noch nie gesehen.

Ein wenig zu hastig steht sie auf und ignoriert den forschenden Blick ihres Vaters. Unwillkürlich hofft sie, dass er trotz kurzzeitig wiedererlangter alter Form keine beständigen Erinnerungen an diesen Abend zurückbehalten wird. Irgendetwas sagt ihr, dass es besser so wäre.

Wortlos reicht sie Lucius ihre Hand und hofft, dass er ihr den Grund für diesen unsagbaren Auftritt nennen wird, sobald sie einen Sprung durch das Nichts hinter sich gebracht haben. Ihr wird schwindelig und ihre Füße landen auf einem seltsam weichen Untergrund. Sand. Sie steht auf Sandkörnern.

„Wo sind wir?“

„Das ist unwichtig.“ Der Boden ist aus Sand, aber nur an der Stelle, an der sie gelandet sind. Sie befinden sich in etwas, das eine Scheune oder eine Art Lagerhalle zu sein scheint. Es riecht nach Stroh und Erde und… nach Kräuterkunde. Der gefürchtete Drachenmist, den Professor Sprout bevorzugt als Dünger verwendet hat, roch ziemlich genau so.

Als sie ein benommenes Stöhnen hört, bemerkt sie erst die zusammengesunkene Gestalt, die einige Schritte von ihnen entfernt am Boden liegt. Vor dem Mann, der auf dem besten Wege scheint, das Bewusstsein zu verlieren, sind mehrere Flaschen mit bunten Etiketten verteilt. Als sie sich dem Mann nähert, erkennt sie, dass es leere Whiskeyflaschen sind.

„Wer ist das?“

„Caradoc Dearborn.“  So klingt Lucius sonst nur, wenn er mit schlechten Bekannten oder gänzlich Fremden spricht. Seine Stimme ist lauter und zugleich irgendwie hohler. Wenn er so ist, dann muss sie sich immer daran erinnern, dass sie ihn kennt. Vielleicht sogar besser als irgendwen oder irgendwer sonst.

„Ein Freund von dir?“

„Kann man so nicht sagen.“ Als sie sich zu Lucius umdreht, sieht sie, dass er fast direkt hinter ihr steht. „Er gehört zum Orden des Phönix.“ Der Orden. Der verdammte Orden. Ihr erster Impuls ist es, sich die Ohren zuzuhalten und zu disapparieren.

„Wer ist sonst noch hier?“

„Niemand. Das ist… es ist meine Aufgabe. Und ich kann es nicht. Ich… Zissy, ich kann es nicht.“ Sie will ihn fragen, was genau er denn nicht kann, aber sie weiß, dass es eine Unart ist, überflüssige Fragen zu stellen. Fragen, deren Antworten auf der Hand liegen.

„Warum ist er so betrunken? Habt ihr zusammen getrunken? Ich verstehe das alles nicht.“

„Er ist eigentlich Drachenhüter. Das hier ist ein ehemaliges Reservat, das vor einem Jahr geschlossen wurde. Seitdem arbeitet er nur noch für den Orden… aber seine Reflexe sind höchstwahrscheinlich zehnmal besser als meine und ich wollte nicht riskieren, dass er mich überwältigt, wenn ich mich an einem vorhersehbaren Schockzauber versuche. Deswegen habe ich… er hält mich für jemand, der ich nicht bin. Ich habe mich an dem Reservat interessiert gezeigt und er hat mich eingeladen, ein Glas mit ihm zu trinken. Ich wusste, dass er ein Alkoholproblem hat.“ Die Gestalt, der betäubte Drachenhüter, stöhnt erneut auf und seine Augenlider flattern unruhig. „Ich dachte, so wäre es leichter. Er ist… ziemlich nah an einer Alkoholvergiftung, schätze ich, auch wenn das eigentlich nicht der Plan war…“

„Und was genau war der Plan?“ Sie schließt die Augen und hofft, dass es nur ein Traum ist. Dass sie nicht wirklich hier stehen und ein ausgeknocktes Ordensmitglied zu ihren Füßen liegt, das im Universum von Lucius kein Mensch, sondern eine Aufgabe ist. Und eine schwer zu lösende Aufgabe noch dazu. „Weißt du, was du mir hier antust?“

„Ja.“

„Willst du, dass ich es für dich tue? Hast du mich deshalb hierhergebeten?!“ Sie hat jegliche Kontrolle über ihre Stimmbänder verloren und der Bewusstlose reagiert auf ihr Schreien mit einem weiteren, tiefen Stöhnen.

„Nein, ich… diese Entscheidung betrifft nicht nur mein Leben. Wenn ich versage, dann bist du genauso in Gefahr. Ich kann nicht… ich kann es nicht. Ich kann es nicht tun. Und das bedeutet, dass ich mich als unwürdig und unfähig erweise. Und was das bedeutet, dass…“

„Ich hab schon verstanden.“ Sie kann sein Gestammel nicht ertragen. Es ist kein schönes Gefühl, ihm das Wort abzuschneiden, aber sie kann es nicht ertragen. „Du wirst nicht zum dunklen Lord gehen und ihm sagen, dass du das nicht kannst. Das ist keine Option.“ Sie holt tief Luft und sammelt ihre Gedanken. „Wir haben zwei Möglichkeiten. Wir können ihm sein Gedächtnis nehmen und wenn wir dabei gründliche Arbeit geleistet haben, dann nehmen wir ihm seinen Zauberstab und schicken ihn ans andere Ende der Welt, wo ihn niemand kennt. Aber dann müssen wir hoffen, dass ihn niemand findet.“

„Man wird nach ihm suchen. Der Orden besteht nicht aus einem Haufen von Idioten. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihn finden… die Wahrscheinlichkeit ist zu hoch.“ Ein besonders ausgeprägtes Talent für konstruktive Kritik hatte Lucius noch nie, aber deswegen sind sie wohl hier. In dieser durch und durch destruktiven Situation. In dieser nicht aussichtslosen, sondern lediglich grausamen Lage.

„Dann müssen wir das tun, was von dir verlangt wird. Ohne Spuren zu hinterlassen. Gib mir deinen Zauberstab.“ Lucius zögert. Das Abgeben und Aufgeben des eigenen Zauberstabs ist eine empfindliche Sache. Eine Welle der Erleichterung durchflutet sie, als er ihr den Staub überreicht. So kann er zumindest nichts irrational Dummes und Unumkehrbares tun.

„Ich dachte, um die Unverzeihlichen Flüche zu umgehen, wäre vielleicht ein hypnotischer Zauber am besten… wenn er den Gedanken, sich das Leben aus eigenem Antrieb zu nehmen, nicht mehr loswerden kann, dann…“ Ein Narr. Ein vollkommener Narr.

„Sobald wir einen Zauberspruch verwenden,  hinterlassen wir eine Spur. Magie hinterlässt immer eine Spur.“ Er runzelt die Stirn und ihr drängt sich weiterhin der Gedanke auf, dass sie mit einem Narren verheiratet ist. „Was meinst du, warum meine Schwester und ihr feiner Gatte im Ministerium vorgeladen werden? Ein Zauber kann, wenn man die Mittel dafür hat, immer seinem Urheber zugeordnet werden. Wenigstens ungefähr. Wenn vor mir ein Toter läge, der durch den dritten Unverzeihlichen Fluch zu Tode gekommen ist, dann könnte ich herausfinden, mit welchem Zauberstab das getan wurde.“

„Weiß Bellatrix das?!“

„Natürlich weiß sie das.“ Es ist zum Lachen. Es ist einfach nur noch zum Lachen. „Sie hat immerhin ihre Doktorarbeit über die Unverzeihlichen Flüche geschrieben.“ Regelmäßiges Ein- und Ausatmen beugt Schwangerschaftshysterie vor. Vor nicht einmal drei Monaten hat ihr das ein widerlicher Heiler im St. Mungo erzählt und dabei so getan, als würde er mit dieser Bauernweisheit ihre Welt verändern. Trotzdem beherzigt sie den Ratschlag und atmet sehr konzentriert, um nicht die Nerven zu verlieren.

Sie richtet ihren eigenen Zauberstab auf den Stab, der Lucius gehört, und verwandelt das magische Stück Holz in eine Pistole. Es ist eigenartig, einen Gegenstand zu halten, den sie nur von Abbildungen und aus Büchern kennt. Die Schusswaffe ist nur unwesentlich schwerer als der Zauberstab. Die tastet die Hebel und das Gehäuse ab. Sie erinnert sich an einen Roman, in dem die Bedienung eines solchen Objekts in aller Ausführlichkeit erläutert wurde. Damals hat sie noch gedacht, dass es für Muggel eigentlich viel leichter ist zu töten als mit Magie. Man musste fast nichts dafür können. Man musste nur eine gesunde Hand haben.

„Willst du?“ Während sie Lucius die Waffe präsentiert, gibt sie probehalber einen Schuss ab. Es klingt fast so als würde jemand disapparieren, doch der Effekt ist sehr viel berechenbarer. Niemand taucht aus dem Nichts auf. Es ist ganz einfach ein Loch im erdigen Boden. Ohne hinzusehen, gibt sie einen zweiten Schuss ab und als sie einen dumpfen Schrei hört, sieht sie, dass sie den Oberarm des Mannes getroffen hat, der die Augen aufreißt und versucht, einen Satz zu artikulieren. Ohne Erfolg. „Herz oder Kopf? Es wäre nur richtig, wenn wir auf Nummer sicher gehen und nicht nur auf eines von beidem zielen.“ Lucius starrt sie stumm an. „Herz oder Kopf?“ Er sieht so aus, als würde er nur sehr langsam begreifen, dass das ihr Ernst ist.

„Such du aus.“

„Ach, danke, das ist aber nett von dir.“ Sie kann ihre Abscheu und ihren Zorn darüber, dass er sie in diese Lage gebracht hat, nicht unterdrücken. Ihre Hände zittern, sie beißt die Zähne aufeinander, spürt beinahe, wie sich ihr Eckzahn in ihre Zunge bohrt und konzentriert sich auf den Fremden, der schon halbtot, halb in einer anderen Welt, wimmernd da liegt.

Sie stellt sich so dicht neben ihn, dass sie ihr Ziel unmöglich verfehlen kann. Seine Augen sind dankenswerter geschlossen, als sie die Mündung der Pistole auf seiner Stirn absetzt und einfach so, als wenn es gar nicht wäre, den dritten Schuss abgibt.

Der Mann ist ganz offensichtlich tot und es ist irgendwie faszinierend zu beobachten, wie sich Linien dunkelroten Bluts um seinen Kopf herum ausbreiten. Es ist nicht mehr als eine Formalität und es kommt ihr vor, als würde sie einer anderen Person, einer fremden Narzissa dabei zusehen, wie sie Lucius die Waffe überreicht, ihm seelenruhig den tödlichen Mechanismus erläutert und ihn schließlich auffordert, einen Schuss in die Brust des Toten abzugeben.

Wie zwei Kinder, die versehentlich ein Meisterwerk erschaffen haben, stehen sie vor dem leblosen Körper von Caradoc Dearborn. Geistesabwesend verwandelt sie die Pistole wieder zurück und reicht Lucius seinen Zauberstab.

„Du hast gesagt, wir sind in einem Drachenreservat.“

„Einem ehemaligen Drachenreservat… hier leben keine Drachen mehr.“

„Vielleicht ja doch. Vielleicht wurde ein Drache hier vergessen, der ausgerechnet heute beschließt, ein schönes Feuer zu entfachen.“ Lucius, der Narr neben ihr, versteht und nickt. Es ist eine gute Idee. Es ist die logische Konsequenz dessen, was sie gerade getan haben. Dieses Kunstwerk wird nie jemand außer ihnen beiden zu Gesicht bekommen.

Sie geht auf das Scheunentor zu und staunt über die üppige Wildnis, die das Gebäude umgibt. In der Landschaft sind einige Krater, während das Gras an anderen Stellen beinahe mannshoch gewachsen ist. Lucius schließt die Scheune hinter ihnen gewissenhaft.

In einer Vorlesung im dritten Semester hat sie gelernt, dass in Großbritannien schätzungsweise pro Tag an die fünfhundert Mal ein Zauber gesprochen wird, um ein Feuer zu entzünden. In den Wintermonaten sogar an die tausend Mal. Bei einer Überprüfung eines jeden dritten Zauberstabs würde man einen erst kürzlich ausgesprochenen, hitzeerzeugenden Zauber finden. Bedenkenlos vollführt sie eine kreisende Bewegung mit ihrem eigenen Stab und sieht dabei zu, wie rings um die Scheune ein ordentlicher, knisternder Ring aus Flammen entsteht.

Sie tritt einen Schritt zurück und beobachtet, wie das hölzerne Gebäude von den Flammen erst liebkost und schließlich krachend verschlungen wird. Als sie ihre Augen schließt und den Geruch des brennenden Holzes riecht, stellt sie sich vor, wie ein mächtiger, schwarzer Drache über ihre Köpfe fliegt und Feuer über die Landschaft speit. Das ist nicht ihr Werk, es ist das Werk des unsichtbaren Drachen, der hoch zum Himmel fliegt und in den tief hängenden Wolken verschwindet.

Das Feuer frisst ein Stück Gras und sie nimmt wahr, dass Lucius einen Zauber murmelt, der den Flammen die nötige Luft zum Atmen und Gedeihen nimmt. Als sie ihre Augen wieder öffnet, sind da, wo die Scheune war, nur noch Asche und die verkohlten Reste von gusseisernen Werkzeugen und… Überreste, nichts als Überreste. Der mächtige, schwarze Drache ist längst über alle Berge.

„Danke.“

„Ich hab das nicht für dich getan.“ Bekräftigend tritt das Baby, das in einer Welt leben wird, in der Caradoc Dearborn nicht existiert, sie und sie legt beruhigend eine Hand auf ihren Bauch. Wo bleibt die Hysterie? Wo bleibt der Wahnsinn? Die unerträglichen Schuldgefühle wegen dem, was sie gerade angerichtet haben?

„Ich weiß.“

Es war nicht nur das Einzige, sondern das Beste, was sie tun konnten. Der dunkle Lord wird nicht an ihnen zweifeln. Ihr Name wird nicht bei irgendeiner Besprechung hinter verschlossenen Türen fallen. Die Schatten werden nicht flüstern und niemand wird nachts in ihrem Schlafzimmer stehen und sie daran erinnern, dass sie ihre Schuldigkeit nicht getan haben. Sie werden auf keiner Liste stehen. Doch auch das Ministerium wird nicht an ihnen zweifeln. Es gibt keinen erbringbaren Beweis dafür, dass sie hier gewesen sind. Hier hat der mächtige, schwarze Drache gewütet.

Hier lag Caradoc Dearborn begraben. Und wer wusste schon, ob diese Asche mal ein guter Mensch gewesen war. Vielleicht hatte Caradoc Dearborn Zeit seines Lebens gestohlen, gemordet und geschändet. Von betrunken Männern sollte man Abstand halten. Genau wie von Drachen. Und anderen, klar erkennbaren Bestien. Die gute, elterliche Weisheit kam ihr in den Sinn. Wer wusste schon, was ein notorischer Trunkenbold so tat, wenn er seine sieben Sinne verloren hatte? Er war zweifelsohne weniger unschuldig als das Wesen, das in einer Welt aufwachsen würde, in der Caradoc Dearborn nichts als Asche war, spurlos verschwunden und in alle Himmelsrichtungen verstreut.

* * *



Die Wohnung ist zur Hälfte geleert. Ein großer Teil ihrer Besitztümer befindet sich bereits in Malfoy Manor. Achtlos reißt sie sich ihre Kleider, die nach dem Feuer stinken, auch wenn sie unversehrt geblieben sind, vom Körper und geht ins Badezimmer. Sie dreht den Wasserhahn auf und schließt die Tür hinter sich ab.

Das Wasser ist zu heiß und es fühlt sich so an, als würde sie sich verbrennen, aber das wäre ja nur fair. Das wäre ja nur gerecht. Und es wird der Tag kommen, an dem nicht das Jüngste Gericht tagt, sondern der Zaubergamot. Und sollte ich diesen Tag erleben, Mrs. Malfoy, das dürfen Sie mir glauben, dann wird es nicht diplomatisch zugehen. Dann wird Gerechtigkeit herrschen – und keine Namen.

Als sie aus dem Wasser steigt, ist ihre Haut weich und rosafarben. Wie die eines Neugeborenen. Sie macht sich nicht die Mühe, sich in ein Handtuch zu wickeln. Sie trocknet halbherzig ihre Haare und betrachtet die dünnen, rosafarbenen Streifen auf ihrem Bauch. Die Stellen, an denen ihr Bindegewebe eingerissen ist und nie wieder zusammenwachsen wird. Sie ist so schwer wie noch nie zuvor in ihrem Leben, doch trotz ihrer eigenen Kugelförmigkeit fühlt sie sich federleicht. Als wäre sie gar nicht richtig da. Als würde sie irgendwo am Himmel fliegen, hoch und höher, durch die Wolken, zur Sonne hin.

Lucius hat sich umgezogen und sie riecht die Seife, die beim Spülbecken in der Küche steht. Auch er scheint das Bedürfnis gehabt zu haben, den schwelenden Gestank von sich abzuwaschen. Und er hat nicht den Mut gehabt, das Badezimmer zu betreten. Keine Möglichkeit hat er gehabt, der Schlüssel war umgedreht, aber geklopft hat er auch nicht. Weil er ein Feigling ist. Und ein Narr. Oder weder das eine, noch das andere. Sie weiß es nicht. Sie weiß nur, dass sie zum ersten Mal länger als den Bruchteil einer Sekunde darüber nachdenkt, wie ihr Leben ohne Lucius Malfoy aussehen könnte. Was würde passieren, wenn sie sich anziehen und niemals wieder in diese Wohnung, zu diesem Mann, zurückkehren würde? Er würde sie nicht lassen. Da war sie sich sicher. Sie trug seinen Namen. Sie trug sein Kind. Sie trug dieselbe Schuld. Vielleicht sogar noch mehr Schuld, weil ihre Schwester Bellatrix Lestrange war und ihre Hand die Pistole zuerst gehalten hatte.

„Zissy, ich-“

„Sag nichts. Bitte. Ich will heute nicht mit dir sprechen. Ich will heute nicht mehr darüber nachdenken. Ich will gar nicht nachdenken.“ Kurz entschlossen nimmt sie seine Hand und legt sie auf der Innenseite ihres nackten Oberschenkels ab. „Ich will nicht denken.“

„Ich weiß nicht, wie ich das je wieder gutmachen soll.“ Sie nimmt seine Hand und führt sie ein Stück weiter nach oben. „Ist das dein Ernst?“

„Ja. Oder gefalle ich dir nicht mehr? Findest du mich so nicht mehr schön?“ So schwanger. So verbrannt. So tödlich. „Oder ist das jetzt etwa unpassend? Würdest du lieber darüber reden, dass wir beide in die Hölle kommen? Ob es einen Gott gibt? Oder doch nur den dunklen Lord?“

„Schon gut, schon gut, ich… ich geb mein Bestes.“ Er nimmt ihre Hände in seine, zieht sie sanft auf das Bett und küsst sie. Vorsichtig. Als müsste er erst sichergehen, dass sie nicht giftig ist. Oder ihm die Zunge abbeißt. Als er sie auf ihren Schoß ziehen will, wehrt sie ab. Seitdem ihr Bauch eine beträchtliche Größe erreicht hat, haben sie es meistens auf diese Weise getan, damit sie nicht das Gefühl hat, zerquetscht zu werden. Aber sie will sich nicht anstrengen. Sie will nicht die Kontrolle haben.

Es fühlt sich seltsam demütigend an, sich gänzlich unbekleidet hinzuknien und sich ihm so anzubieten, aber es kommt ihr richtig vor. Lucius streichelt unsicher über ihren Oberschenkel.

„Ich dachte, du magst das nicht, weil du-“ Weil du mir dann nicht in die Augen sehen kannst. Das war ihr Argument beim ersten, zweiten sowie beim dritten und letzten Mal gewesen, als sie es auf diese Weise versucht hatten. Weil du dann jeder sein könntest. Seine Erregung drückt gegen ihre weiche, brennende Haut. Sie schließt die Augen und stützt ihre Arme auf dem Kopfkissen ab.

„Ich will dich nicht sehen.“

Chapter 25: Draco

Chapter Text

25 – Draco



Das Licht ist ein bisschen zu hell, das ganze Zimmer kommt ihr irgendwie unscharf vor und überhaupt hat sie das Gefühl, in Watte gepackt zu sein. Watte in ihren Ohren. Haut aus Watte. Hände und Füße aus Watte. Watte, die hinten in ihrer Kehle liegt und ihren Hals austrocknet. Das einzige Geräusch, das zu ihr durchdringt, ist das leise Atmen von diesem Wesen, diesem winzigen Menschen, der auf ihrer Brust liegt und dabei ebenso hochzufrieden und erschöpft wie sie selbst scheint.

Die Welt bekommt wieder Konturen und scharfe Ränder, als sie Lucius' Stimme hört. Sie versteht nicht, was er sagt, aber sie erkennt ihn. Sein Gesicht ist ganz eigentümlich beleuchtet, aber im Gegensatz zu dem wirren Flackern an den Rändern ihres Sichtfeldes kann sie ihn nahezu überdeutlich sehen. Als wäre nur er hier und der Rest hinter Nebelschwaden in weiter Entfernung.

„Kannst du mich hören?“ Sie will ihm antworten, aber die Watte ist im Weg. Eine weiße, verschwommene Gestalt erscheint neben dem Bett und sie spürt, wie ihr ein Glas an die Lippen gesetzt wird. Sie trinkt einige Schlucke, merkt wie das Wasser über ihr Kinn, ihren Hals hinunterläuft, aber zumindest hat die Heilerin, der weiße Schatten, nun ein ganz freundliches Gesicht. „Die Eule hat mich eben erst erreicht.“

Sie hatte ihm keine Eule geschickt. Schon heute Morgen war sie mit einem seltsamen Gefühl aufgewacht, doch sie hatte darüber geschwiegen. Keine halbe Stunde nachdem er ins Ministerium appariert war, hatten die Wehen eingesetzt.

„Das war Abraxas' Eule.“ Lucius Entsetzen verwandelt ihn in eine Karikatur und als sie auflacht, merkt sie erst, wie weh ihr ganzer Körper tut. Das Wasser hat einen bitteren Nachgeschmack in ihrem Mund hinterlassen. „Er war der Meinung, dass du während der Arbeit belästigt werden solltest.“ Die Watte machte sie grausam. Es musste die Watte sein. Oder das Wasser. Oder das Licht. Sie wusste nicht, seit wann sie solche Dinge sagen konnte.

Eben noch hatte Lucius Anstalten gemacht, sich auf die Kante des Bettes zu setzen, doch nun wich er wie ein getretener und geprügelter Hund von ihr zurück. Das wollte sie auch nicht. In den letzten Tagen hatte sie sich redlich bemüht, sich normal zu verhalten. Den Funken von Hass verschwinden zu lassen, der in ihr glühte. Mühsam richtete sie sich auf und drückte das schmatzende, leise jammernde Wesen an sich. Der mächtige, schwarze Drache.

„Darf ich dir deinen Sohn vorstellen? Er scheint nicht nach dir zu schlagen und ist lieber ein bisschen zu früh als ein bisschen zu spät dran.“ Lucius verharrt still und noch immer ist da diese Grausamkeit, die er nicht verdient hat. „Ich weiß, wir haben lange nicht mehr über Namen gesprochen, aber ich möchte, dass er Draco heißt.“

„Wie das Sternbild?“ Ursa minor. Wenn die Astronomie-Beilage des „Klitterers“ nicht wäre, dann hätte sie die Namen vieler Himmelskörper wohl längst wieder vergessen, doch so erinnerte sie sich ganz lebhaft daran. Ursa minor. Der kleine Bär und der große Drache. Passender konnte es nicht werden. „Das gefällt mir.“ Lucius zögerte, aber schließlich setzte er sich doch und sah sie fragend an, ehe er fast ehrfürchtig Dracos kleine, zur Faust geballte Hand berührte.

„Damit wir nie vergessen, wofür wir das getan haben. Für wen.“

Zum ersten Mal seit Tagen gelingt es ihr, Lucius einfach nur anzusehen, ohne dabei das Gefühl zu haben, dass sie ihn schlagen oder zumindest anschreien möchte. Da ist die Watte. Da ist die Grausamkeit. Aber da ist keine Wut mehr. Das möchte sie als Fortschritt bewerten, auch wenn es vielleicht nur ein Beweis dafür ist, dass sie resigniert hat.

„Ich wünschte, du hättest mir eher geschrieben. Oder jemanden gebeten, mir zu schreiben. Hier laufen doch genug Leute herum, die eine Eule oder ein Memo hätten schicken können…“

„Du hättest mir ja auch nicht helfen können. So musste ich mir wenigstens keine Gedanken darum machen, wie laut ich schreien kann, ohne dass du panisch wirst. Dafür hatte ich nämlich wirklich keine Kapazitäten.“ Durch die Taubheit meldet sich der alles zerreißende Schmerz und sie beschließt, sich nicht weiter aufzurichten. Wozu auch. „Außerdem wusste ich ja, dass dein Vater freitags seinen Papierkram macht… und so hat er immerhin mal einen soliden Eindruck davon bekommen, wie viele Schimpfwörter ich kenne.“

„Wo ist er jetzt?“

„Er ist eben zur Cafeteria gegangen und hat dort den Direktor getroffen… ein alter Schulfreund oder so etwas. Sie trinken Tee. Glaube ich. Ich bin ein paar Mal weggedämmert… vielleicht ist er auch ganz woanders.“ Sie bemüht sich, zu lächeln. „Wie war dein Tag?“

„Fragst du mich das gerade wirklich?“ Er hat die Augen ganz weit aufgerissen. Wie eine Figur aus einem Comic. Wenn sie das sieht, dann will sie zum Ausgleich direkt die Augen schließen. „Uninteressant. Absolut uninteressant. Das ist doch… wie mein Tag war… das ist die irrsinnigste Frage, die ich je gehört habe.“

„Erzähl mir davon. Ich will etwas Uninteressantes hören… ich bin müde. Ich schlafe gleich sowieso wieder ein.“ Noch während sie das sagt, spürt sie, wie die Watte in ihrem Mund mehr und mehr wird und es kommt ihr so vor, als wäre ihr Kopf plötzlich auch bis oben hin mit Watte vollgestopft. Weiche, weiße, quietschende Watte.

* * *



Sie wird davon geweckt, dass das warme, angenehme Gewicht von ihrer Brust genommen wird. Eine Heilerin lächelt sie entschuldigend an. Sie hält Draco im Arm und tupft eine durchsichtige Flüssigkeit auf seinen Kopf. „Nur eine Minute, dann haben Sie ihn zurück, Mrs. Malfoy. Das ist nur ein Tonikum, das uns verrät, ob mit seinem Tastsinn alles in Ordnung ist.“ Erst jetzt bemerkt sie, dass sie ihre Arme ausgestreckt hat. Draco quietscht leise und versucht unbeholfen, mit seinen Fingerchen seinen  Kopf zu erreichen, auf dem sich die Flüssigkeit ausgebreitet hat. Die Heilerin lächelt. „Alles in bester Ordnung bei ihm.“ Vorsichtig legt die junge Hexe, auf deren Namensschild etwas steht, das Narzissa mit ihrem Wattekopf nicht behalten kann, Draco wieder auf ihrer Brust ab. „Wie fühlen Sie sich, Mrs. Malfoy? Wissen Sie, wie viel Uhr es ist?“

„… abends?“

„Fast. Geisterstunde.“ Sie zwinkert ihr verschwörerisch zu. Dann dreht sie sich um und da erkennt Narzissa erst Lucius und Abraxas, die halb auf dem Flur stehen und sich mit ernsten Gesichtern unterhalten. Lucius hat ihr den Rücken zugewandt und sein Vater redet auf ihn ein. Sie kann sehen, wie Lucius immer wieder nickt und wahrscheinlich dazu ansetzt, etwas zu sagen, doch Abraxas lässt ihn nicht. Sein Mund bewegt sich unaufhörlich. „Die beiden Herren haben das Zimmer kaum einmal verlassen. Bis eben haben sie sich auch ganz vorbildlich ruhig verhalten, aber dann haben sie angefangen, so lebhaft zu diskutieren, dass ich sie schon auf dem Gang hören konnte. Darum habe ich sie gebeten, sich ein wenig die Beine zu vertreten… ich wollte nicht, dass Sie geweckt werden.“ Von dieser gescheiterten Absicht spricht sie, ohne dabei das Lächeln zu verlieren, das irgendwie festgewachsen zu sein scheint.

„Worüber diskutieren sie denn?“

„Ach, da hab ich nicht hingehört. Es ist mein Job, nur das zu hören, was auch für meine Ohren bestimmt ist. Ich bin nur hier, damit es Ihnen und dem Kleinen gut geht. Alles andere geht mich rein gar nichts an.“ Die Heilerin legt einen Finger auf die Lippen, die immer noch freundlich verzogen sind. „Neugierde mag in manchen Branchen als Berufskrankheit gelten, aber hier ist die Diskretion das A und O. Ich bin sicher, sobald Ihr Gatte bemerkt, dass Sie aufgewacht sind, gibt es nichts mehr zu debattieren.“

Mit einer gelassenen Geste stieß die Heilerin das leere, gläserne Behältnis um, in dem das Tonikum gewesen war. Klirrend zersprang es auf dem Linoleumboden. Lucius und Abraxas unterbrachen sich und sahen sich nach der Quelle des Lärms um. Im Handumdrehen hatte die Heilerin das Gefäß wieder zusammengesetzt, zwinkerte ihr noch einmal zu, stellte ein Glas Wasser auf dem Tisch neben dem Bett ab und verschwand dann mitsamt ihren Utensilien aus dem Zimmer. Es gab noch zwei weitere Betten, die sie belegt geglaubt hatte, doch dort lag niemand. Draco und sie waren allein. Mit einem Bein von Lucius, das noch eher im Raum als draußen auf dem Flur stand.

Abraxas trat auf das Bett zu und neigte leicht den Kopf. „Ich verabschiede mich für heute. Wenn es dir Recht ist, werde ich vormittags wieder herkommen. Die Heilerinnen sagen, dass ihr noch über Nacht bleiben sollt und morgen im Laufe des Tages nach Hause könnt, wenn du ausgeruht bist und mit Draco alles in Ordnung ist. Ein sehr hübscher Name übrigens.“

„Danke für alles, Abraxas.“

„Nichts zu danken, meine Liebe. Gute Nacht.“ Lucius nickte seinem Vater zu und dieses Nicken kam ihr seltsam friedlich vor. Das musste die Watte sein. Die Watte hinter ihren Augen. Es war nicht mehr ganz so hell und die Umrisse der Möbel waren wieder klar, aber trotzdem fühlte sie sich noch nicht ganz wach. Oder anders wach als sonst. Die Kräuter, die man ihr gegen die Schmerzen bereits am Mittag verabreicht hatte, hatte sie wirklich ganz gehörig unterschätzt.

Leise schließt Abraxas die Tür hinter sich und als Lucius sich wieder auf die Kante des Betts setzt, da kann sie auf einmal nicht anders, als in Tränen auszubrechen. Eigentlich ist ihr gar nicht nach weinen zumute, aber ihre Augen scheinen das anders zu sehen. Ihre Kehle zieht sich zusammen und diese unbekannte Unruhe steckt Draco an. Als er anfängt, leise zu heulen, kommt ihr der Gedanke, dass sie ein mitfühlendes Kind hat. Mitfühlend. Mitleidend.

„Es tut mir so leid!“

„Hey, hey, es ist doch gar nichts passiert.“ Beruhigend streichelt Lucius über ihren Arm. Ihre Finger haben sich in der Bettdecke festgekrallt. „Reg dich nicht auf. Du musst dich für nichts entschuldigen.“

„Doch. Ich war so gemein. Ich hab… ich hab… ich hab ihm verboten, dich zu benachrichtigen. Ich wollte nicht… ich wollte dir den Moment wegnehmen.“ Ich wollte dir Draco wegnehmen. Die Watte-Narzissa wollte ihn für sich haben. Und Lucius eine Wunde zufügen, die ein Leben lang nicht ganz verheilen würde.

„Ich weiß. Und ich verstehe es sogar irgendwie. Es ist… es ist meine eigene Schuld. Ich habe Unaussprechliches von dir verlangt und das zu so einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt… ich habe es nicht anders verdient. Und es ist nur ein Moment. Ich hätte auch verstanden, wenn du mich verlassen hättest, ohne dass ich die Chance habe, Draco überhaupt kennenzulernen.“

„Das hätte ich nie tun können.“ Aber sie hatte darüber nachgedacht. Sekunden. Minuten. Aber keine Stunden. Es waren keine ernsthaften Gedanken gewesen, die zu Taten führten. Es waren irre, wilde Rachefantasien, die sie selbst niemals aushalten könnte.

„Du nicht. Andere Frauen hätten es ganz sicher getan.“ Ihr wollte niemand einfallen, der je in dieser Situation gewesen war. Weder eine reale und noch nicht einmal eine fiktive Person. Ihr Leben war beispiellos. Das klang doch ganz wunderbar. „Ich werde es wieder gutmachen. Irgendwann. Irgendwie.“

„Da warte ich gespannt.“ Sie dreht ihren Arm so, dass ihre Finger sich mit seinen verschränken. „Für den Anfang könntest du damit aufhören, an den Nägeln zu kauen. Das sieht hässlich aus.“ Anklagend betrachtet sie seine Fingernägel. „Und es kratzt.“

„Eine schlechte Angewohnheit…die sich nur in der Gegenwart meines Vaters bemerkbar macht. Oder in vergleichbar unangenehmen Situationen.“ Sein Lächeln ist ganz schief. „Ich sage das nie, aber ich bin froh, dass du ihm so vertraust, auch wenn ich das von mir selbst nicht behaupten kann. Ich bin froh, dass er für dich da sein konnte.“

„Worüber habt ihr eben geredet? Ich habe euch noch nie… mehr als das Nötigste miteinander sprechen sehen.“

„Oh, das war eben auch nötig… mein Vater hat es sich nicht nehmen lassen, mich daran zu erinnern, dass ich meines Lebens nicht mehr froh werde, wenn ich nicht in Ordnung bringe, was auch immer ich da angerichtet habe. Es ist amtlich. Er würde mich schlachten, wenn er dir damit eine Freude machen könnte.“ Es hört sich nicht nach einem Witz an, aber ein bisschen darüber lächeln muss sie trotzdem. „Und er hat sehr deutlich gemacht, dass – wenn einer geht – ich derjenige bin, den er nicht mehr auf seinem Grund und Boden sehen will. Eine sehr herzliche Unterredung war es, ja doch, mir ist immer noch ganz warm.“

„Das klingt furchtbar.“

„Ganz und gar nicht… es ist unheimlich beruhigend zu sehen, dass er ein Herz hat. Nicht für mich, aber das wäre auch zu viel gewollt.“ Draco gluckst leise und auf einmal überfallen sie ganz schreckliche Gedanken. Was, wenn es zwischen Lucius und Draco auch eines Tages so ist? Was muss passieren, damit ein Vater und sein Sohn es kaum im selben Raum aushalten? Und nicht einmal mehr über Kleinigkeiten wie schönes oder schlechtes Wetter sprechen können. Unwillkürlich presst sie Draco fester an sich und hofft, dass sie nie vergisst, wie warm und weich und perfekt es sich anfühlt, ihn so nah bei sich haben.

„Was ist eigentlich zwischen euch vorgefallen? Es kann doch nicht immer so gewesen sein… oder doch? War es immer so?“

„Nein… nicht ganz so schlimm. Aber ich war nie sein Lieblingskind.“

„Wie kannst du denn nicht sein Lieblingskind gewesen sein? Du hast doch keine Geschwister? Hat er gehofft, dass da noch Luft nach oben ist? Und überhaupt, wie kann man sein eigenes Kind nicht lieben? Mögen, das ist eine andere Sache, aber lieben? Irgendwo liebt man sein Kind doch immer, auch wenn man sich ab einem gewissen Alter sicher ist, dass man sich nicht sympathisch ist.“ Das war eine Sache, die sie ihrer Mutter nie unterstellen würde. Es gab für Narzissa keinen Zweifel daran, dass das Verhältnis von ihr und ihrer Mutter sich mit fortschreitendem Alter noch weiter abgekühlt hätte, doch eine gewisse Verbundenheit hatte es immer gegeben. Zumindest bildete sie sich das rückblickend ein. Womöglich hatte sie früher anders empfunden. Vielleicht hätte sie da nicht behauptet, dass sie ihre Mutter immer lieben würde. Oder dass sie und ihre Schwestern nichts trennen könnte. Andromeda und ich könnten jede Grundsatzdiskussion auf der Welt führen, die Welt könnte untergehen – und wir würden immer noch miteinander sprechen.

„Ich weiß es doch auch nicht. Soweit ich zurückdenken kann, hatte ich immer das Gefühl, in seinen Augen irgendwelche Fehler zu machen, die ich selbst nicht begreifen kann. Da war immer so eine gewisse Ablehnung… und das habe ich nicht gut vertragen. Als Kind habe ich eine Zeit lang alles versucht, um ihm zu gefallen, aber irgendwann habe ich aufgegeben. Ich habe sogar meine Mutter gefragt, was ich falsch mache. Sie hat gesagt, ich würde überhaupt nichts falsch machen und… das wollte ich ihr glauben. Das will ich ihr bis heute glauben. Und mir will nicht einfallen, was ich hätte anders machen können.“

„Hast du ihn mal gefragt? Ich meine, du bist erwachsen… er ist auch erwachsen. Ihr könntet darüber reden.“

„Die Kriterien, nach denen mein Vater seine Zuneigung verschenkt, sind mir ein Rätsel und sie sollen es bleiben. Ich will nicht so genau wissen, warum ich in seinen Augen unzulänglich bin. Das wäre ganz sicher nicht… hilfreich.“

„Wie du meinst.“

„Wenn ich wüsste, dass mir so ein Gespräch etwas bringen würde – dass danach alles besser oder anders wäre, dann würde ich nicht zögern. Aber das ist… das ist durch.“ Lucius bemerkt, dass ihr Blick besorgt zwischen Dracos Köpfchen und ihm hin und her wandert. „Wenn ich wie mein Vater werden sollte, dann darfst du mich höchstpersönlich unter die Erde bringen.“

„Jetzt bist du makaber.“ Seine Mundwinkel zucken, er beugt sich vor und drückt einen Kuss auf ihren Handrücken. Diese Geste, die Abraxas Malfoy sich als Begrüßung für sie angewöhnt und beibehalten hat, jagt ihr einen kleinen Schauer über den Rücken. Bislang hat sie noch nie an seinen Vater gedacht, wenn Lucius das getan hat. Aber eventuell, nur ganz eventuell, hat er jedes Mal daran denken müssen – und das ist jetzt einfach der Moment, in dem sie darüber reden. Und entscheiden, nicht darüber zu reden.

* * *



Lucius hat die Nacht an ihrem Fußende verbracht und den Vorschlag abgelehnt, ohne zu fragen eines der anderen Betten zu belegen. Es könnte ja jederzeit jemand auftauchen, der den Platz brauchte. Sie wollte gar nicht wissen, wie sich sein Rücken anfühlte, aber anhand der kreisenden Kopfbewegungen, die er bedächtig ausführte, ehe er aufstand, bekam sie eine ungefähre Vorstellung davon, dass sein Nacken am meisten gelitten hatte.

Auf der Bettdecke entdeckte sie einen Briefumschlag, der noch nicht dort gewesen war, als sie endgültig eingeschlafen war, während sie fasziniert beobachtet hatte, mit welcher selbstverständlichen Sicherheit Draco sich von ihr stillen ließ. Sie war davon wach geworden, dass er leise schrie und war hilflos und dankbar gewesen, als eine neue Heilerin ins Zimmer gekommen war, Dracos Windel, die ihm von der abendlichen Heilerin oder sonst wem angezogen worden war, ausgetauscht und sie darauf aufmerksam gemacht hatte, dass er vermutlich hungrig war. Sie kam sich wie eine Idiotin vor und war froh, dass Säuglinge keine Prinzipien und keine Rhetorik, sondern nur Grundbedürfnisse hatten. Draco machte ihr keine Vorwürfe, sondern nuckelte friedlich an ihrer Brust. Sie fühlte sich dabei wesentlich merkwürdiger als er und war fast froh, den besprechenswerten Briefumschlag zu entdecken.

„Was ist das?“

„Eine Notiz von meinem Vater. Er lässt mich wissen, dass er im Ministerium Bescheid gegeben hat, dass ich heute nicht kommen werde. Außerdem schreibt er, dass er gegen 10 Uhr herkommt.“ Es scheint Lucius nicht zu behagen, dass sein Vater ihn über seinen Kopf hinweg krankgemeldet hat, doch er sieht müde aus und nicht wie jemand, der aus purem Trotz zur Arbeit gehen wird.

„Vielleicht könntet ihr zusammen zurückkommen? Ich habe gestern vergessen, überhaupt irgendetwas einzupacken und ich hatte auch nicht mehr genug Verstand, um Abraxas irgendwie in unsere Zimmer zu lassen… ich habe nichts zum Anziehen. Draco hat auch nichts. Und ich würde gerne meine eigene Unterwäsche tragen.“ Das ist vielleicht nur eine Kleinigkeit, aber in dem Nachthemd, das ihr eine der Heilerinnen angezogen hat, nachdem sie ihre eigenen Sachen verständlicherweise ausziehen musste, fühlt sie sich wie eine Patientin. Eher wie eine Invalide und weniger wie eine Mutter. „Und du musst etwas frühstücken. Geh nach Hause, iss etwas und dann komm zurück. Mit deinem Vater. Oder ohne ihn. Wie ihr wollt.“ Lucius nickt und steht auf, doch dann zögert er. „Wir kommen eine Stunde alleine zurecht.“

„Okay. Soll ich dir irgendetwas Bestimmtes mitbringen?“

„Nur nichts, was eng sitzt. Und keine langen Ärmel. Mir ist warm. Es ist warm draußen, oder?“ Es ist Juni, Anfang Juni, aber der Winter ist vor vier Wochen noch einmal äußerst beharrlich zurückgekommen und sie hat in den letzten Tagen immer wieder gefroren. Um jede Strickjacke, die sie je gekauft hat, ist sie dankbar gewesen.

„Ich beeile mich.“

„Das musst du nicht.“ Lucius nickt und sie wüsste gerne, mit welchem Wortlaut sein Vater sich an ihn gerichtet hatte. An Lucius klebte ein Hauch von Unsicherheit und sie wollte nicht glauben, dass es an ihr lag. Sie schob es ganz eindeutig auf den Umschlag, den er nicht liegen ließ, sondern gewissenhaft in seiner Hosentasche verstaute. Bevor er ging, beugte er sich zu ihr herunter und drückte ihr einen sanften Kuss auf die Stirn.

„Ich liebe dich.“

„Weiß ich doch.“

Es kommt ihr vor, als hätte Lucius die Tür gerade erst geschlossen, als die dunklen Locken ihrer Schwester das Zimmer füllen. Bellas Haare sind noch ein wenig nass und hängen darum schwerer und länger als gewöhnlich über ihren Schultern. Wie ein Schatten folgt Rodolphus ihr, bleibt jedoch im Türrahmen stehen und tut so, als würde er ihre entblößte Brust nicht bemerken.

„Hat Lucius dir Bescheid gesagt?“ Bella küsst sie überschwänglich auf beide Wangen und sie hat das Gefühl, an den klammen Haarmassen zu ersticken. Sie will ihrer Schwester nicht das erste Wort überlassen.

„Ich hab von dir geträumt, Zissy! Ich hab mich gleich angezogen, bin appariert und hab gefragt, ob du hier bist…“ Bella geht neben dem Bett in die Knie, sodass ihr Kopf auf derselben Höhe wie Draco ist, der sie mit leicht zusammengekniffenen Augen mustert. Es kommt ihr so vor, als würde er die Fremde misstrauisch beäugen. „Herzlichen Glückwunsch.“ Bella flüstert und strahlt und plötzlich fällt es Narzissa ziemlich schwer, sich an die genauen Gründe zu erinnern, aus denen sie den Kontakt zu ihrer Schwester in den letzten Monaten so rar wie möglich gehalten hat.  „Er sieht skeptisch aus. Wie ein kleiner Denker. Meinst du, er kann schon denken?“ Bella kichert. „Ein ganz kluger, kleiner Kopf, das sieht man.“

„Ich dachte, du magst keine Babys?“

„Das hab ich so nie gesagt… ich will nur kein Baby.“ Den letzten Teil des Satzes flüstert sie nicht. Sie spricht sogar so laut, dass Draco anfängt, leise zu quengeln und Rodolphus, der sich noch immer an den Türrahmen hält, zusammenzuckt. „Ich wäre eine schreckliche Mutter, das wissen wir beide, aber der Kleine hier hat Glück. Mit dir – und mit Lucius wahrscheinlich auch. Hast du schon gefrühstückt? Am Ende des Korridors war eine Heilerin mit Tabletts unterwegs.“

„Sie war noch nicht hier.“

Bella nickt und wendet sich Rodolphus zu.

„Willst du der guten Frau vielleicht ihre Arbeit erleichtern und Zissy etwas holen?“

„Natürlich.“ Rodolphus wirkt mehr als dankbar darüber, von seiner jetzigen Position wegzukommen und sie nutzt den Moment, um das Nachthemd an die richtige Stelle zu zupfen.

„Man sollte meinen, er wüsste nicht, wie eine nackte Frau aussieht.“ Belustigt schüttelt Bella den Kopf. „Ich bin froh, dass mein Instinkt mich nicht getäuscht hat. Ich dachte schon, ich träume vielleicht nur von dir, weil du mir so fehlst. Du bist mir aus dem Weg gegangen. Warum?“

„Ich denke, das weißt du sehr genau, Bella. Ich will mit all dem einfach nichts zu tun haben… ich will nicht, dass Draco etwas damit zu tun hat.“

„Draco? Wie das Sternbild? In guter, alter Familientradition?“ Bella grinst. „Na warte bis der gute Sirius Orion davon hört. Der wird vor Freude im Dreieck springen.“ Sirius. Noch so ein schwarzes Loch in ihrem Leben, an das sie gerade nicht so gerne denkt. Noch jemand, mit dem sie schon lange nicht mehr gesprochen hat.

„Du kannst mich aber doch verstehen, oder? Du kannst verstehen, dass ich mich raushalten möchte so gut ich kann?“

„Natürlich könnte ich verstehen, wenn du dich raushalten wollen würdest… aber das hast du ja gar nicht.“ Bella wirkt immer noch vollkommen leichtfertig und betrachtet Draco mit einem strahlenden Lächeln. Diese Leichtfertigkeit sorgt dafür, dass Narzissa nicht gleich begreift. Zu lange braucht. Zu spät. „Denkst du wirklich, ich würde deine Handschrift nicht erkennen? Du vergisst, wer dir früher heimlich die Muggelkrimis gekauft hat! Oder soll ich etwa glauben, dass ein Lucius Malfoy sich auf die Tücke von magischen Spuren versteht? Oh Zissy… du hast dich doch schon eingemischt. Und du hast perfekte Arbeit geleistet. Vermisstenanzeigen lesen sich immer schöner als Nachrufe.“

„Ich weiß nicht, wovon du sprichst.“

„Oh doch, ich denke, das weißt du sehr genau.“ Es ist nie schön, wenn Bella jemanden imitiert, doch besonders unangenehm ist es zu hören, wie sie in den Ohren ihrer Schwester klingt. Bella kichert und freut sich darüber, wie wenig Zeit es gebraucht hat, um ihre Pointe zu präsentieren. Wie spielend leicht es noch immer ist, Narzissa zu durchschauen und in die Ecke zu drängen. „Aber ich verstehe natürlich, wenn das nur ein Ausrutscher war.“ Bella richtet sich zu voller Größe auf und auf einmal ist es ganz offensichtlich. Sie blickt auf Narzissa herab. Im wahrsten Sinne des Wortes. „Rede dir ruhig ein, dass du es nicht in dir hast, solange du willst. Ich wusste, dass Lucius es nicht kann. Es war eine Probe. Lucius musste sich vor dem dunklen Lord beweisen – und ich wusste, dass du ihm helfen würdest. Du würdest ihn nie untergehen lassen. Egal wie groß der Eisberg ist. Egal wer der Eisberg ist.“

Chapter 26: Tatze

Chapter Text

26 – Tatze




12. Juni 1980



Narzissa,

Du weißt, wie ungern ich Dir schreibe. Ich bin heute Morgen zum ersten Mal seit Jahren im Grimmauldplatz gewesen – und es scheint, als würde dort niemand mehr leben? Ich weiß nicht, was mein Bruder dort getrieben hat, aber es sieht aus, als wäre das Haus durchsucht worden. Nun könnte ich Dich fragen, wie es Dir geht oder Dir gratulieren, weil Du einen Satansbraten zur Welt gebracht hast, aber eigentlich habe ich nur eine Frage und ich weiß, dass ich sie vermutlich schon vor Jahren hätte stellen müssen, aber was zum Teufel habt ihr mit meinem kleinen Bruder angestellt?

Ich rechne nicht mit einer Antwort von Dir, aber falls ich irgendwie herauskriegen sollte, dass Du oder Bellatrix oder Dein feiner Gatte etwas damit zu tun haben, dass es so aussieht, als wäre Regulus seit Monaten nicht mehr in seinem Zimmer gewesen, dann bringe ich Dich um. Dich und Deinen kleinen Engel, den Dir hoffentlich auch eines Tages jemand ohne Vorwarnung wegnimmt. Oder denkst Du, ich wäre nicht in der Lage dazu, meiner Familie ewas anzutun? Denkst du, das wäre etwas, das nur Du und Bellatrix könnt?

Anbei findest Du eine Rassel für deinen kleinen Schatz. Vielleicht ist sie giftig, vielleicht aber auch nicht. Probier es gerne aus.

Herzlichst,
Sirius


* * *



Der Sommer war da. Es kam ihr immer noch halb wie ein Traum vor, dass sie im Garten von Malfoy Manor saß, ihren Sohn im Arm hielt und dabei zusah, wie er auf die verschiedenen fremden Geräusche und Eindrücke reagierte. Es war eigentlich ein Trauerspiel, dass Menschen nicht in der Lage waren, sich daran zu erinnern, wie sie zum ersten Mal frisch gemähtes Gras gerochen, das Singen eines Vogels gehört oder einen Schmetterling gesehen hatten. Das waren unzählige kleine Verluste und sie konnte nur hoffen, dass all diese Erinnerungen irgendwo sicher in ihrem Kopf verstaut waren und sie nur nicht darauf zugreifen konnte.

Es waren nur halb so viele Menschen, die Draco unbedingt sehen wollten, wie sie geglaubt hatte. Abgesehen von Diana und Erwin waren nur ihre Großeltern und ihr Vater auf kurze Besuche in Malfoy Manor gewesen. Sie selbst hatte das Grundstück nicht einmal verlassen müssen – und das genoss sie wirklich sehr. Noch vor wenigen Wochen hatte sie ihre Zweifel daran gehabt, dass sie wirklich an diesem Ort leben und sich dabei nicht permanent wie ein Gast fühlen könnte. Doch auch wenn es immer noch ganze Zimmer und Flure gab, die sie noch nie betreten hatte, fühlte es sich an, als wäre sie zuhause. Sie hatte sich vorgenommen, das Haus und vor allem den Garten Stück für Stück zu erkunden. Mit Draco.

Ihre Bekanntschaft mit Merlin, dem schnurrenden Herren des Hauses, hatte sich auch vertieft. Dem Kater hatte sie Draco allerdings noch vorenthalten, denn sie konnte noch nicht ganz einschätzen, ob Merlin ein grundlegend friedliebendes Tier war – oder ob sie ihn bisher ausschließlich an seinen guten Tagen erwischt hatte.

Draco und sie erschraken gleichermaßen, als Merlin wie ein fauchender, schwarz-weißer Blitz an ihnen vorbei peste und sich so heftig gegen die angelehnte Tür zum Salon warf, dass er sich durch einen schmalen Spalt ins Innere des Hauses quetschen konnte.

Besorgt schaute sie in die Richtung, aus der Merlin herangeschossen war und staunte, als sie einen großen, schwarzen Hund sah, der hechelnd auf sie zutrabte. Sie kam sich direkt dumm vor, weil sie nie darüber nachgedacht hatte, dass es in der Gegend wohl Streuner gab. Die Landschaft um das Manor herum schien menschenleer, aber das hätte ihr doch zu denken geben sollen. Wo Menschen abwesend waren, da regierte die Natur. Sie war schon aufgesprungen, um dem Tier zu zeigen, dass sie größer war und dass er keine Chance hatte, an Draco heranzukommen, da sah sie auf einmal keinen Hund mehr. Sie zwinkerte heftig, als sie ihren Cousin erkannte.

Es war sicherlich drei Jahre her, seitdem sie Sirius das letzte Mal von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden hatte. In dem Sommer nach seinem fünften Schuljahr war er gleich zu Beginn der Sommerferien aus dem Grimmauldplatz getürmt. Sie hatte ihm ab und an einen Brief geschrieben und an Weihnachten und ihrem Geburtstag halbherzig beschriebene Postkarten erhalten, die allesamt exotische Motive hatten. Dank Regulus wusste sie allerdings, dass Sirius ganz brav seine UTZ-Prüfungen in Hogwarts abgelegt hatte und in den Ferien vermutlich bei einem seiner Freunde untergekommen war. Was er in dem Jahr getan hatte, das seit seinem Abschluss vergangen war, wusste sie allerdings nicht. Sie wusste nur, dass er und seine Schulfreunde etwas mit dem Orden des Phönix zu tun hatten – und sobald Regulus das preisgegeben hatte, war es ihr genug gewesen. Darüber wollte sie so wenig wie möglich wissen. Darüber wollte sie so wenig wie möglich nachdenken.

„Hast du meinen Brief bekommen?“ Sirius sparte sich jede Begrüßung. Um nicht ganz so fassungslos in der Gegend herumzustehen, setzte sie sich wieder hin und bot ihm mit einem Nicken den Stuhl an, auf dem Abraxas bei gutem Wetter allabendlich saß und seine Zeitungen las.

„Ja, ich habe deinen Brief bekommen.“ Und am liebsten hätte sie das Stück Papier verbrannt, doch sie hatte es doch nicht über sich gebracht. Es war immerhin ein Beweis dafür, dass Sirius noch lebte. Dass es ihm gut ging. Den Umständen entsprechend.

„Und doch hast du keine Zeit gefunden, um mir zu antworten? Das passt gar nicht zu dir.“ Es war irgendwie beruhigend, dass Sirius zwar ein bisschen gehässig klang, aber doch immer noch so wie in ihrer Erinnerung. Der Ton des Briefes hatte sie entsetzt. Natürlich war das Verschwinden von Regulus eine Tragödie – und sie dachte höchst ungern daran, denn wenn Regulus einfach so vom Erdboden verschluckt werden konnte, dann konnte Lucius dasselbe passieren. Dann konnte das jedem passieren. Jederzeit. Dann zählte es vielleicht doch nicht, auf wessen Seite man stand, was man alles tat und wem man die Treue geschworen hatte.

„Ich weiß nicht, wo er ist, Sirius. Ich wünschte, ich wüsste es… ich habe ihn zu Beginn des Jahres gesprochen und danach… er ist nicht nach Hogwarts zurückgekehrt.“ Hogwarts. Hogwarts hatte am 1. September ganz normal seine Pforten geöffnet, aber normal war dort nichts mehr. Regulus hatte erzählt, wie wenige Schüler aus Muggelfamilien zurückgekommen waren… und wie merkwürdig alles war. Wie streng die Regeln waren. Man durfte das Schloss nicht mehr ohne einen triftigen Grund verlassen. Die Lehrer durchsuchten in regelmäßigen Abständen die Schlafsäle der Slytherins… die Post kam manchmal an. Manchmal aber auch nicht. Es musste unheimlich sein und doch hatte Regulus keinen Widerwillen geäußert, ins Schloss zurückzukehren. Im Sommer des vergangenen Jahres hatte ihr Onkel Orion eine Lungenentzündung gehabt und war binnen weniger Tage gestorben. Walburga war zu einer ihrer Kindheitsfreundinnen ans Meer gefahren und erst an Weihnachten nach London zurückgekehrt. Nachdem sie Regulus zum Bahnhof gebracht hatte, war sie wieder aus der Stadt gefahren. Soweit Narzissa wusste, war sie immer noch dort. Der Grimmauldplatz musste seither leerstehen – wenigstens hatte sie das dem Brief von Sirius entnommen.

„Das weiß ich.“ Sirius' Miene hatte sich verhärtet. Es war kein Geheimnis, dass Albus Dumbledore hinter dem Orden des Phönix stand, auch wenn er wie eh und je als Schulleiter in Hogwarts war. Es war also anzunehmen, dass Sirius darüber informiert worden war, dass sein kleiner Bruder am 6. Januar nicht im Schloss angekommen war. „Aber sonst weiß ich einen Dreck. Ich weiß nur, dass du genauso in dieser Scheiße drinsteckst wie Regulus, Bellatrix und überhaupt unsere ganze Familie.“ Unsereganze Familie. Es bereitete ihm sichtliche Schmerzen, das so zu sagen.

„Ich bin auch nicht glücklich darüber, wie alles gekommen ist.“ Und sie hätte es sich nie träumen lassen. Genau wie sie sich den Verfall ihres Vaters nie hätte vorstellen können, so war sie von Orions Tod, Walburgas Landflucht und Regulus' Verschwinden überrollt worden. Ihre Familie hatte sich zerschlagen, quasi in Luft aufgelöst. Das sollte ihr mehr an die Substanz gehen, es sollte sie beschäftigen – und ihr schwante, dass der ganz große Schrecken noch kommen würde. Eines Tages würde sie begreifen, wie real und unumkehrbar das alles war.

„Du siehst aber glücklich aus.“ Auf Sirius' Gesicht erscheint so etwas wie ein Lächeln. Ein schiefes Lächeln, aber immerhin. „Hast du mein Geschenk bekommen?“ Die Rassel. Die giftige Rassel. Wenn sie darin nicht noch die Spuren von Sirius' altvertrautem Sinn für Humor entdeckt hätte, dann wäre sie über diese Passage mehr als schockiert gewesen.

„Ja. Er interessiert sich aber noch nicht besonders für Spielzeug… ich werde dich wissen lassen, wenn er etwas damit anfangen kann.“ Sirius stützt seine Ellenbogen auf dem Tisch ab und erst da bemerkt sie, wie müde er eigentlich aussieht. Und wie erwachsen. Wenn sie ihn auf der Straße sehen würde, dann wäre es schwer, sein Alter richtig einzuschätzen. „Ich bin froh, dass du hergekommen bist.“

„Ich weiß nicht, ob ich dasselbe von mir behaupten kann… es ist so viel leichter, dich zu hassen, wenn ich dich lange nicht gesehen habe.“ Über seinen frustrierten Unterton kann man eigentlich nur lachen. Ist das schon Galgenhumor?

„Kann ich dir was zu trinken anbieten? Oder hast du Hunger?“

„Oh bitte… spiel jetzt nicht die Gastgeberin. Ich bin doch kein vornehmer Freund von deinem Schwiegervater, sondern nur ein Parasit, der viel zu viel Zeit darauf verwendet hat, herauszukriegen, wann du allein zu Hause bist.“ Wenigstens gab er zu, dass er nicht einfach einen Glückstreffer gelandet hatte. „Ziemlich großes Haus. Hast du keine Angst?“

„Nein. Eigentlich gibt es auch Zauberbanne, die verhindern, dass man unangenehm überrascht wird…“ Sirius grinst und sieht glatt ein bisschen stolz aus. „… aber anscheinend hast du die Zauber ausgetrickst. Seit wann bist du… so wandelbar?“

„Schon eine Weile… es wäre übrigens Ehrensache, wenn du niemandem davon erzählen würdest. Sonst ist die jahrelange Arbeit ziemlich nutzlos und ich muss mich mit billigen Desillusionierungszaubern tarnen.“

„Ehrensache. Schon klar. Aber du bist… du machst doch nichts Dummes? Riskierst dein Leben aus Prinzip oder so etwas?“ Sirius weicht ihrem Blick aus und gibt keine Antwort. „Dass du dich auch immer überall einmischen musst… das wird dich noch den Kopf kosten.“

„Kann sein. Kann aber auch sein, dass es sich lohnt. Und ich hab ja nichts zu verlieren. Ich hab ja kein kleines Monster, das auf mich angewiesen ist. Oder ein großes Monster, das mein Bett teilt.“

„Lucius ist kein Monster.“

„Nein… wahrscheinlich ist er das wirklich nicht. Aber er hat monströse Freunde, er glaubt an monströse Dinge – und das ist doch schon wieder bezeichnend, oder nicht?“ Sie würde nicht widersprechen. Sie würde nicht so tun, als fände sie es gut, dass Lucius an manchen Abenden nicht zuhause war und ihr nicht sagte, was er getan hatte. Wo er gewesen war. Mit wem er gesprochen hatte. „Trotzdem hast du es mit ihm wohl noch besser als mit Rabastan getroffen. Rabastan ist… er ist einer der schlimmsten. Ein Tier.“

„Und das aus dem Mund von jemandem, der vor fünf Minuten noch vier Füße und Reißzähne hatte?“

„Das ist doch nur Fassade. Ganz tief drinnen bin ich ein friedliebendes Schaf, aber Rabastan… na ja, ist ja auch egal, was ich sage. Es ändert ja doch nichts. Du bist hier. Bei deinen Monstern.“

„Und wo bist du?“

„Kann ich dir nicht sagen.“

„Du willst mir nicht sagen, wo du lebst? Vertraust du mir wirklich so wenig?“

„Doch. Dir vertraue ich. Aber ich vertraue Lucius Malfoy nicht. Und ich weiß, dass du wahrscheinlich nicht blöd bist und in den letzten Jahren gelernt hast, deine Gedanken zu schützen – immerhin bist du jetzt studiert, Gratulation übrigens – aber selbst, wenn ich dir meine Adresse verraten wollte, ich könnte nicht.“

„Ich verstehe.“

„Aber du kannst mir ja trotzdem schreiben. Schreib meinen Namen auf den Umschlag und zack, die Eulen schaffen das schon… oder besser noch, schreib an Tatze. Das ist sicherer.“

„Tatze? Ist das ein Deckname oder ein Spitzname?“

„Es ist weniger amtlich als Sirius Orion Black. Sagen wir es mal so.“ Mit einer Gelassenheit, die nur gespielt sein konnte, lehnte er sich in dem Stuhl zurück und sah sich in dem ausladenden Garten um. „Hübsch hier. Hätte ich gewusst, dass du so schön wohnst, hätte ich keine Todesdrohungen verschickt.“

„Ist das deine Art, dich bei mir zu entschuldigen?“

„Ich entschuldige mich nicht… aber ich gebe zu, dass ich den Brief im Affekt verfasst und verschickt habe. Ich habe… es klingt sicher bescheuert, aber ich habe von Regulus geträumt. Genau genommen habe ich von Kreacher geträumt. Und dann bin ich über meinen Schatten gesprungen und… irgendwie dachte ich wohl, dass Regulus sich im Grimmauldplatz versteckt. Dass ich ihn sehen könnte… und mit ihm reden. Ich… ich habe ihn echt geliebt.“

„Er ist nicht tot.“

„Du warst schon immer eine mittelmäßige Lügnerin – und das glaubst du dir doch jetzt selbst nicht. Wir wissen beide, dass die Chancen nicht besonders gut stehen. Es wäre doch zu schön, um wahr zu sein, wenn er auf irgendeiner Südseeinsel wäre, in der Sonne läge und sich von Kreacher irgendein exotisches Schweinchen überm Spieß braten ließe… wobei, ich war echt beruhigt, dass ich zumindest Kreacher nicht getroffen habe. Wenn er nicht hinter seinem geliebten Boiler unter der Spüle oder auf dem Dachboden ist, dann muss er einfach bei Regulus sein.“

„Sirius…“ Sie weiß nicht, ob er noch mehr sagen will, doch sie hat das Gefühl, ihn unterbrechen zu müssen. Ehe das Bild von Regulus in der Südsee noch konkreter, noch detaillierter wird. „Kreacher ist bei mir. Er ist vor ein paar Wochen bei mir aufgetaucht.“

„Wann?“ Sirius' Miene ist wie versteinert. Vielleicht war es ein Fehler, ihm den letzten Funken Hoffnung zu nehmen. „Wann genau ist das gewesen?“

„Mai. Anfang Mai. Aber… ich glaube, er war schon eine Weile alleine. Er war ganz außer sich. Mittlerweile geht es ihm wieder besser… er kümmert sich um den Garten. Das tut ihm gut. Er fragt auch oft nach dir, du bist ja… du bist ja eigentlich jetzt sein Herr.“

„Wieso ist er nicht bei meiner Mutter?“

„Sie hat ihn fortgeschickt, sie… hat es wohl nicht ertragen. Dich hat er nicht so leicht finden können und ich hab es nicht übers Herz gebracht, ihn zurück zu deiner Mutter zu senden, nur um ihn ständig hin und herzuschicken. Wenn sie wieder in London ist, ist sie bestimmt auch bereit, ihn zu… beschäftigen. Außer natürlich, du möchtest…“

„Um Himmels Willen! Ich brauche doch keine Hauselfe. Und schon gar keinen Kreacher, der mir Tag und Nacht ins Ohr flüstert, dass ich ein Blutsverräter bin und an den Zehenspitzen aufgehängt werden sollte… nein danke. Behalt ihn ruhig. Vielleicht hat er ja einen grünen Daumen.“ Sirius räuspert sich und als sie schon die Befürchtung hat, dass es nichts mehr zu sagen gibt, da steht er auf und macht einen Schritt auf sie zu. Seine Augen fixieren Dracos Hinterkopf und sie glaubt fast, er wollte fragen, ob er ihn halten dürfte, doch dann scheint er sich blitzschnell dagegen zu entscheiden. „Ich sollte jetzt gehen.“

„Das musst du nicht. Lucius kommt erst in ein paar Stunden nach Hause. Abraxas genauso.“

„Trotzdem. Das hier ist… es ist ziemlich verkehrt.“

„Also ich hab mich gefreut, dich zu sehen. Ich freue mich immer, dich zu sehen.“ Sirius presst die Lippen aufeinander und räuspert sich verlegen. „Pass auf dich auf. Versprich es mir.“ Natürlich verspricht er ihr das nicht. Sirius gibt nicht sein Wort auf etwas, das er nicht zu halten gedenkt. Ehe sie sich versieht, ist Sirius verschwunden und der große, dunkle Hund mit der hängenden Zunge sieht treuherzig zu ihr auf. Nach einem kräftigen Bellen dreht er sich um und läuft los. Sie weiß nicht, wie lange sie ihm nachsieht, bis sie nicht einmal mehr einen kleinen, dunklen Punkt in der Ferne erkennen kann.

Draco, der die ganze Zeit über friedlich gedöst hat, tastet nach ihren Haarspitzen und sieht sie mit großen, fragenden Augen an. Hinter der gläsernen Scheibe der Tür gibt Merlin ein klägliches Maunzen von sich und späht mit zusammengekniffenen, gelben Katzenaugen skeptisch in die Welt hinaus.

* * *



Als Lucius am Abend eintrifft, hat sie bereits entschieden, dass sie Sirius' Besuch vollständig verschweigen wird. Auch, wenn Merlin immer noch ausgesprochen verstimmt ist und Abraxas, der knapp zwei Stunden vor Lucius zurückgekehrt ist, schon gefragt hat, ob ihm jemand auf die Pfoten getreten ist.

Draco ist, als würde er ihr einen Gefallen tun wollen, beinahe wie von selbst eingeschlafen, sodass sie eine ganze Stunde Zeit hat, sich ein bisschen einzurichten. Neben dem Zimmer, in dem Lucius und sie schlafen, ist gegenwärtig das Zimmer von Draco. Später, wenn er mehr Privatsphäre haben will und sie mit einem guten Gefühl einschlafen kann, ohne ihn atmen zu hören, wird er in einen der anderen Räume umsiedeln können, die noch nicht eingerichtet sind. Doch vorläufig steht seine Wiege in Sichtweite ihres eigenen Bettes und sie nutzt den Rest des Raums, um ihre alten Besitztümer auszubreiten. Aufgrund der beschränkten Größe der Wohnung hat sie nämlich einige Dinge, an denen ihr Herz früher sehr hing, in ihrem Kinderzimmer zurückgelassen.

Die alte Schneekugelsammlung von Andromeda, die Narzissa einfach nicht hat zurücklassen können, macht sich auf der Fensterbank besonders gut und sie bildet sich ein, dass der Traumfänger, der früher über ihrem Bett hing, sich auch über Dracos Wiege ganz wunderbar macht. Das vertraute Staubaufwirbeln des Kamins in der Küche ertönt, als sie gerade durch ihre alten Photoalben blättert und darüber staunt, wie anders ihre Haare früher doch aussahen. Besonders auf den Aufnahmen mit Andromeda und Bella sieht sie aus wie ein kleines Gespenst.

„Zissy?“

„Hier.“

„Soll ich kochen?“ Diese Frage stellt sich nun annähernd jeden Abend. Mit Kreacher, der sich ihr zugehörig fühlt und Lucius so gar nicht, und Dobby, der sie beide sehr zuvorkommend behandelt, Abraxas allerdings besonders treu ergeben ist, da gibt es eigentlich keinen Grund mehr, dass Lucius oder sie selbst kochen. Und sie muss ehrlich zugeben, dass sie dafür im Moment auch keinen Kopf hat. Ihr Tag kreist um Draco, das Entpacken der Kisten und das Erkunden des Grundstücks.

„Wenn du möchtest.“

Es ist nur noch eine Frage von Tagen, bis Lucius' Vorgesetzter in Ruhestand geht und sie weiß, dass Lucius gerade jetzt eigentlich mehr Zeit im Ministerium verbringen müsste, damit es keinen unschönen Übergang gibt. Sie rechnet es ihm hoch an, dass er keine Überstunden macht, sondern manchmal lediglich ein bisschen früher aufsteht. Aber morgens ist er ihr sowieso keine Hilfe – außer Draco hebt sich seinen nächtlichen Schreikrampf bis zum Morgengrauen auf, dann ist es grundsätzlich Lucius, der aufsteht. Mitten in der Nacht ist sie meistens diejenige, die sich aus dem Bett hievt und ihn beruhigt. Schließlich kann sie tagsüber schlafen, wann immer Draco auch bereit ist, ein bisschen zu dösen.

„Ich hab eigentlich keine Lust… ich werde Dobby Bescheid sagen.“ Lucius' Kopf erscheint im Türrahmen. Er strahlt eine Art chronischer Erschöpfung aus. Seine Haut ist gerötet und seine Haare kommen ihr strähnig vor. Wahrscheinlich sieht sie nicht besser aus.

„Okay.“ Sie lächelt und sie nimmt sich vor, ihn nicht zu kritisieren, als sie hört, wie er in der Küche mit Dobby spricht. Weder er, noch Abraxas geben sich Mühe, freundlich zu sein, wenn sie mit dem Hauselfen reden. Es kommt ihr manchmal sogar so vor, als wären die beiden immer unnötig gereizt und gäben sich absichtlich harsch, wenn sie mit ihm kommunizierten. Dobby störte sich nicht daran, er kannte es ja so, doch Narzissa musste sich immer zusammenreißen, um deswegen keinen Streit anzufangen. Gewisse Umgangsformen konnte man sich schließlich auch im Umgang mit einer Hauselfe erhalten. Besonders bei einem so liebenswerten Geschöpf wie Dobby. Neben ihm wirkte Kreacher eher wie ein schlecht gelaunter Irrwicht und weniger wie eine engagierte Haushaltshilfe.

Lucius verschwindet im Badezimmer und als sie immerhin eine Kiste geleert hat, geht sie in die Küche. Dobby hat den Tisch gedeckt, doch er zieht es vor, in der Hauptküche im Erdgeschoss zu kochen. Auf dem Tisch stehen Blumen behelfsmäßig in einer Karaffe.

Als Lucius umgezogen und mit nassen Haaren in die Küche kommt, ist sie auf der Suche nach einer Vase. So etwas müsste es theoretisch geben, denn in der alten Wohnung haben sie auch eine schlichte Vase besessen und beim Umzug sollte eigentlich nichts verloren gegangen sein… außer sie hatte beim Zusammenpacken irgendwelche logischen Fehler gemacht und die Vase erwartete sie in einem verschlossenen Karton zwischen ihren Schulbüchern.

„Sind die für mich? Oder hast du sie geschenkt bekommen?“

„Beides. Die sind von Mae – für dich. In meiner Tasche ist noch eine Glückwunschkarte, die ich abgenommen habe, damit sie nicht verknickt oder verloren geht.“

„Mae?!“ Mae Wallet war nicht, wie Lucius einst prophezeit hatte, die persönliche Assistentin von Bartemius Crouch geworden, sondern zur persönlichen Assistentin des Zaubereiministers Harold Minchum aufgestiegen. Ihr Name fiel nur äußerst selten – und sie hatte nicht angenommen, dass Lucius besonders häufig mit ihr sprach. Doch anscheinend war der Kontakt so rege, dass Mae wusste, dass es einen Anlass zur Gratulation gab. Zu ihrem Erstaunen stellte Narzissa fest, dass es ein sehr geschmackvoller, gemischter Strauß war. Grundsätzlich schätzte sie eingetopfte Blumen ein wenig mehr, weil diese Pflanzen eine Chance hatten, länger als nur ein paar Tage – oder Wochen, im besten Fall – zu überleben. Aber zwischen anderen weißen Blüten lächelten sie einige Narzissen an. Die Frau hatte einen siebten Sinn – oder einen gekonnten Floristen. „Wie nett von ihr.“

„Mach nicht so ein Gesicht.“

„Was hast du denn plötzlich gegen mein Gesicht?!“ Lucius verdreht die Augen, verschwindet aus dem Zimmer und kehrt mit einer Karte zurück. Die Handschrift von Mae sieht aus wie die eines zwölfjährigen Jungen und das versöhnt Narzissa glatt schon wieder ein bisschen mit ihren Erinnerungen an die hochgewachsene, bildschöne Frau, die manchmal im Hintergrund bei irgendwelchen Aufnahmen des Ministers zu sehen war. „Richte ihr meinen Dank aus, wenn du sie das nächste Mal siehst. Das ist sehr… aufmerksam.“

„Sie hat dir nie irgendwas getan, Liebling.“ Liebling! Jetzt werden die ganz großen Geschütze aufgefahren. „Außerdem ist sie mittlerweile seit Jahren in festen Händen.“ Er zieht sie an sich und gibt ihr einen Kuss auf die Wange, der sich irgendwie beschwichtigend anfühlt. Sie greift nach seiner Hand und begutachtet seine Fingernägel – ein alltäglich gewordenes Ritual.

„Bist du nicht eigentlich ein bisschen zu alt, um noch neue schlechte Angewohnheiten zu entwickeln?“ Schnell ballt er die Hand zur Faust, sodass sie keine Chance hat, einen peniblen kritischen Blick darauf zu werfen.

„Wäre es dir lieber, ich würde das Rauchen anfangen?“

„Dann kannst du ein Stockwerk höher einziehen! Wenn ich an Bellas Stelle wäre, dann hätte ich Rodolphus und seine verfluchten Zigarren schon längst in den Garten verbannt. Ich würde ihn zelten lassen, bis er freiwillig aufhört!“ Sie dreht sich zu ihm um und streicht ihm die nassen Haare aus dem Gesicht. „Aber ich finde es auch nicht schön, wenn du dich selbst verunstaltest. Außerdem bist du so ein schlechtes Vorbild. Was ist, wenn Draco in dem Glauben aufwächst, es sei normal, seine Hände zu essen?“

„Ich gewöhne es mir wieder ab.“

„Versprochen?“ Lucius lächelt bekräftigend, doch es kommt kein Wort über seine Lippen. Mit dem Machen von Versprechungen in ihrer Gegenwart ist er ebenso vorsichtig geworden wie Sirius es stets gewesen ist.

Chapter 27: Kaiser Augustus

Chapter Text


27 – Kaiser Augustus



Es ist drückend warm, doch weil es draußen noch ein bisschen unangenehmer ist als drinnen, trägt sie Draco, in der Hoffnung, dass er einschläft und sie selbst für einen Moment die Augen zumachen kann, durch das Haus. Um die heiße Luft zu vertreiben, zaubert sie immer wieder kleine, kühlende Wirbelwinde, die Draco leider derartig begeistern, dass er wieder hellwach ist. Nachdem sie zum dritten Mal dieselbe Treppe hinaufsteigt, entscheidet sie sich dafür, die Augusthitze zu umarmen und zu ertragen – wenn er dafür im Gegenzug endlich schläft.

Sobald sich Dracos Atmung merklich verlangsamt und sein Kopf ganz langsam gegen ihre Brust kippt, bleibt sie stehen. Wie kann ein Haus nur so groß sein, dass es sich wie sportliche Betätigung anfühlt, die Flure abzuschreiten? Irgendwann muss sie dringend mal nach einem Bauplan mit Maßstab fragen… oder die Fluren eigenhändig vermessen. Sie schüttelt ihre Arme aus, die sich schwer und geschwitzt anfühlen. Das Tragetuch, in dem Draco sich wohlfühlt und ein bisschen was von der Welt mitbekommt, je nachdem wie er sich dreht, ist eine große Erleichterung.

Neugierig schaut sie sich auf dem Flur um. Bisher bewohnen sie nur die Zimmer, die eine Etage tiefer liegen. Abraxas hat ihr irgendwann einen kleinen Rundgang verpasst – allerdings mündlich im Garten sitzend, sodass sie nur eine ungefähre Vorstellung davon hat, wofür welches Zimmer in grauer Vorzeit tatsächlich genutzt wurde. Sie vermutet, dass sie sich in der Nähe eines Gästezimmers und des Nähzimmers von Abraxas' Mutter befindet, aber ganz sicher kann sie nicht sein. Bisher ist die erfreulichste Entdeckung die kleine Bibliothek gewesen, die auf derselben Höhe wie die Küche, das Schlafzimmer und das große Badezimmer liegt, aber sich hinter einer unspektakulären, schmalen Holztür versteckt, sodass man meinen könnte, sie sollte nicht gefunden werden. Beinahe ausnahmslos alle Bücher darin sind vor mindestens vierzig Jahren erschienen. Abraxas hat sich selbst achselzuckend als Zeitungsleser bezeichnet und sie wissen lassen, dass seit Septimus Malfoy niemand mehr für Ordnung in dem Lesezimmer gesorgt hat.

Um ihrem Vorsatz, sich weiter mit ihrer Umgebung vertraut zu machen und sich vielleicht irgendwann wirklich im ganzen Haus auszukennen, treu zu bleiben, dreht die probehalber den Knauf der Tür rechts von ihr. Auf der glatten, hölzernen Oberfläche sind zwei kleine Löcher zu sehen. Als wäre dort einmal ein Schild angebracht gewesen. Die Tür öffnet sich  mit einem leisen Quietschen und sie schnappt überrascht nach Luft, als sie in einem formvollendeten Kinderzimmer steht.

Der Raum ist hell erleuchtet, eine Wand scheint nur aus bunt verglasten Fenstern zu bestehen. Es gibt eine breite Fensterbank, auf der ein Kissen liegt, als hätte dort erst vor Kurzem noch jemand gesessen und in einem Buch geschmökert. Überhaupt scheinen Bücher das bestimmende Thema des Zimmers zu sein. An den Wänden sind zahlreiche Regale angebracht, die allerdings schreiend leer sind, wenn man von ein paar verstaubten Kinderbüchern absieht. Staub ist das zweite bestimmende Thema.

Der Boden ist mit mehreren Teppichen in grellen Farben ausgelegt und sie versucht, sich daran zu erinnern, ob Lucius irgendwann mal erwähnt hat, was als Kind seine Lieblingsfarben gewesen sind. Auf Orange und Gelb hätte sie nämlich nicht zwangsläufig getippt, aber vielleicht war das Zimmer auch von Abraxas oder jemand ganz Anderem bewohnt worden. Neugierig griff sie nach einer Märchensammlung von Beedle dem Barden und suchte auf der Innenseite nach dem Jahr der Drucklegung. Damit Draco keinen Staub einatmete und sich am Ende wieder selbst aufweckte, weil er husten musste, hielt sie das Buch schön weit weg. Irgendwann entdeckte sie ganz unten eine Jahreszahl. 1961. Das ist ja nun doch nicht so lange her.

Sie beschließt, den schmalen Band mit herunter zu nehmen. Noch ist Draco nicht alt genug für die teils grausigen Geschichten von Beedle dem Barden – aber womöglich entdeckt sie ja beim Lesen eine Geschichte, die ohne Mord und Totschlag daherkommt und die sie ihm vorlesen kann. Sie erinnert sich noch gut daran, wie Bella, Andromeda und später auch sie mit den Märchen das Lesen und besonders das Vorlesen gelernt haben. Wo die Ausgabe ist, die sie sich geteilt haben, weiß sie gar nicht. Vermutlich ist sie bei Bella oder irgendwo in ihrem Elternhaus abgeblieben. Vielleicht liegt sie sogar in dem Zimmer von Andromeda, das seit Jahren nicht mehr verändert, sondern beinahe museal erhalten wurde.  

Um ihren Eindruck von dem kuriosen Zimmer abzurunden, in dem irgendwann vielleicht Draco wohnen möchte, wirft sie noch einen Blick in den Kleiderschrank. Abgesehen von dem durchdringenden Geruch nach Mottenkugeln wirft sie auch die Auswahl an Kleidern um. Auf den ersten Blick ist es schwer zu sagen, ob hier ein Junge oder ein Mädchen gelebt hat, denn sie entdeckt nicht wenige Rüschen, doch bei einem indiskreten Blick in die unteren Schubladen entscheidet sie, dass hier ein Junge groß geworden ist. Womöglich sogar Lucius – auch wenn sie sich nicht daran erinnern kann, ihn jemals in etwas Kariertem oder Gepunktetem gesehen zu haben. Gestreifte Pullover oder Hemden waren das höchste der Gefühle in Fragen der Musterung.

Als sie Lucius' Stimme hört, die magisch verstärkt, aber trotzdem gedämpft, durch das Haus schallt, wird sie von ihrem Gewissen gebissen. Sie schnüffelt. Und auch, wenn es für sie ja kein Geheimnis ist, was Lucius liest oder welche Unterwäsche er trägt, so gehört es sich doch eigentlich nicht, in anderen Zimmern einfach so schamlos alle Schubladen zu öffnen.

Sie beeilt sich, nach unten zu kommen, damit er nicht lauter ruft und Draco weckt. Sobald er sie sieht, legt sie den Finger an die Lippen, um ihm zu signalisieren, dass er nichts sagen soll. Mit einer gewissen Geschicklichkeit, auf die sie sehr stolz ist, legt sie Draco in seinem Bettchen ab und deckt ihn zu, ohne ihn dabei zu wecken. Den Band mit den Märchen hat sie kurzzeitig in den Bund ihres Rocks gestopft.

Es ist Samstag und Lucius hat immerhin nur den halben Tag im Büro verbracht und sich den Rest der Arbeit mit nach Hause genommen. Das Zaubereiministerium liegt zwar ihres Wissens nach zum größten Teil unter der Erde und die Wände sind aus kühlem Stein, aber sie kann sich trotzdem nicht vorstellen, dass es gerade in irgendeinem geschlossenen Raum, der nicht konstant gekühlt wird, so richtig gut auszuhalten ist.

„Wo warst du?“ Anstelle einer Antwort holt sie das Buch hervor und schlägt dabei aus Versehen den Einband auf. Erst jetzt bemerkt sie die verblasste Tinte, mit der ein Name oben in eine Ecke gekritzelt wurde. Die Schrift ist nicht nur ein bisschen unleserlich, sondern beinahe hieroglyphenartig.

Als sie frustriert und ohne den Namen auch nur erraten zu können, wieder aufsieht, bietet Lucius ihr einen peinlich berührten Anblick.

„Dein Kinderzimmer war ja richtig bunt.“

„Ja… nein… eigentlich nicht. Mein Kinderzimmer war einfach nur Weiß und… ja, unser Schlafzimmer ist mein altes Kinderzimmer. Mein altes Spielzeug und die Möbel sind auf dem Dachboden eingelagert. Darum habe ich mich gekümmert, bevor ich ausgezogen bin…“ Irgendetwas liegt in der Luft. Mehr als die trockene Hitze, die sich auch mit geschlossenen Fenstern und zugezogenen Vorhängen nicht draußen halten lässt. „Ich vermute, du warst in dem Zimmer von Xenophilius.“

„Xenophilius?“ Der Name rührt irgendetwas in ihr, doch sie ist sich nicht sicher, ob sie tatsächlich so schnell die Verbindung geschaffen hätte, wenn nicht eine druckfrische Ausgabe des „Klitterers“ auf dem Esstisch gelegen hätte. Die Eule war am Vormittag angekommen und hatte sie gezwungen, das Fenster komplett zu öffnen. Der Vogel, der mit seinen breiten Flügeln geschlagen hatte, war die Ursache für einen Heulkrampf von Draco gewesen, der sich sichtlich geängstigt hatte. „So wie Xenophilius Lovegood?“ Das verzweifelte Schulterzucken von Lucius sprach Bände – und war doch absolut nichtssagend. Sie setzt sich auf einen der Küchenstühle, auch wenn das Polster an der Rückseite ihrer nackten Oberschenkel klebte. „Das musst du mir jetzt etwas ausführlicher erklären.“

„Na ja, ist dir nie in den Sinn gekommen, dass Lovegood doch reichlich ausgedacht klingt?“

„Nein, das ist mir rein zufällig nicht in den Sinn gekommen, Mr. Malfoy.“

„Xenophilius war schon immer sehr… kreativ.“ Also wirklich. Xenophilius. Xenophilius Malfoy. Das klang gar nicht mal so verkehrt. „Also eigentlich Augustus. Aber er hat ziemlich früh beschlossen, dass er lieber Xenophilius heißen möchte. Weil er ja Xenophilist und xenophil ist. Das Wort hat er zwar erfunden, aber sei es drum.“ Das waren nun doch reichlich viele und reichlich wenige Informationen auf einmal. Sie war nur froh, dass sie bereits saß.

„Und Xenophilius ist… ein Cousin?“ Vage erinnerte sie sich daran, wie sie ihn vor Ewigkeiten – auf dem Rückweg von Horace Slughorns Weihnachtsparty, bei der sie nicht wirklich zusammen gewesen waren, aber irgendwie ja doch – einmal gefragt hatte, ob er Geschwister hatte. Oder Cousins und Cousinen in einem ähnlichen Alter. Ein Kopfschütteln war seine Antwort gewesen. Ein scheinheiliges Kopfschütteln.

„Mein kleiner Bruder.“

„Du bist ja so ein Lügner!“ Sie konnte nicht anders als das letzte Wort ein bisschen herauszuschreien. Sollte Draco doch aufwachen. Sie würde ihn schon beruhigen. Vielleicht kam sie ja noch am Zimmer einer großen Schwester vorbei.

„Jetzt reg dich bitte nicht auf, ich habe nicht… ich wollte dich nicht anlügen. Ich habe ihn seit Jahren nicht gesehen… und es hat sich immer schon so angefühlt als hätte ich gar keinen Bruder.“ Stumm verschränkt sie die Arme vor der Brust. Damit wird sie sich nicht zufrieden geben. Das ist zu wenig. Seufzend setzt Lucius sich auf den Stuhl ihr gegenüber. Der „Klitterer“ liegt wie ein Mahnmal zwischen ihnen. „Xenophilius ist etwa sieben Minuten jünger als ich. Wir sind Zwillinge, aber wir sahen nie gleich aus. Und wir waren uns nie ähnlich. Xenophilius kam mir immer schon wie ein Fremder vor… er war ein merkwürdiges Kind. Ein Genie, hat mein Vater gerne behauptet. Hochbegabt, das trifft es besser. Er hat mit sechs Jahren angefangen, Griechisch zu lernen. Zwei Jahre später war dann Latein dran. Sprachen und Wörter waren immer sein Ding – Menschen weniger. Für Tiere hat er sich auch interessiert, aber nicht für normale Tiere, sondern nur für solche, die es gar nicht gibt. Das ist ein Hobby, das er sich offenbar erhalten hat… er hätte wohl auch einen Brief von Hogwarts erhalten, aber meine Eltern haben schon früh entschieden, dass er auf eine andere Schule gehen sollte. Auf eine Schule für „besondere“ Kinder. Als ich eingeschult wurde, da hat er schon zwei Jahre nicht mehr bei uns gelebt, sondern in irgendeinem Internat in… Schweden. Dort liegen die Ferien auch ein bisschen anders, sodass wir uns eigentlich nur noch an Weihnachten gesehen haben. Und irgendwann… na ja, irgendwann hat er beschlossen, dass er seine eigene Person sein will. Und kein Teil einer Familie, deren „Werte“ er nicht teilt. Ein „Lebenskünstler“ wollte er sein – und das ist er wohl auch geworden.“ Fasziniert hängt sie an seinen Lippen und versucht, diese Geschichte mit dem komischen Kauz, der ihr vor Jahren in der Winkelgasse über den Weg gelaufen ist, in Einklang zu bringen. „Wenn ich mich so verhalten hätte, mein Vater hätte mich einen Kopf kürzer gemacht – aber Xenophilius war immer sein Liebling. Seine große Hoffnung. Sein genialer Sohn… er hat es irgendwie geschafft, mir und meiner Mutter, aber eher noch mir, die Schuld daran zu geben, dass Xenophilius nicht nach Hause zurückkommen wollte.“

„Das ist… ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Das ist heftig und…“ Es erklärte so viel. So ziemlich jedes Wort, das Abraxas und Lucius miteinander sprachen. Oder nicht sprachen. „Warum haben wir nie darüber geredet?“

„Vielleicht, weil es keine besonders tolle Unterhaltung ist?“

„Ja, aber… darum geht es doch nicht! Wie soll ich dir vertrauen, wenn du solche Geheimnisse vor mir hast? Ich erzähle dir alles, Lucius, du weißt einfach alles über mich – und ich? Ich sitze jetzt hier und fühle mich wie ein Idiot, weil ich nicht wusste, dass du einen Bruder hast.“

„Ich zwinge dich ja nicht, mir alles zu sagen…“

„Ach so, also soll ich jetzt Geheimnisse vor dir haben, damit du auch in Ruhe welche haben kannst und ich mich am Ende nicht beklagen kann? Ich wusste nicht, dass das der Sinn einer Ehe ist!“

„Zissy, du rastest aus. Es ist warm. Am Ende wird dir nur schwindelig.“

„Dann wird mir halt schwindelig. Vielleicht schwindelst du gerne und mir ist gerne schwindelig – das wäre doch passend, oder?!“ Er atmet geräuschvoll ein und aus. Er will sich nicht mit ihr streiten. Er hat keine Lust dazu. „Gibt es sonst noch irgendetwas, das ich wissen sollte? Gehst du vielleicht jeden Tag mit Mae spazieren und erwähnst das nicht, weil es ja zu einer unangenehmen Unterhaltung mit mir führen könnte? Ist Mae vielleicht auch eine verschollene Verwandte von dir?“

„Es tut mir leid, dass ich dich angelogen habe. Ich kann verstehen, warum du wütend bist, aber werde bitte nicht irrational. Mae und Xenophilius sind zwei komplett verschiedene Paar Schuhe. Das kann man kein bisschen miteinander vergleichen. Und wenn du es genau wissen willst, ich habe vor neun Jahren ja wohl kaum ahnen können, dass mich eine einzelne, einfache Verneinung jetzt in Teufels Küche bringen könnte. Ich wollte nicht… wir haben über dich und deine Schwestern geredet. Du hast mich gefragt, ob ich Geschwister habe, weil du einen Punkt machen und mir erklären wolltest, dass ich die Beziehung von dir und Andromeda nicht verstehen kann, weil ich ein Einzelkind bin. Und du hattest Recht, ich konnte es nicht verstehen. Weil Xenophilius und ich uns noch nie irgendwie nahe standen. Nicht so wie du und deine Schwestern früher. Ich wollte dieses Fass nicht aufmachen. Und ich wollte schon gar nicht zugeben, dass ich einen Bruder habe, der mir nichts bedeutet und dem ich nichts bedeute. Du hättest… was hättest du denn dann von mir gedacht? Ich wusste, wie wichtig dir Familie ist, wie wichtig dir deine Schwestern sind. Ich wollte nicht schlecht vor dir dastehen. Deswegen habe ich gelogen.“

„Und dein Vater… wieso hat er nie… er hat Xenophilius auch nie erwähnt.“ Hatte sie sich nicht noch gewundert, als sie einmal gesehen hatte, wie Abraxas Malfoy gewissenhaft eine Ausgabe des „Klitterers“ studierte? Hatte sie ihn nicht noch darauf angesprochen? Und er hatte gesagt, es sei ein Zufallskauf gewesen. Weil er mal wissen wollte, was das „Format“ so könne. Das war eine eiskalte Lüge gewesen. Eine von zig Lügen, die ihr wohl nach und nach einfallen würden.

„Mein Vater tut gerne so, als wäre Xenophilius tot. Jung und tragisch verstorben. Meine Eltern haben nach unserer Geburt eher zurückgezogen gelebt… sie waren jung, ihre Schulfreunde hatten keine Kinder, waren weit davon entfernt überhaupt erwachsen zu sein. Sie haben so gar nicht am gesellschaftlichen Leben teilgenommen… mein Vater hat sich von meinem Großvater in die ganze Apotheken-Sache einarbeiten lassen, meine Mutter hat sich um uns gekümmert. Xenophilius war schwierig. Und als meine Eltern irgendwann wieder Freunde in ihrem Alter hatten, da war er schon im Internat… sie haben nie damit angegeben, einen brillanten aber etwas irrsinnigen Sohn zu haben. Auch wenn man meinen Vater leicht für einen Angeber halten kann, das ist er nicht.“ In seinem Blick liegt etwas Flehentliches. „Es tut mir leid. Ich hätte… ich hätte das irgendwann mal erwähnen sollen.“

„Ja, das hättest du… ich glaube, ich möchte mich hinlegen. Ich bin müde und du hast bestimmt auch noch zu tun.“ Als sie aufsteht, merkt sie, wie ein bedrohliches Schwarz an den Rändern ihres Blickfeldes auftaucht und sie stützt sich reflexartig auf der Tischplatte ab.

„Bist du sauer auf mich?“

„Sauer ist das falsche Wort… aber falls du mir dieses Jahr etwas zu unserem Hochzeitstag schenken möchtest, dann verzichte ich auf Blumen zu Gunsten einer Liste mit allen verbliebenen Geheimnissen.“

* * *



Draco dabei zu beobachten, wie er schläft und dabei leise vor sich hin brabbelt, hat einen ausgesprochen beruhigenden Effekt auf sie. Als Lucius irgendwann im Türrahmen lehnt und ihr dabei zusieht, wie sie auf einem samtbezogenen Hocker aus ihrem Kinderzimmer neben Dracos Wiege sitzt, da hat sie schon nicht mehr das Bedürfnis, zu schreien. Oder überhaupt etwas zu sagen.

„Möchtest du diese Liste schriftlich oder reicht auch ein mündlicher Vortrag aus?“

„Ausdruckstanz wäre mir am liebsten, aber ich akzeptiere jegliche Art von Ausführung.“  Am liebsten wäre es ihr natürlich, wenn es gar nichts zu sagen gäbe. Wenn Xenophilius Lovegood nicht nur die Spitze des Eisbergs gewesen wäre.

„Mae und ich gehen wirklich manchmal spazieren.“

„Ist das ein Witz?“

„Würdest du darüber lachen?“

„Ich glaube nicht.“

„Dann war es auch kein Witz.“ Wenn er so zerknirscht lächelt, dann kann sie ihm alles verzeihen. Das hat sie wenigstens irgendwann mal geglaubt. Jetzt würde sie ihm allerdings gerne eine Schneekugel ins Gesicht werfen. „Ich wollte dir keinen Grund geben, dich unnötig aufzuregen. Sie ist wirklich nur eine Kollegin.“

„Womit habe ich so einen rücksichtsvollen Mann wie dich nur verdient?“ Bittere Ironie ist eigentlich gar nicht ihr Ding, aber manchmal kann sie sich nicht zurückhalten. Auch wenn sie dabei wie Andromeda in ihren pubertärsten Zeiten klingt. „Nein, ehrlich, womit habe ich das verdient, Lucius?“

„Ich wollte nicht-“

„Du wolltest dich nicht mit mir streiten. Du wolltest nicht, dass ich eifersüchtig bin. Warum nicht? Meine Eifersucht ist doch alleine mein Problem – ein rein hypothetisches Problem, wenn es gar nichts gibt, worauf ich objektiv eifersüchtig sein kann.“

„Manchmal kann man wirklich nicht mit dir reden.“ Er macht doch tatsächlich Anstalten, sich zurückzuziehen. Ohne sich zu entschuldigen. Oder sich wenigstens anständig zu rechtfertigen.

„Du könntest es ja wenigstens mal versuchen!“ Sie brüllt und sie weiß, dass er sie hören kann, auch wenn er schon aus dem Schlafzimmer in Richtung des Flurs gegangen ist. Draco schlägt die Augen auf, sieht sie erschrocken an und bricht prompt in Tränen aus.

Während sie ihn aus der Wiege hebt, entschuldigt sie sich flüsternd und verfällt dabei gleich ein wenig ins Singen von einem halb erfundenen Schlaflied. Um Lucius zu zeigen, was er angerichtet hat – und um ihm die Aufgabe zu übertragen, seinen Sohn ins Bett zu bringen, geht sie den Flur auf und ab.

Sie betritt die Küche gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie er in den grünen Flammen des Kamins verschwindet und nur Sekunden später wieder zurück in den Raum geschleudert wird. Mit einem lauten Krachen stolpert er gegen einen der Stühle, die am Esstisch stehen, und rudert dabei mit den Armen wie ein betrunkener Clown. Draco gluckst leise – und ihr ist ebenfalls zum Lachen zumute, als sie die grünen Furunkel sieht, die sich auf seinem Gesicht und seinen Armen ausgebreitet haben. In seinen Augen liegt der blanke Horror, als er die hässlichen – und sicherlich auch schmerzenden – Pusteln entdeckt.

„Narzissa!“

„Ja, mein Schatz?“

„Was hast du gemacht?“

„Was hast du gemacht, das ist entscheidend. Wolltest du vor einer konstruktiven Besprechung des Konflikts flüchten und heute nicht mehr nach Hause kommen? Wolltest du weglaufen?“ Bei dem Wort scheint ihm langsam zu dämmern, was ihm gerade widerfahren ist. „Versprochen ist versprochen und wird auch nicht gebrochen… ich dachte ehrlich, das hier würde früher passieren. Die Salbe im Badezimmer ist vielleicht mehr ganz so frisch, aber sie sollte ein wenig helfen. Am Montag siehst du wieder aus wie aus dem Ei gepellt. Schau mal, Draco, ist dein Daddy nicht hübsch, wenn er sein grünes Wunder erlebt?“ Draco gluckst noch immer und sie drückt ihm einen zufriedenen Kuss auf den Kopf. So ein wunderbares Publikum hatte sie noch nie.

Noch immer ein wenig belämmert rappelt Lucius sich auf und begutachtet seine Hände, bevor er vorsichtig sein Gesicht abtastet und leise flucht. „Okay. Punkt für dich. Das ist fies und ich hab es vielleicht nicht besser verdient.“

„Vielleicht?“

„Vielleicht reagierst du aber auch über. In Bezug auf Mae, meine ich. Von Xenophilius hätte ich dir schon vor Jahren erzählen sollen… sag mir bitte, dass das nicht drei Tage braucht, bis es verschwindet? Du kannst da doch bestimmt was tun, oder?“

„Nein. Ich befürchte, da kann ich gar nichts tun. Solltest du dich allerdings dafür entscheiden, vernünftig und wie ein erwachsener Mann mit mir zu reden, dann könnte es sein, dass es die Schmerzen ein wenig lindert. Es könnte auch eine gute Idee sein, wenn du heute noch kochst… oder etwas backst. Du hast ewig nicht mehr für mich gebacken.“

„Ostern ist auch schon eine Weile vorbei…“ Lucius drückt an einem besonders herrlichen Furunkel auf seinem Handrücken herum und verzieht das Gesicht, als eine gelbliche Flüssigkeit heraustritt. „Das ist ja widerlich… hast du das etwa von dem heiligen Professor Chamberlain gelernt?“

„Aber nicht doch. Das ist Andromedas ältester Trick. Familiengeheimnis. Die Farbe kann variiert werden.“

„Okay. Kuchen? Muffins? Pfannkuchen? Kekse? Wonach steht dir der Sinn?“

„Eigentlich wäre mir ein Eis am liebsten. Wenn du also den Kühlschrank öffnen könntest… das wäre schon eine große Tat.“

„Du bist eine Terroristin, weißt du das?“

„Hab ich dir eigentlich mal erzählt, dass mein Vater mich als Kind manchmal Grindelwäldchen genannt hat? Darüber konnte sogar meine Mutter sich amüsieren.“ Lucius' Mundwinkel zucken ein bisschen, aber er ist ganz eindeutig noch nicht wahnsinnig gut aufgelegt. Das wäre sie auch nicht, wenn auf ihrem Daumen ein Furunkel sitzen würde. Während er mit stoischer Miene zum Kühlschrank geht, bespricht sie Draco noch ein wenig. „Es grünt so grün, wenn Spaniens Blüten blühen.“ So gelassen wie möglich präsentiert Lucius ihr eine Schüssel mit Schokoladeneis. „Haben wir noch Soße? Erdbeeren würden auch gut dazu passen…“

„Eine Terroristin sondergleichen bist du.“

„Ich setze mich rüber in das potenzielle Wohnzimmer. Da sind noch nicht so viele Möbel und ich möchte das Fenster nicht öffnen…“ Sie schenkt ihm ein freundliches Lächeln, nimmt Dracos Hand, um ihm zuzuwinken und geht quer über den Flur.

Das Zimmer hat zwei große Fenster, die mit weißen Vorhängen verdeckt sind. Abgesehen von dem Sofa, das in der alten Wohnung einen Großteil des Wohnzimmer-Gefühls ausgemacht hat, ist der Raum annähernd leer. Das Klavier steht abgedeckt in der Ecke, ihre Ansammlung von Kissen und Decken ist auf dem Sofa gestapelt. Sie nimmt drei besonders große Kissen und legt sie auf die Holzdielen. Ein Kissen ist für sie, eins für Lucius.

Sie setzt sich im Schneidersitz hin und platziert Draco so, dass er nicht vom Kissen rutscht und über den Boden kugelt, aber sich doch ein bisschen bewegen kann. Und so gerne sie seinen warmen, kleinen Körper normalerweise an sich drückt, heute ist es ihr auch ganz recht, wenn er nicht an ihr hängt wie eine Heizung mit Armen und Beinen.

Als Lucius mit zwei Schüsseln und einer Schale gewaschener und gestückelter Erdbeeren in den Raum kommt und sich ihr gegenübersetzt, rezitiert sie für Draco ein Gedicht, das sie früher anlässlich des 65. Geburtstags ihrer Großmutter Melania auswendig lernen musste. Stillschweigend bewundert Lucius ihren Vortrag und erzeugt einen kleinen Wirbelsturm, der durch das Zimmer kreist und für einen angenehmen Luftzug sorgt.

Sie nimmt ihre Schüssel und beginnt, das Eis zu löffeln. Draco spielt ungeschickt mit einem Stückchen Erdbeere. Für eine Rassel ist es immer noch zu früh, denkt sie, und sieht Lucius erwartungsvoll an.

„Musst du heute nicht noch arbeiten? Normalerweise bist du so früh doch nicht daheim.“

„Ja, ich habe noch genug zu tun, aber jetzt reden wir. Ich zweifle nämlich ganz stark daran, dass ich mich mit diesen… Entstellungen auf irgendetwas konzentrieren kann.“

„Furunkel, es sind Furunkel, mein Schatz.“

„Es war nicht in Ordnung, die Existenz von Xenophilius zu verschweigen. Verzeihst du mir?“

„Natürlich.“

„Wie großmütig. Zucker macht dich wirklich zu einem anderen Menschen.“

„Ich möchte über Mae sprechen.“

„Okay… da gibt es nicht viel zu sagen.“

„Das hast du so entschieden, ja. Und ich kann es nicht leiden, wenn du entscheidest, was ich wissen will oder wissen darf. Wenn ich über irgendetwas nichts wissen will – so wie über das Verschwinden von Regulus, dann frage ich nicht danach. Wobei, ich habe Bella danach gefragt. Sie ist mir eine Antwort schuldig geblieben. Also hätte es wohl keinen Sinn gehabt, dich auch noch mit meiner Neugierde zu behelligen. Aber Mae? Du hast mir gar keine Chance gegeben, nach Mae zu fragen. Du hast sie ja quasi totgeschwiegen.“

„Ich wollte nicht-“

„Stopp. An dem Punkt waren wir schon. Ich will mich aber mit dir darüber streiten. Ich will, dass du sie einlädst. Ich will sie kennenlernen. Wenn ihr Freunde seid, dann will ich sie kennenlernen. Du kennst schließlich auch all meine Freundinnen.“ Und das waren nicht besonders viele, eigentlich gab es nur Diana, aber darum ging es ja gerade nicht. „Wenn du sie gut leiden kannst, dann hat sie sicherlich liebenswerte Eigenschaften. Also warum sollte ich sie nicht mögen?“

„Ist das dein Ernst? Willst du das wirklich?“

„Selbstverständlich ist das mein Ernst. Ein ganzes Abendessen wäre mir gerade etwas viel, aber vielleicht könnte sie nächstes Wochenende mal in der Mittagszeit vorbeischauen. Es soll etwas kühler werden. Wir könnten ein Stündchen im Garten sitzen und plaudern.“

„Wenn du das wirklich möchtest.“ Narzissa weiß nicht, woher dieser Wunsch nun plötzlich kommt, doch sie will Mae kennenlernen. Ganz wirklich. Sie nimmt sich eine Erdbeere, spricht noch ein bisschen davon, wie grün es grünt, wenn Spaniens Blüten blühen und macht Lucius damit darauf aufmerksam, dass die Furunkel sich – anders als er – bereits verflüchtigen.

Chapter 28: Mae die Schreckliche

Chapter Text

28 – Mae die Schreckliche



Ihre Unzufriedenheit kannte keine Grenzen und sie war nah dran, sich ein bisschen ohnmächtig zu fühlen. Zwar rechnete sie nicht damit, den Boden unter den Füßen und das Bewusstsein zu verlieren, aber ihr war, als wäre sie nicht ganz da. In weniger als einer halben Stunde würde Mae in ihrer Küche landen. Lucius hatte sie eingeladen und natürlich hatte sie die Einladung angenommen. Welche Wahl hatte sie denn auch gehabt.

Bis vor wenigen Minuten war Narzissa noch davon überzeugt gewesen, dass sie sich auf diese Begegnung aufrichtig freute. Doch nun stand sie vor ihrem Kleiderschrank und fühlte sich langsam aber sicher ohnmächtig. Als Lucius den Kopf ins Zimmer steckte, da wäre sie am liebsten einfach im Schrank zwischen ihren Sommerkleidern, die sie heute alle nicht anlachten, verschwunden.

„Alles okay?“

„Nein.“

„Hast du nichts anzuziehen?“ Mittlerweile wohnten Lucius und sie so lange zusammen, dass er wusste, dass so eine textile Krise bei ihr nicht von irgendwoher kam. „Soll ich etwas aussuchen?“

„Ich bin nicht unentschlossen. Ich bin einfach… ich würde heute gerne besser aussehen.“

„Besser als… Mae?“ So eine Nachfrage war mutig von ihm, denn damit sagte er ja irgendwie, dass er Mae attraktiv fand. Dafür könnte sie ihm den Kopf abreißen – aber so viel Kraft hatte sie nicht übrig. Und falls ihre Erinnerungen sie nicht trogen, dann war Mae attraktiv. Auf eine relativ objektive Art.

„Nein, einfach besser. Ich bin nicht… in Form. Ich meine, schau mich doch mal an. Oder schau mich besser nicht an.“

„Ich schaue dich jeden Tag an.“ Verzweifelt betrachtet sie den blauen Rock, den sie immer mochte und der ihr heute kein bisschen gefällt. „Du bist wunderschön, Zissy. Und es wäre gruselig, wenn du genauso aussehen würdest wie vor einem Jahr.“ Er deutet auf einen Stapel mit frischer Wäsche, die sie noch nicht eingeräumt hat. „Was ist mit dem gelben Kleid? Das hast du vorgestern getragen.“

„Aber das steht mir doch überhaupt nicht. Ich trage es nur zuhause.“

„Du bist zuhause. Und ich finde, es steht dir.“ Lucius, der manchmal wirklich kurz angebunden sein kann, nimmt das Kleid vom Stapel und wirft es ihr zu. „Anziehen. Sofort.“

„Es ist viel zu kalt.“

„Dann zieh eine Strumpfhose an.“

„Zu einem Sommerkleid! Wie sieht das denn aus?“

„Weiß ich nicht. Zeig’s mir doch einfach mal.“ Um es nicht darauf ankommen zu lassen, dass er sie mit allen Wäschestücken in greifbarer Nähe abwirft, streift sie das Kleid über und sucht nach einer blickdichten Strumpfhose. Ihr Spiegelbild gefällt ihr nicht wesentlich besser oder schlechter als vorher. „Und jetzt mach die Türen vom Kleiderschrank zu und komm mit mir in die Küche.“

„Ich brauche noch eine Strickjacke…“ Quasi blindlings greift Lucius auf den Stapel neben sich und wirft ihr ein passendes Kleidungsstück zu. „Wenn das eine olympische Disziplin wäre…“

„Dann wäre ich besser im Training als irgendwer sonst. Jetzt komm schon weg vom Spiegel, du siehst gut aus. Glaub mir.“

Unwillig macht sie einen Schritt in seine Richtung und sobald er kann, schnappt er nach ihrem Handgelenk und zieht sie aus dem Zimmer. „Du bist militant.“

„Aus deinem Mund ist das nichts als ein Kompliment.“ Er drückt ihr einen Kuss auf die Lippen. „Kannst du mir versprechen, dass wir uns heute Abend nicht streiten?“

„Nein.“ Sie schenkt ihm ihr schönstes Lächeln, legt ihre Arme um seinen Hals und küsst ihn ebenfalls. „Aber ich werde mein Bestes tun.“

* * *



Mae Wallet ist ebenso groß gewachsen und schön wie Jahre zuvor – allerdings kann niemand mehr behaupten, dass sie in der Blüte ihrer Jugend steht und das beruhigt Narzissa ungemein. Nichts fand sie schlimmer als Frauen, deren Alter man nicht vernünftig einschätzen konnte.

Kaum hatte Lucius es geschafft, sie einander mit wenigen Worten vorzustellen, ertönte zwei Zimmer weiter ein durchdringendes Heulen. Draco. Narzissa war in Gedanken schon aus der Küche, aber Lucius legte seine Hände einen kurzen Moment beschwichtigend auf ihre Hüften. „Ich mach schon.“ Und so wurde sie in einem gelben Kleid mit einer Fremden alleine gelassen.

Mae hat einen sehr großen Mund und rot geschminkte Lippen, die sich zu einem abenteuerlichen, halbwegs echt aussehenden Lächeln verziehen. Sie streckt freundlich eine Hand aus und Narzissa schüttelt sie ohne darüber nachzudenken. „Es freut mich, dich endlich mal persönlich kennenzulernen. Ich hab schon viel von dir gehört.“ Das ist eine glatte Lüge, doch auf einmal muss sie an einen längst vergangenen Weihnachtsmorgen und die Worte von Rodolphus Lestrange denken. Manche Dinge macht man einfach, weil sie sich so gehören. Das solltest du doch eigentlich auch wissen, oder? Du bist schließlich fast erwachsen. Anscheinend war sie jetzt erwachsen. Sie tat nun Dinge, einfach weil es sich so gehörte.

„Und ich erst! Aber ich muss schon sagen, ich habe mir dich ganz anders vorgestellt.“ Mit ziemlicher Sicherheit konnte man ihr sehr genau ansehen, dass sie auf so eine Begrüßung eher empfindlich reagierte, denn Mae lächelte noch breiter. „Ich meinte nur, ich kenne deine Schwester – und ich habe angenommen, ihr würdet euch ähnlicher sehen.“

„Du kennst Bella?“

„Oh, ja. Rein beruflich, wir sind keine Freundinnen.“

„Das hätte mich auch gewundert.“ Nun war Mae diejenige, die ein wenig verkniffen dreinsah. „Meine Schwester hat einen sehr kleinen Freundeskreis – und es hätte mich erstaunt, wenn sie mir eine Freundin vorenthalten hätte.“ Das war schließlich schon die Spezialität von Lucius.

„Oh, ach so.“ Mae hat blaue Augen und trägt einen dazu passenden Rock, der über ihren Knien endet und sich eng an ihre schmale Figur schmiegt. Es fühlt sich fast schon wie ein Verbrechen an, dieser Frau etwas zu essen anzubieten. Oder überhaupt irgendetwas außer Leitungswasser und Pfefferminzbonbons. So schmal sind ihre Hüften vielleicht gewesen, als sie in die erste Klasse gekommen ist. Oder als sie noch jünger war. „Hör zu… ich weiß aus jahrelanger, bitterer Erfahrung, dass viele Frauen ein Problem mit mir haben. Sie fühlen sich von mir bedroht, halten mich für eine Aufreißerin, aber das stimmt nicht. Ich bin mit drei Brüdern aufgewachsen und doppelt so vielen Cousins. Ich komme mit Männern einfach grundlegend besser zurecht. Aber ich hoffe trotzdem, dass wir uns gut verstehen.“

„Man sagt ja über die Hoffnung, sie stürbe zuletzt.“ Mae zuckt nicht einmal mit der Wimper. Zieht man so einen Rock an, wenn man gemocht werden will? Von einer Frau, die vor nicht einmal drei Monaten ein Kind zur Welt gebracht hat und von festem Bindegewebe zwischen Knien und Hals nur träumen konnte? „Möchtest du etwas trinken? Ich habe Eistee vorbereitet.“ Streng genommen hat sie Kreacher dabei zugesehen, wie er Eistee zubereitet. Aber das konnte sie ja schlecht sagen. Sicherlich kam Mae aus einer Familie, die ebenfalls Hauselfen beschäftigte. Wenn sie zu vier Kindern gewesen waren. Die einzige magische Familie von dieser Größe, die – soweit sie wusste –  keine Hauselfen beschäftigte, waren die Weasleys. Doch das wusste sie auch nur, weil Lucius neulich im Nebensatz erwähnt hatte, dass Arthur Weasley einen ganzen Fahrstuhl mit Bildern seines neugeborenen, sechsten Sohnes unterhalten und dabei erwähnt hatte, dass es im Haus drunter und drüber ging.

„Oh, gerne. Es ist ja immer noch furchtbar warm… ich habe den Winter viel lieber.“

„Ich auch.“ Eigentlich hatte sie keine ganz pauschale Lieblingsjahreszeit, aber nach den letzten Tagen und der drückenden Wärme sehnte sie sich nach einem ordentlichen Novembernebel.

Mit einem lautlosen Zauberspruch lockte sie die Gläser aus dem Schrank und den Eistee aus der Kühlung hervor. Sie wollte nicht angeben, aber wann immer sie es konnte, dann versuchte sie ohne ihren Stab und ohne Stimme zu zaubern, um wenigstens nicht ganz die Übung zu verlieren.

Höflich bedankte Mae sich, probierte einen Schluck und versicherte ihr, es sei köstlich. Danach sah es ganz so aus, als müssten sie sich entscheiden, ob sie in unerquicklichen Smalltalk oder unbehagliches Schweigen verfallen, doch Lucius kehrte zurück – und trug obendrein Draco auf dem Arm, der nicht wie ein Baby aussah, das sehr bald schlafen wollte.

„Jemand hat beschlossen, seinen Mittagsschlaf heute zu verschieben…“ Mit den Lippen formte Lucius ein lautloses Tut mir leid in ihre Richtung, denn Draco konnte unerträglich knatschig werden, wenn er zu wenig Schlaf bekam. Für seine mittägliche Euphorie würden sie in drei bis vier Stunden, allerspätestens heute Abend, teuer bezahlen.

Doch zumindest stand Draco so im Mittelpunkt und riss Maes gesamte Aufmerksamkeit an sich. Es war ganz offensichtlich, dass Mae leicht zu begeistern war – und obendrein sehr erleichtert darüber war, sich nicht mehr mit Narzissa unter vier Augen auseinandersetzen zu müssen. Irgendwann schafften sie es sogar, sich hinzusetzen und auch, wenn es ihr immer noch schwer fiel, Draco aus der Hand zu geben, ließ sie zu, dass Mae ihn eine Weile hielt und mit ihrem Finger auf seine Nase stupste. Sie machte ihre Sache gut. Man konnte fast meinen, sie hätte Freundinnen mit Kindern.

„Du hast mir nie erzählt, wie ihr euch eigentlich genau kennengelernt habt.“ Dieser „Vorwurf“ ging natürlich an Lucius' Adresse, doch Mae riskierte einen Blick in ihre Richtung. Beinahe so als würde sie hoffen, dass Narzissa darauf ansprang und die Unterhaltung ein bisschen weniger einseitig wurde.

„In Hogwarts.“

„Oh!“ Maes Augen weiteten sich mit ehrlichem Erstaunen. „Dann seid ihr ja schon wirklich lange zusammen. Ich dachte immer, du würdest vielleicht auch im Ministerium arbeiten. Oder hättest dort ein Praktikum gemacht.“ Dachte sie das wirklich? Sprach Lucius so wenig von ihr? Und konnte eine Hexe, die immerhin eine ähnliche Ausbildung absolviert hatte wie Lucius, der einen festen Sitz in der Ministeriumsverwaltung hatte und deswegen Merlin und Morgana und jede Menschenseele dem Namen nach kannte, wirklich davon ausgehen, dass sie im Zaubereiministerium angestellt war? Oder dort eine Praktikantin gewesen war. Was sollte das überhaupt sein, eine Praktikantin? Eine praktische Person? Eine bessere Posteule?

„Ich habe studiert.“

„Oh, wie aufregend! Und jetzt, was machst du jetzt? Also was hast du vorher gemacht, jetzt hast du ja die Hände voll zu tun.“ Narzissa wusste, dass sich ihr Studium zwar nicht in die Länge gezogen hatte, aber die meisten Hexen und Zauberer davon ausgingen, dass man nicht wirklich sechseinhalb Jahre damit zubringen konnte, die Universität zu besuchen. Das war immerhin beinahe so lange wie die Zeit, die man in Hogwarts verbrachte.

„Ich habe im Frühling meinen Abschluss gemacht.“ Sie wusste, wie das für jemanden wie Mae klang. Eine Hexe, die auf eine steile Karriere bedacht war und es dabei immerhin schon ins Büro des Zaubereiministers höchstselbst geschafft hatte, konnte nur darüber lächeln, dass sie keinen Tag in ihrem Leben gearbeitet hatte. Für Mae musste es so aussehen, als wäre sie mit Absicht unmittelbar in dem Moment schwanger geworden, in dem sie nach einem Platz auf dem freien Markt für sich hätte suchen müssen.

„Wie passend.“ Mit einem Mal sah Maes Lächeln sehr mühsam aus. „Aber Lucius verdient ja auch genug. Und um Galleonen müsst ihr euch wohl sowieso keine Sorgen machen.“ Endlich wusste Narzissa, was es war, das ihr an dem Lächeln, an der gesamten Mimik von Mae so übel auffiel. Das war Verachtung. Diese Frau, die an ihrem Esstisch saß, verachtete sie aus tiefstem Herzen.

Wie konnte Lucius das entgehen? Sie warf einen Blick nach links. Er wippte ein bisschen mit seinem Bein und belustigte damit Draco, der ein müdes und ein hellwaches Auge hatte. Das würde ein schlimmer Abend werden. Er bemerkte ihren Blick, doch es war offensichtlich, dass er ihnen nur mit einem Ohr zugehört hatte. Wenn überhaupt.

„Ich glaube, ich wage noch einen zweiten Versuch, ihn ins Bett zu bringen.“ Entschieden stand sie auf, nahm Draco hoch und war froh, dass sie bereits hörte, wie Mae etwas sagte, als sie über die Türschwelle in das Schlafzimmer trat.

Draco war ungewohnt bockig und ihr Hals fühlte sich nach dem dritten Schlaflied ganz ausgetrocknet an. Gedankenverloren streichelte sie seine Wange, zog an seinem Ohrläppchen und deckte ihn beharrlich zu, obwohl er sich immer wieder freistrampelte und dabei fröhlich quietschte.

„Ich wünschte, wir könnten tauschen. Ich würde für dich deinen Mittagsschlaf machen und du würdest da rausgehen und hinreißend zu dieser Schnepfe sein.“ Draco streckte suchend seine kleine Hand nach ihr aus und sie fühlte sich direkt ein bisschen getröstet. Auch wenn es natürlich lächerlich war zu glauben, dass ein acht Wochen altes Wesen genug Verstand hatte, um diese ebenso unangenehme wie komplexe Situation zu begreifen.

Es war ihr schleierhaft, wie viel Zeit vergangen war, bis Dracos Augen plötzlich ganz wie von selbst zugefallen waren. Mit seinen Fingern hielt er noch immer schwach ihren Daumen umklammert – ihr Daumen war mit Abstand sein Lieblingsfinger. Schließlich löste sich auch sein Griff und sie deckte ihn vorsichtig, fast reumütig zu. Sie hätte gar nichts dagegen gehabt, sich sein Gebrabbel noch ein bisschen anzuhören oder noch ein Lied zu singen.

Kaum hatte sie die Küche betreten, wurde es still, doch Lucius bemühte sich, das Gespräch nicht verebben zu lassen. Es ging um irgendeine Entscheidung, mit der sich der Zaubergamot quälte. Sie schenkte sich eigenhändig ein Glas Eistee ein und leerte es in einem Zug. Der Zucker schmerzte ihr in den Zähnen. Kreacher hatte es ein bisschen zu gut gemeint, doch die Hauselfe kannte sie. Er wusste eben, dass es ihr nur ganz selten zu süß war.

„Schläft er?“

„Wie ein kleiner Stein.“ Ganz automatisch lächelte Narzissa. Im Gegenzug dafür räusperte Mae sich und es war mehr als offensichtlich, was sie als Nächstes sagen würde.

„Es ist wirklich ganz reizend bei euch und ich würde so gerne noch ein wenig länger bleiben, aber Harold hat mir heute Morgen eine Eule geschickt und um meine Anwesenheit bei einem Termin gebeten. Ich muss vorher noch einige Akten durchgehen und die Zeit vergeht ja wie im Fluge.“ Sie steht so rasch auf, dass der Stuhl ein unangenehmes Knarzen von sich gibt. „Narzissa, es war mir wirklich eine große Freude, dich und Draco kennenzulernen.“

„Die Freude war ganz meinerseits. Vielleicht haben wir ja beim nächsten Mal mehr Zeit.“

„Ganz bestimmt.“ Mae war eine gute Lügnerin. Sicher war das eine Voraussetzung, um es in der Welt der Politiker und Bürokraten zu etwas zu bringen. Zum zweiten Mal gaben sie sich die Hand und sie meinte, in den blauen Augen von Mae Wallet so etwas wie Erleichterung zu erkennen. Darüber, dass die kurze Stippvisite so glimpflich über die Bühne gegangen war? Hatte sie irgendwelche Befürchtungen gehabt, als Lucius die Einladung ausgesprochen hatte? Hatte sie einen Giftmord erwartet?

Unter großen Abschiedsformeln und unernsten Versprechungen darüber, dass man sich bald wiedersehen würde, stieg Mae in den Kamin und verschwand in den grünen Flammen. Lucius und sie sagten beide für einen Augenblick gar nichts, dann wandte Lucius sich an sie.

„Das war doch gar nicht so schrecklich – oder hab ich etwas übersehen?“

„Oh, ich finde sie schrecklich. Und ich bin mir sicher, das beruht auf Gegenseitigkeit.“ Lucius hob fragend die Augenbrauen. „In diesem Leben werden wir keine Freundinnen mehr, wohl auch keine guten Bekannten, aber das ist… okay. Dafür hat sie sowieso keine Zeit. Ihr Land braucht sie.“

„Sie nimmt ihren Job eben sehr ernst.“

„Und das ist ja auch richtig so. Wenn man so eine wichtige Arbeit macht wie sie… für Harold. Sie hat den Zaubereiminister wirklich Harold genannt. Ein Wunder, dass sie nicht gleich Harry gesagt hat.“

„Soweit ich weiß, zieht Mr. Minchum es vor, bei seinem vollständigen Vornamen genannt zu werden.“ Soweit Lucius es wusste. Auf einmal ging Narzissa ein Licht auf – und das ganze Gewese um Mae Wallet sah auf einmal weniger wie Geheimniskrämerei und mehr wie ein listiges Unterfangen aus.

„Lucius?“

„Ja?“

„Kann es sein, dass du Mae auch schrecklich findest?“  Sie erinnerte sich daran, wie er auf Durchzug geschaltet und lieber mit Draco gespielt hatte, als über irgendwelche beruflichen Angelegenheiten zu reden. Ertappt – und zugleich irgendwie froh – beißt er sich auf die Unterlippe. „Kann es sein, dass Mae dir einfach nur nützlich ist… nur für den Fall, dass es eines Tages mal von Wichtigkeit ist, dass der Zaubereiminister eine gute Meinung von dir hat?“

„So war es nicht immer… ich finde sie wirklich nett. Aber sie… sie nimmt sich immer so wichtig. Auf die Dauer ist das doch ein wenig… ermüdend.“ Am liebsten würde sie ihm um den Hals fallen, weil er so ein berechnender Mistkerl war. Und weil es niemanden gab, der sich daran stören konnte, tat sie genau das.

* * *



Narzissa weiß nicht, wie es ihnen gelungen ist, sich nicht an dem Mae-Thema abzuarbeiten und doch irgendwie einen harmonischen Abend miteinander und mit einem überraschend friedfertigen Draco zu verbringen. Es fühlt sich alles ungewöhnlich leicht an – selbst sie kommt sich leicht vor, obwohl sie genau weiß, dass sie so schwer ist wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Die letzten sechs Monate einmal ausgenommen.

Ihre eigene Ausgelassenheit irritiert sie und sie staunt darüber, wie sehr es ihr gefehlt hat, Lucius einfach nur zu küssen um des Küssens Willen. Und nicht weil irgendjemand nach Hause kommt, das Haus verlässt oder es einfach gerade so passt. Draco hat sich ins Land der Träume begeben und Narzissa fühlt sie selbst ein wenig so als würde sie träumen, sich um Jahre zurückträumen, als sie auf dem Bett sitzen, Lucius sie auf seinen Schoß zieht und sie an nichts denken kann außer daran, wie weich sein Mund ist. Und wie wenig sich manche Dinge doch ändern.

Wie eine ganz elende Spielverderberin fühlt sie sich, als seine Hand unter den Saum ihres Kleides gleitet und sie sein Handgelenk packt, um ihn aufzuhalten. Es ist als wäre sie wieder in der sechsten Klasse und als gäbe es unausgesprochene Regeln, die es unmöglich machten, sich einfach so auf jemanden einzulassen. Bedächtig löst sie sich von ihm und sieht keinen Jugendlichen vor sich, sondern einen Erwachsenen. Natürlich, sie sind erwachsen, sie sind verheiratet, sie sind Eltern, aber deswegen kann sich das hier trotzdem falsch anfühlen. Ihr ist bewusst, dass sie sich den ganzen Tag über anhänglich gegeben hat, aber ein guter Tag, einmal Sonnenschein, machte noch lange nicht all die mittelprächtigen und düsteren Wochen wett, die sie seit dem Anfang des Jahres hinter sich gebracht hatten.

„Ich möchte nicht… ich… ich fühle mich noch nicht bereit.“ Seit Draco da ist, haben sie noch nicht wieder miteinander geschlafen. Anfangs hat es sich ganz unmöglich angefühlt und auch, wenn sie sich mittlerweile sicher ist, dass es ihr nicht wehtun würde, sträubt sie sich doch dagegen. Es kommt ihr so entsetzlich intim vor. So brutal. Dabei kann sie nicht einmal behaupten, dass sie keine Lust hätte…doch irgendetwas hindert sie. Und sie war eigentlich gar nicht unglücklich darüber, dass sie das Thema bisher noch nicht in epischer Länge und Breite ausdiskutiert hatten.

„Hast du… irgendwelche Schmerzen?“ Wenn sie sich vorstellt, dass ihre eigenen Eltern jemals so ein Gespräch geführt haben könnten, dann wird ihr ganz anders. Dann gerät ihre Imaginationskraft an ihre Grenzen. Vermutlich gab es so eine Unterhaltung auch nie. Liebevoll rückt Lucius sie auf seinem Schoß zurecht und seine Hand liegt, ganz gesittet, auf ihrem Oberschenkel. Über dem Kleid.

„Nein, das nicht, aber… ich möchte einfach noch nicht.“

„Okay. Das ist… das muss ich dann hinnehmen.“ Man kann ihm richtig anmerken, dass er sich auf keinen Fall wie ein Idiot verhalten will. Er will das Richtige sagen und das Richtige tun – und zugleich kann sie ihm ansehen, dass der strategische Teil seines Denkapparats auf Hochtouren läuft. „Ich will jetzt nicht taktlos sein, aber gibt es irgendeine Prognose, wann du dir wieder vorstellen könntest…“ Er ist vorsichtig mit seinen Formulierungen und darüber kann sie wirklich nur lachen. Ist es das Licht oder errötet er wirklich? „Ich komme mir vor wie ein geifernder, alter Sack, wenn ich das sage, aber es ist ja schon eine Weile her. Es fehlt mir. Du fehlst mir.“ Es ist eigentlich überhaupt nicht witzig, doch sie muss sich ein albernes Kichern verbeißen. Ist das die Art, wie sie verdrängt? Lacht sie, damit sie nicht daran denken muss, dass sie nicht mehr miteinander geschlafen haben, seit der mächtige, schwarze Drache am Himmel verschwunden ist und sie an gar nichts denken wollte? „Lachst du mich gerade aus?“

„Nein, nein! Ich lache dich nicht aus.“ Sie bemüht sich um eine ernste Miene – und das fällt ihr plötzlich gar nicht mehr so schwer, weil er wirklich verletzt klingt. „Ich will dich auch nicht kränken, ich bin nur… ich bin verwirrt.“

„Wovon?“ Forschend sieht er sie an und sie rutscht ein bisschen von seinem Schoß auf das Bett, lässt aber ihre Beine auf seinen liegen. Ein bisschen Abstand, aber nicht zu viel.

„Ich weiß es gar nicht so genau… vielleicht weil es keinen Tag mehr gab, der nur uns gehört hat, seit…“ Sie will seinen Namen sagen. Wirklich. Sie will nicht, dass es unsagbar wird. Wenn etwas erst einmal unaussprechlich ist, dann ist es aus und vorbei. Kurz sieht es so aus, als wollte Lucius ihr ins Wort fallen, ihren eigenen Satz für sie beenden, doch dann entscheidet er sich dagegen, streichelt nur sanft über ihr Knie und wartet ab. „Seit Caradoc Dearborn. Ich denke jeden Tag daran, dass wir ihn nicht einmal richtig beerdigt haben. Was ist mit seinen Eltern? Vielleicht hatte er auch Kinder? Wir haben ihnen keine Chance gegeben, sich von ihm zu verabschieden. Er wurde ja nicht einmal offiziell für tot erklärt.“

„Willst du es ihnen sagen?“

„Und uns einen Freifahrtschein nach Askaban sichern, damit Draco im schlimmsten Fall von meiner Schwester aufgezogen wird und im besten Fall von deinem Vater? Selbstverständlich nicht. Ich wünschte nur, ich wüsste, dass er ein schlechter Mensch gewesen ist. Ein verbiesterter Kerl, der Anderen nur das Leben schwer gemacht hat.“

„Er war nicht verheiratet. Falls dir das ein Trost ist. Soweit ich weiß, war er ein ziemlicher Einzelgänger… hat sich auf Drachen besser verstanden als auf Menschen. Eine Mutter und einen Vater wird er wohl gehabt haben, aber keine eigene… Familie.“ Nicht so wie sie. In dem Leben von Caradoc Dearborn gab es keinen Draco. Aber war das wirklich Entschuldigung genug? „Wir hatten keine Wahl.“

Du hattest keine Wahl, Lucius. Ich hätte… ich hätte gehen können. Aber ich konnte nicht, weil ich dich so liebe und weil ich es nicht ertragen könnte, allein mit Draco auf der Welt zu sein.“ Gerade kann sie ihn nicht einmal ansehen. Sie kann es einfach nicht. Obwohl sie sein Gesicht genau vor sich sieht. Sein graues, verzweifeltes Gesicht. Das Gesicht eines Mannes, der eine lebenswichtige Aufgabe nicht lösen kann. „Das werfe ich mir vor. Ich wünschte, ich wäre nicht so schwach.“

„Du bist alles andere als schwach, Zissy. Ich wünschte, ich hätte einen Zeitumkehrer, dann würde ich-“

„Alles anders machen? Es gab keine Alternativen. Keine sicheren Alternativen.“

„Ich hätte es selber tun müssen. Ich hätte dich da nicht mit reinziehen dürfen, ich habe… ich habe die ganze Zeit über so gehofft, dass es nichts zwischen uns geändert hat – wenigstens nicht für immer, aber ich hätte es besser wissen müssen. So etwas… es ist unverzeihlich.“

„Stimmt.“ Sie lehnt sich an ihn und ist froh, als er beide Arme um sie schlingt und ganz fest an sich zieht. „Immerhin sind wir beide keine Künstler. Ich mag gar nicht wissen, was Bella und ihre kreative Ader aus so einer Situation gemacht hätten.“ Lucius verzieht das Gesicht und sie ahnt, dass er ihr das ganz genau beschreiben könnte. „Sag bitte nichts, ja?“

„Okay.“ Andächtig küsst er sie auf den Mund und löst sich gleich wieder von ihr, auch wenn sie den Kuss erwidert. Das war der beste Teil des Tages. Der Teil, in dem sie nicht miteinander gesprochen haben. Sie macht ein fragendes Geräusch und versucht, ihn wieder zu küssen, doch er weicht ihr aus. „Vielleicht schlafen wir einfach und verbuchen den Tag als erfolgreich überstanden?“

„Von mir aus.“ Sie weiß, dass er sie nicht abweist, weil er sie nicht küssen will, sondern weil er die Situation vermutlich ganz anders empfindet als sie. Egal wie nah sie einander stehen und wie gut sie sich kennen, sie wird niemals wissen, wie es ist, in seiner Haut zu stecken – und umgekehrt. Sie wird nie seine Gedanken lesen können. Und sie wird auch nie wissen, wie es sich anfühlt, wenn man erregt ist und es nicht verstecken kann.

Rücksichtsvoll steht sie auf, verschwindet im Badezimmer und wählt ein weit geschnittenes Oberteil und eine kurze Stoffhose, die mit kindlichen Punkten bedruckt und dementsprechend wirklich nicht besonders reizend ist. Lucius schmunzelt über diese Maßnahmen und geht seinerseits ins Bad, während sie noch einmal nach Draco schaut, der selig schläft und sich auch nicht davon stören lässt, dass sie über den hellen Flaum auf seinem Köpfchen streichelt.

Manchmal, wenn sie Draco ansieht, fühlt es sich so an, als würde ihr Herz platzen. Dann würde sie ihn am liebsten an sich drücken und ihn nie wieder loslassen, doch sie weiß, dass das nicht geht. Dass man Babys auch zu fest drücken, erdrücken, kann. Es kommt ihr völlig irrational vor, dass sie einen Menschen so sehr lieben kann, der noch kein Wort spricht. Der noch nie etwas zu ihr gesagt hat. Der wahrscheinlich rein gar nichts von dem versteht, was sie ihm den lieben langen Tag erzählt. Sie dachte immer, darauf würde es ankommen. Man liebt jemanden, weil man ihn versteht – und verstanden wird. Oder weil man sich schon sehr lange kennt, weil man sich immer schon kennt. Andromeda und Bella sind ihre Familie und das bedeutet für Narzissa, dass es ein Leben ohne die beiden für sie nie gab. Das ist der Grund dafür, dass sie ihre Schwestern liebt – immer noch, auch wenn es dafür in den letzten Jahren keine rationalen Gründe gab. Lucius ist ihre Familie, weil sie sich für ihn entschieden hat. Das war ein, nicht unbedingt vernunftgeleiteter, aber doch ein bewusster Prozess. Aber Draco war plötzlich einfach da. Sie kennt ihn seit wenigen Wochen, vor einem Jahr wusste sie noch nicht einmal, dass er existieren würde – und doch, wenn sie jemand fragen würde, wen sie auf der Welt bedingungslos liebt, dann wäre es Draco. Ihr Draco. Dieser kleine Teil von ihr, der auf einmal in seinem eigenen Bettchen lag, seine eigenen Träume hatte und gar nicht wusste, wie verrückt sie sich fühlte. Dass ihr Herz vielleicht jede Sekunde platzen würde.

Ihre Augen werden ganz feucht und ehe sie sich weiter ihren wirren Gedanken hingibt, wendet sie sich von Dracos Wiege ab und schickt ein ungläubiges Stoßgebet zum Himmel. In Richtung von Caradoc Dearborn. Vielleicht versteht er es ja. Vielleicht sitzt er auf einer Wolke und hat tiefes Verständnis dafür, dass sein Leben ihr weniger wichtig war als Dracos.

Als sie sich unter die Decke gekuschelt hat, die am letzten Wochenende noch viel zu warm und schwer gewesen ist, kommt Lucius ins Zimmer. Kaum hat er sich neben sie gelegt, schmiegt sie sich an ihn und legt ihren Kopf auf seiner Brust ab. Er zuckt zusammen.

„Zu nah?“ Es klingt, als würde sie nuscheln, wenn sie so in den Stoff seines Oberteils hineinspricht.

„Ach was.“ Es ist schwer, sich über so beschwingten Sarkasmus nicht zu freuen und sie fährt mit ihren Fingern über seinen Bauch.

„Ich kann dir auch eine Hand leihen. Steht dir zur freien Verfügung.“

„Wann hab ich dir zuletzt gesagt, dass du mich mindestens zehn Jahres meines Lebens kostest?“ Sie kann einfach nicht widerstehen und drückt einen Kuss auf seinen Hals. Er hält die Luft an. „Mindestens.“

„Es war ja nur ein Angebot.“

„Sehr großzügig, danke.“ Es wäre Irrsinn, anzunehmen, dass er sich in den letzten Wochen kein einziges Mal selbst angefasst hatte, doch darüber sprachen sie eigentlich nie. Dabei war ja gar nichts dabei und wenn er sie fragen würde, dann würde sie ja auch nicht lügen und behaupten, sich nicht berührt zu haben. Doch sie war eigentlich immer nur zuhause, er wusste zwar, wo sie den ganzen Tag war, doch nicht, was sie tat. Sie hingegen hatte ja eine sehr genaue Vorstellung davon, was er tat, wenn er dann einmal nicht im Ministerium war. Und vielleicht hatte sie doch irgendwie darauf geachtet, ob er mal etwas länger im Badezimmer verschwand oder ob sie irgendwie seine Erregung spürte, wenn er neben ihr lag und sie im Halbschlaf an sich zog. Im Grunde genommen war es ein Wunder, dass sie bisher nicht in eine derartige Situation geraten waren. „Zissy.“ Er biss die Zähne aufeinander und sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie mit ihrer Hand ein Stück abgerutscht war.

„Schon gut… gute Nacht.“ Sie küsste noch einmal seinen Hals und drehte sich dann um. Er stöhnte gequält auf und nun spürt sie ganz deutlich, wie sich etwas Hartes gegen ihre Rückseite drückte.

„Es wäre schön, wenn du dich ein bisschen weniger gegensätzlich verhalten könntest.“ Wortlos streckte sie ihre Hand nach hinten und übergab sie ihm wie man ein Buch oder eine Galleone aushändigte. Vollkommen unaufgeregt.

„Zur freien Verfügung.“

Chapter 29: T.M. Riddle

Chapter Text

29 – T.M. Riddle



Lucius' Stimme muss durch das halbe Haus geschallt sein, doch sie bemerkt ihn erst, als er auf der Treppe steht, die hoch zu ihrem Teil von Malfoy Manor führt. Mit gerunzelter Stirn betrachtet er die kleine Versammlung auf dem Boden des Salons.

Diana und sie haben sich auf den Teppich gesetzt, mit Sofakissen an das Sofa angelehnt und einen kleinen, sicheren magischen Kreis um Gregory und Draco gebastelt. Die beiden tragen keine Papierhüte, Diana hat stattdessen Bommelmützen mitgebracht, die im Juni eigentlich nicht mehr angebracht sind. Doch an Gregorys erstem Geburtstag hat Narzissa ihm eine Mütze geschenkt – und nun hat Diana mit einem ähnlich bunten, vergleichsweise selbstgemacht aussehendem Exemplar aufgewartet. Und Gregory obendrein die geschenkte Mütze aufgesetzt, die nun schon ein wenig zu klein aussah, obwohl sie im Herbst noch gerutscht war.

Draco und Gregory waren noch nicht in einem Alter, in dem sie wirklich viel miteinander anzufangen wussten, doch sie zankten auch nicht, sondern spielten friedlich nebeneinander. Es war faszinierend zu sehen, wie sicher Gregory auf seinen kurzen, stämmigen Beinen bereits laufen konnte, während Draco noch nicht besonders viel davon hielt, sich anders als krabbelnd zu bewegen. Dafür gab es in seinem Gebrabbel immer wieder Passagen, in denen ganze Wörter sinnvoll aneinandergereiht zu sein schienen. Gregory hingegen war schweigsam – und das war tückisch, denn so war er einige Male von ihnen unbeobachtet fast bis zur halboffenen Terrassentür gelaufen. Der magische Kreis, der verhindert, dass irgendjemand von ihnen einfach so weggehen kann, ist eine logische Konsequenz dieses Fluchtversuchs. Sie haben sich vorgenommen, mit den beiden in den Garten zu gehen, doch es ist eine Ewigkeit her, dass Diana und sie sich so richtig gesprochen haben und obwohl es wohl schändlich ist, ist Draco an seinem eigenen Geburtstag nicht das Hauptgesprächsthema.

Stehend wirkt Lucius beinahe riesig – ebenso wie das Buch, das er fest in der Hand hält. Sie nickt in Richtung des dunklen Einbands. „Ein Buch? Meinst du nicht, dafür ist es noch ein bisschen früh?“

„Oh, das ist nicht… das ist kein Geschenk, ich wollte nur… Hallo, Diana.“

„Hallo Lucius.“ Es musste auch für Diana eine Überraschung sein, dass Lucius so nervös war. Wenn er anfing, Halbsätze zu bilden, war es immer kritisch. Dann war etwas im Busch. Er guckte, als würde er das Buch am liebsten hinter seinem Rücken verstecken.

„Tut mir leid, ich habe… ich habe ganz vergessen, dass du heute hier bist und ich wollte… Zissy, kannst du wohl kurz mit nach oben kommen?“ Sie warf Diana einen fragenden Blick zu, doch die nickte bereits.

„Geh nur, ich habe ein Auge auf die beiden.“

Als sie Lucius die Treppe hinauf folgte, war sie fast schon ein wenig neugierig. Kaum war die Tür zu dem Flur, der geradewegs in die Küche führte, hinter ihnen geschlossen, blieb er stehen und reichte ihr das Buch.

„Wonach sieht das für dich aus?“ Sie blätterte den Buchdeckel auf und blickte auf eine etwas vergilbte, aber gänzlich leere Seite. Rasch sah sie nach, ob überhaupt irgendetwas in den Buch gedruckt war, doch da war nichts. Bei genauerem Hinsehen bemerkte sie verblasste Ziffern. Es schien ein Taschenkalender zu sein, der nie benutzt worden war. Und der obendrein schon sehr lange nicht mehr aktuell war. Mit zusammengekniffenen Augen konnte sie eine Jahreszahl ausmachen. 1943. Das war eine ganz schöne Hausnummer. Sie schnupperte daran, doch das Buch hatte auch keinen besonderen Geruch an sich. Wenn überhaupt, dann roch es nach… Muggel.

„Ein Taschenkalender. Aus einem ganz normalen Schreibwarengeschäft. Fast vierzig Jahre alt. Ich hoffe, du hast kein Geld dafür bezahlt?“ Sie hätte erwartet, dass Lucius wenigstens schmunzeln würde, doch er verzog keine Miene und schüttelte den Kopf. Auf einmal würde sie das Buch am liebsten loslassen. Von sich fort werfen.

„Es wurde mir anvertraut. Zur Aufbewahrung. Von… von ihm. Höchstpersönlich. Es scheint ihm sehr wichtig zu sein und ich weiß nicht, warum ausgerechnet ich es bekommen habe. Vermutlich eine Prüfung. Eine Absicherung, damit bei mir belastendes Material zu finden ist… im Falle einer Hausdurchsuchung.“ Im Falle einer Hausdurchsuchung – in solchen Dimensionen dachten sie also neuerdings? Das war ja herrlich.

„Lucius, heute ist der Geburtstag deines Sohnes… warum bringst du ausgerechnet heute so etwas mit?“

„Weil ich es gerade erst bekommen habe. Ich war nur kurz im Büro, um das Nötigste zu erledigen, damit ich nachmittags hier bin für die… na ja, die „Party“. Als ich gerade gehen wollte, hat das Mal gebrannt. Ich bin sofort zu ihm gegangen. Es war ganz eigenartig, er war… alleine. Im Haus deiner Schwester. Scheinbar hat er sich dort eingenistet, aber weder Bella, noch Rodolphus oder Rabastan habe ich gesehen. Es war eine sehr kurze Unterredung. Er hat kaum etwas preisgeben, aber immer wieder betont, dass es sehr wichtig sei. Ich sollte mit dem Tagebuch nichts tun. Er würde es von mir zum gegebenen Zeitpunkt zurückverlangen. Ich soll… ich soll mit niemandem darüber sprechen, das war ihm auch wichtig – aber er hat gleich gesagt, dass das für dich natürlich nicht gilt. Aber ich darf es nur dir gegenüber erwähnen.“

„Und das war alles? Er hat nicht gesagt… was es ist?“

„Nein.“ Ein finsterer Gedanke trieb an die Oberfläche ihres Bewusstseins, doch ehe sie ihn zu fassen bekam, zerplatzte er wie eine Seifenblase. „Mir wäre wohler dabei zumute, wenn du es überprüfen würdest. Auf jegliche magische Einwirkungen oder… Spuren… wäre das möglich?“

„Jetzt sofort?“

„So bald wie möglich. Und wenn nichts damit ist, dann stellen wir es einfach in irgendein Regal und vergessen, dass es existiert.“

„Bis er es zurückverlangt.“ Der Einband fühlte sich unter ihren Fingern mit einem Mal speckig, fast klebrig an, doch das musste daran liegen, dass ihre Hände angefangen hatten, zu schwitzen. „Okay. Ich probiere ein paar Zauber aus. Geh du nach unten… leiste Diana Gesellschaft. Und sei nett, falls dein Vater sich dazugesellt hat.“

„Er ist hier? Muss er nicht arbeiten?!“

„Nein, er ist vor ungefähr einer Stunde nach Hause gekommen. Kurz bevor Diana eingetroffen ist. Deswegen sitzen wir auch unten. Er hat Dobby beauftragt, einen Kuchen zu backen. Wir wollten damit auf dich warten.“ Die Erwähnung von Kuchen entlockt ihm zumindest ein schwaches Lächeln. „Geh schon. Ich beeile mich.“

„Sei lieber sorgfältig… ich trau der Sache nicht.“ Sie auch nicht. Nachdem sie noch einmal eindringlich in Richtung der Tür hinter sich geblickt hatte, ging Lucius nach unten. Um ein wenig Abstand zu kriegen – nur für den Fall, dass es laut werden würde – stieg sie die Treppen hinauf in das obere Stockwerk. Dort legte sie den Taschenkalender am Ende des Flurs auf den Boden.

Es brauchte nicht wenige Enthüllungszauber, um festzustellen, dass das Buch vielleicht nach Muggel roch, aber voller Magie stecken musste. Voller sehr ausgeklügelter Magie. Sie probierte ein Dutzend verschiedener Zauber aus und überprüfte jedes Mal, ob irgendeine verborgene Schrift erschien oder sich ihr plötzlich der Sinn des Buches erschloss. Aus lauter Verzweiflung feuerte sie schließlich einen Flammenzauber auf das Objekt ab.

Das war natürlich sehr gewagt – denn was würde der dunkle Lord sagen, wenn sie einen scheinbar vollkommen wertlosen, aber dennoch einen Gegenstand aus seinem Besitz beschädigen oder gar zerstören würde? Die Strafe für… Sachbeschädigung, die war ihr nicht bekannt. Doch es passierte, genau wie sie es erwartet hatte, nichts. Fast nichts zumindest. Das Buch war mit einem Mal in der Mitte aufgeschlagen und sie glaubte, einer Halluzination zu erliegen, als sie auf einmal drei Wörter in einer verschlungenen, aber doch gut lesbaren Handschrift erkannte.

Netter Versuch, Narzissa.

Das konnte doch nicht wahr sein. Dieser Taschenkalender machte sich über ihre Bemühungen lustig? War das am Ende der dunkle Lord selbst, der sich da ganz köstlich über ihre Zaubertricks amüsierte? Und woher wusste der Kalender überhaupt, mit wem er es zu tun hatte? War es eine Vermutung, weil der dunkle Lord um ihr Studium wusste und deshalb annahm, dass Lucius es ihr überlassen würde, das Buch zu traktieren? Oder war dieses Buch am Ende so ordentlich verzaubert worden, dass es erkennen konnte, wer es angriff? Waren die magischen Spuren, die ihre verschiedenen Zaubersprüche hinterlassen hatten, so stark? Oder war das Buch doch so gut? Oder hatte das Buch kleine Ohren, die sie übersehen hatte?

„Hörst du mich?“

Nichts geschah. Die Schrift verblasste und als sie das Buch in die Hand nahm, rechnete sie schon irgendwie mit einer Reaktion, aber da kam nichts. Gewissenhaft schloss sie es und schlug noch einmal die erste Seite auf. Ihr klappte beinahe der Mund auf, als sie die blasse Tinte sah. Sie war sich ganz sicher, dass der Einband vorher noch ganz leer gewesen war. Eine blanke, unberührte Seite. Konnte es wirklich sein, dass ihre Zauber etwas bewirkt hatten – oder tat das Tagebuch, was es sollte?

T.M. Riddle. Das waren Initialen. Vom Eigentümer? Oder konnte es sein… die Eltern, die ihr Baby Lord nannten, kamen ihr wieder in den Sinn. Konnte es sein, dass T.M. Riddle der Name von Lord Voldemort war? Sie erinnerte sich noch lebhaft daran, wie ihre Schwester versucht hatte, sich damit interessant zu machen, dass sie seinen Vornamen kannte. T. Es musste tausende von Namen geben, die mit diesem Buchstaben anfingen. Doch warum interessierte sie das eigentlich? Wenn sie es mit dem Taschenkalender eines Mannes namens T.M. Riddle zu tun hatte, dann war das eben so. Darum ging es ja gar nicht. Dieser Kalender war ganz eindeutig verzaubert – und wenn es die Kombination von mehr als zehn Enthüllungszaubern gebraucht hatte, damit sie lächerliche acht Buchstaben zu sehen bekam, was musste dann passieren, damit sie den gesamten Inhalt des Buches sehen konnte? Aber sie wollte ja überhaupt nicht wissen, was der Kalender verbarg. Wichtig war eigentlich nur, dass er nicht gefährlich war. Und auch, wenn ihr der Gegenstand nicht unbedingt geheuer war, bislang hatte er nichts von alleine getan. Sie hatte einzelne Wörter förmlich aus ihm herauspeitschen müssen.

Sie schloss das Buch wieder. T.M. Riddle. Wenn T.M. Riddle ihnen eins auswischen wollte, indem er ihnen dieses „Geschenk“ machte, dann würden sie das nicht verhindern können. Sie würde Lucius sagen, dass nichts an dem Buch darauf hinwies, dass eine akute Gefahr davon ausging. Ein Stück schwarze Magie, das war es und in diesem Punkt würde sie nicht lügen. Doch sie würde nicht erwähnen, dass der Taschenkalender ihren Namen kannte. Sie würden ihn einschließen. Ab und an nach ihm sehen. Sicherstellen, dass er sich nicht bewegt hatte. Und irgendwann würden sie vergessen, dass er existierte. So wie Lucius gesagt hatte.

Sie geht in das Kinderzimmer von Xenophilius und schiebt den Taschenkalender ganz hinten auf ein leeres Regalbrett. Sodass er die Rückwand und die Seite berührte. Wenn er sich bewegte, dann würde sie es sehen. Nachdem sie sich noch einmal vergewissert hatte, dass das Buch dort lag, ging sie wieder nach unten.

Es war zum Staunen. Diana saß noch immer auf dem Boden. Lucius hatte neben ihr Platz genommen – und sah wunderbar verkehrt aus, wie er da auf dem Boden saß und immer noch das Hemd trug, das er für den Abstecher ins Büro ausgewählt hatte. Auf dem Sofa, neben dem Stapel seiner geliebten Zeitungen, hatte Abraxas sich eingerichtet. Schon aus der Ferne konnte sie hören, wie er Diana Löcher in den Bauch fragte. Über Gregory.

Als sie sich neben Draco niederließ, der in Gedanken versunken einen brandneuen Kreisel betastete und über den Teppich wirbelte, erkundigte sich Abraxas danach, wie es Dianas Mutter ging. Es überraschte sie, wie still es – trotz zwei Kleinkindern – im Salon wurde. Diana räusperte sich.

„Sie ist im Frühjahr verstorben.“ Das hatte Narzissa nicht gewusst. Dabei kannte sie die Mutter von Diana sogar flüchtig.

„Oh, mein herzliches Beileid. Ich wünschte, ich hätte nicht gefragt… aber es gab gar keine Anzeige im „Tagespropheten“, oder?“ Es würde Abraxas sicherlich in seiner Ehre kränken, wenn ihm die Todesanzeige einer ihm bekannten Person entgangen war. Kaum einen Teil der Zeitung las er so sorgfältig.

„Nein, es gab keine Anzeige. Meine Mutter war keine sehr begeisterte Leserin der britischen Presse. Sie hat sich immer an dem reißerischen Tonfall gestört.“

„Nun ja, dieser Tonfall ist beim Propheten Ehrensache, das kann man nicht leugnen… war sie krank?“ Irgendwie gelang es Abraxas, nicht taktlos zu klingen – obschon seine Nachfragen doch ein wenig zu weit gingen. Beunruhigt tauschte sie einen Blick mit Lucius. Wann mussten sie Diana retten? Wie konnten sie Diana retten? Abraxas vor der ganzen Runde auszubremsen und ihn darauf hinzuweisen, dass er eine unangenehme Konversation provozierte, war undenkbar.

„Sie hatte ein schwaches Herz. In ihrer Jugend hatte sie einen Zusammenstoß mit… ach, ich weiß gar nicht mehr so genau, irgendeinem Wesen, dem man nicht zu nahe kommen sollte.“ Diana war nicht besonders gut darin zu flunkern und Narzissa erinnerte sich daran, wie wenig ihre Freundin von Heilern hielt. Oder von Krankenhäusern. Erwin und sie hatten eine lebhafte Diskussion über Hausgeburten geführt, das hatte sie nicht vergessen. Schließlich hatte Diana aber doch entschieden, dass man einen Tag seines Lebens in einem Krankenhausbett verbringen konnte. Für Gregory.

„Wie tragisch.“ Glücklicherweise schien Abraxas zu merken, dass dieses Thema nicht weiter vertieft werden wollte und warf einen fragenden Blick in die Runde. „Wer möchte Kuchen?“

* * *



Erst nachdem sie Diana und einen gähnenden Gregory verabschiedet und einen ebenso erschöpften Draco ins Bett gebracht haben, wenden sich ihre Gedanken wieder dem Taschenkalender zu. Am liebsten würde sie hochgehen und nachsehen, ob sich das Buch verselbstständigt hatte, doch dann müsste sie Lucius erklären, warum sie das tat – und das wollte sie nicht.

„Soll ich uns noch einen Tee kochen?“ Sie war bis obenhin mit Kuchen vollgestopft und an ein Abendessen war nicht zu denken, aber wenn Lucius, dessen Fingerspitzengefühl für Teewasser so viel besser war als ihr eigenes, so ein Angebot machte, dann lehnte sie nicht ab. Am Nachmittag hatte es, ganz im Sinne von Abraxas, Kaffee gegeben. Um dem Zucker im Kuchen entgegenzuwirken.

Als sie Dracos Decke an den Seiten noch einmal festgesteckt hatte, sodass er sich auch nicht freistrampeln und verkühlen konnte, folgte sie Lucius in die Küche. Erst jetzt bemerkte sie die Topfpflanze auf dem Tisch.

„Sind das Azaleen?“ Bewundernd betrachtete sie die kräftigen, pinkfarbenen Blüten. Lucius gab ein zustimmendes Geräusch von sich. „Für mich?“ Er wiederholte das Geräusch. „Aber es ist doch gar nicht mein Geburtstag.“

„Darf ich dir nicht trotzdem etwas schenken? Ich dachte, wenn ich schon so etwas Schreckliches mit ins Haus bringe, dann muss ich auch etwas Schönes dabei haben. Außerdem hast du neulich gesagt, du wolltest dich mehr selbst um den Garten kümmern, jetzt wo Kreacher wieder bei deiner Tante ist. Und es ist ja nicht so, als hätte Draco einen Sinn für Blumen.“ Oder überhaupt einen Sinn für Geschenke. Abgesehen von dem neuen, bunten Kreisel und dem Stoffdrachen, mit dem sie ihn geweckt hatten, war ihm definitiv kein Unterschied zu anderen Tagen aufgefallen. Aber das war ja kein Grund, seinen Geburtstag zu ignorieren. Später würden sie auf den Drachen zeigen und ihm erzählen können, dass er ihn schon seit seinem allerersten Geburtstag besaß. Es war also mehr ein Geschenk für den zukünftigen Draco, der dann das Gefühl haben konnte, dass es etwas gab, das schon immer ihm gehört hatte. „Gefallen sie dir nicht?“

„Doch, sie sind wunderschön.“ Lucius sah sie an, als würde er darauf warten, dass sie den unvermeidlichen zweiten Satz laut aussprach. Das alte Spiel. Es war ihr nicht möglich, sich ein Grinsen zu verkneifen. „Aber Azaleen sind nicht meine Lieblingsblumen.“

„Gottverdammt, das kann doch nicht sein!“ Das Wasser kochte und der Teekessel pfiff empört mit ihm. „Diesmal war ich mir so sicher.“

„Zwei Buchstaben sind richtig…nein, vier sogar! Vier Buchstaben sind schon ganz richtig… allerdings in einer anderen Reihenfolge.“

„Das ist der schlechteste Hinweis auf der ganzen Welt, Zissy.“

„Du kommst schon noch drauf… allerspätestens in meinem Testament verrate ich es dir. Mein Grab soll doch schön geschmückt werden.“

„Ich weiß nicht, ob ich das jetzt makaber oder einfach nur dreist finde. Du glaubst also wirklich, dass du vor mir stirbst? Das ist gegen jede, wirklich gegen jede Wahrscheinlichkeit.“ Er stellt einen dampfenden Becher vor ihr ab und hebt mahnend einen Finger. „Vier Minuten. Geduld.“ Wenn es um die Ziehzeiten von Tee ging, dann war mit Lucius nicht zu spaßen, deswegen hob sie abwehrend die Hände.

„Darf ich ihn ins Wohnzimmer tragen? Ich will auf mein Sofa.“

„Selbstverständlich.“ Lucius schickte die beiden Tassen vor ihnen her in das Wohnzimmer, das sich zum gemütlichsten Raum des Hauses gemausert hatte. Wenn man einmal von dem Schlafzimmer absah. Eigentlich mochte Narzissa fast alle Räume, in denen sie wirklich wohnten. Doch die Bibliothek und die Zimmer im oberen Stockwerk, in denen nun auch einige von ihren Sachen standen, kamen ihr immer noch irgendwie fremd vor.

Mit ausgebreiteten Armen lässt sie sich auf das Sofa fallen und freut sich, als Lucius sich so dicht neben sie setzt, dass sie ihre Beine nach vorne über das ganze Polster ausstrecken und ihren Kopf an seine Brust lehnen kann. Es kann sich nur noch um eine Frage von Sekunden handeln, ehe er sich nach dem Verbleib des Taschenkalenders erkundigt. Sie beschließt, ihm das leidige Nachfragen zu ersparen.

„Ich habe das Buch nach oben gebracht. In Xenophilius' altes Zimmer.“

„Und?“

„Es scheint keine besondere Gefahr davon auszugehen… es ist ein alter Kalender. Verzaubert ist er auf jeden Fall. Womöglich, sogar wahrscheinlich, ist etwas darin verborgen – irgendwelche Texte oder Zeichnungen… vielleicht funktioniert er sogar so ähnlich wie ein Denkarium und enthält irgendwelche alten Erinnerungen, aber wir kommen da nicht ran. Ich… ich will nicht ausschließen, dass er irgendwie gefährlich ist, aber auch ein Taschenkalender, der vom dunklen Lord kommt, ist ein Taschenkalender. Wenn wir ihn nicht berühren, dann wird er nichts tun können… und wer weiß, vielleicht ist es nur eine sentimentale Erinnerung? Wenn er keinen eigenen Wohnsitz hat, sondern sich permanent bei meiner Schwester aufhält, dann weiß er vielleicht einfach nicht, wohin damit? Ein Bankschließfach in Gringotts wird er ja wohl kaum haben… und bei Bella sind ständig irgendwelche Leute zu Gast, dort ist es nicht so übersichtlich. Eventuell will er den Kalender ja einfach in Sicherheit wissen.“

„Das wäre natürlich schön, wenn er unser Haus nur als ein Schließfach betrachten würde… zu schön um wahr zu sein.“ Er sagte es, doch gedacht hatten sie es alle beide.

„Sind die vier Minuten nicht langsam um?“

Chapter 30: Alastor „Mad-Eye“ Moody

Chapter Text

30 – Alastor „Mad-Eye“ Moody



Es waren grausige und glückliche Zeiten. Vor nicht einmal ganz einer Woche war der dunkle Lord verschwunden. Die Welt jubelte – und die Welt verfiel dem Wahnsinn. Die einzigen Überbleibsel von Lord Voldemort in ihrem Leben waren ein Taschenkalender, der sich in den vergangenen fünf Monaten nicht bemerkbar gemacht hatte, und das Mal auf Lucius' Unterarm, das jedoch stündlich zu verblassen schien.

Narzissa und Lucius gaben sich alle Mühe, so zu tun, als wäre alles wie immer. Sie versuchten, sich normal zu verhalten. Lucius ging ins Ministerium, dort ging es zwar drunter und drüber, doch bislang war die Bürokratie vor lauter Feuerwerk und Hexenjagd noch nicht untergegangen. Sie selbst mied jegliche sozialen Kontakte. Besonders den Kontakt zu ihrer Schwester. Sie hatte noch gute Erinnerungen daran, wie rasend vor Wut Bella sein konnte, wenn die Welt nicht so funktionierte, wie sie es sich vorgestellt hatte. Und sie hatte keinerlei Interesse daran, diesen göttlichen Zorn auf sich zu ziehen, indem sie eine unverfängliche Frage stellte. Außerdem würde ihre Schwester ihr ganz sicher ansehen können, dass sie insgeheim erleichtert war. Die letzten Monate waren hart gewesen. Es war immer schwieriger geworden, die Schlagzeilen zu ignorieren, die Todesanzeigen von jungen, gesunden Menschen – und die kleinen Berichte, in denen jemand als vermisst gemeldet wurde. Sie nahm das gegenwärtige Grauen und den Jubel gerne an, wenn sich dafür alles normalisieren würde.

Bis zu dem Moment, in dem Alastor „Mad-Eye“ Moody, der für seine Paranoia und seine Skrupellosigkeit berüchtigte Leiter der Aurorenzentrale, in ihrer Küche aus dem Kamin stieg, war sie sogar irgendwie der Ansicht gewesen, dass sie auf einem guten Weg Richtung Normalität waren.

Sie war gerade dabei, einen Kuchen zu backen. Niemand hatte Geburtstag und es gab nichts zu feiern – eigentlich schon, aber lautstark zu feiern wäre eher ungeschickt gewesen –, doch ihr war danach. Das war ein Kuchen, den sie notfalls auch ganz alleine aufessen würde. Oder zusammen mit Draco, der allmählich seinen süßen Zahn entdeckte.

Obwohl man Alastor Moody in ganz England kannte und er das bestimmt auch wusste, verzichtete er nicht darauf, sich vorzustellen. „Alastor Moody. Zaubereiministerium. Aurorenzentrale.“ Er ließ sogar unter den Tisch fallen, dass er nicht nur irgendein x-beliebiger Auror war, sondern der gegenwärtige Leiter der Zentrale. „Sind Sie Narzissa Malfoy?“ War das die Frage, die man zu hören bekam, ehe man vor den Zaubergamot geschleift und verurteilt wurde? Ein wenig zögerlich nickte sie. „Verheiratet mit Lucius Malfoy?“

„Ja, aber mein Mann ist nicht zuhause.“

„Ich weiß, mit ihm habe ich bereits gesprochen. Ich muss Sie darüber informieren, dass ich vom Zaubergamot die Erlaubnis erhalten habe, Ihr Anwesen zu durchsuchen.“ Eine Hausdurchsuchung? Der dumme Taschenkalender kam ihr in den Sinn, doch wenn sie jetzt irgendwohin ging, dann würde Alastor Moody ihr mit Sicherheit folgen. Er galt nicht umsonst als Bluthund.

„In Ordnung. Soll ich Sie herumführen?“

„Ich finde mich schon zurecht. Befinden sich zurzeit noch weitere Personen im Haus?“

„Nur ich und mein Sohn, Draco, er ist fast noch ein Baby und hält seinen Mittagsschlaf. Mein Schwiegervater ist unterwegs. Eine Geschäftsreise.“ Es war paradox, doch die Zauberer und Hexen schienen allerorts in die Apotheken zu rennen. Tränke gegen Kopfschmerzen waren gefragt wie nie zuvor, sodass Abraxas beschlossen hatte, sich in den größten Filialen persönlich umzusehen. Um sich ein Bild der Zeit zu machen, so hatte er es genannt. „Irgendwo ist auch Dobby.“

„Dobby?“

„Unsere Hauselfe.“ Alastor Moodys Mundwinkel zuckten. Lachte er etwa darüber, dass sie es für nötig hielt, eine Elfe zu erwähnen? Dobby war schließlich auch ein Teil des Haushalts. Und noch dazu hatte er ein erstaunliches Maß an magischen Fähigkeiten. Der Auror streckte die Hand aus. Seine Hände sahen aus wie die eines Mannes, der gerne bei schlechtem Wetter Gartenarbeit verrichtete.

„Würden Sie mir bitte Ihren Zauberstab übergeben?“ Widerstandslos holte sie den Zauberstab aus der Tasche ihres Rocks hervor und überreichte ihn. Kaum hatten die Finger von Alastor Moody den Stab berührt, begann er zu zittern und stieß schließlich helle, weiße Funken aus. Sie hatte angenommen, dass er den Stab während der ganzen Durchsuchung behalten wollte, um ihr keine Chance zu geben, ihn aus dem Hinterhalt anzugreifen, doch offenbar hatte er gar kein Interesse an einer solchen Sicherheitsmaßnahme. Er hatte ihren Zauberstab lediglich auf seine Aktivitäten überprüft. Hatte er das auch bei Lucius getan? Hastig dachte sie darüber nach, was Lucius' letzte Aufträge für den dunklen Lord gewesen waren, doch die abendlichen Versammlungen waren seltener geworden. Vielleicht gab es gar keine frischen Spuren mehr, die verräterisch gewesen wären? Lucius war nicht unvorsichtig, seitdem er eine Idee davon bekommen hatte, dass Magie manchmal unsichtbar, doch niemals spurenlos war. „Danke, Mrs. Malfoy.“ Im Handumdrehen hatte sie ihren Zauberstab zurück und Alastor Moody verließ die Küche.

Ohne lange zu zögern, jagte er im Sekundentakt verschiedene Aufspürzauber durch den Flur. Es knallte und knisterte und sie konnte Draco in seinem Zimmer leise wimmern hören. Erst in der vorletzten Woche war ein heftiger Landregen über dem Haus niedergegangen. Es war nicht Dracos erstes Gewitter gewesen, doch er schien zum ersten Mal richtig verängstigt davon gewesen zu sein.

Mit einem schluchzenden, aufgeregten Kleinkind im Arm fühlt sie sich paradoxerweise gleich ein wenig selbstsicherer. Sie erinnert sich daran, wie kühl und gelassen sie sein kann. Wie oft man ihr schon gesagt hat, dass sie eine kalte Ausstrahlung hat. Ganz ungerührt tritt sie auf den Flur, streichelt mechanisch über Dracos Haare und beobachtet das Tun von Alastor Moody. Während er in den zweiten Stock geht, kehrt sie in die Küche zurück, vergewissert sich, dass der Backofen richtig eingestellt ist und erwartet Alastor Moody am Fuß der Treppe. Wenn er irgendetwas gefunden hätte, dann würde er es sie wissen lassen. Falls der Taschenkalender irgendwie seine Aufmerksamkeit erregt hätte, dann würde er nicht einfach mit leeren Händen zurückkommen.

„Haben Sie wohl auch eine schriftliche Erlaubnis vom Zaubergamot dabei?“

„Die habe ich Ihrem Gatten auf seinem Schreibtisch gelassen.“ Das konnte ja jeder sagen. Vielleicht war das ein Bluff – und er hatte noch gar nicht mit Lucius gesprochen. Von Hausdurchsuchungen, die das Ministerium angeordnet hätte, war ihr bislang noch nichts zu Ohren gekommen. Und wäre es Diana nicht einen kurzen Brief wert gewesen, wenn Alastor Moody bei ihr vor der Tür gestanden hätte?

„Ich muss darauf bestehen, dass Sie einen Durchsuchungsbefehl vorweisen können, Mr. Moody. Andernfalls möchte ich Sie bitten, zu gehen. Mein Sohn fürchtet sich, wie Sie sehen. Und Sie haben mir auch nicht mitgeteilt, wonach Sie eigentlich suchen.“

Ohne mit der Wimper zu zucken, war der Auror gleich mehrere Schritte auf sie zugegangen. Er war ein Stückchen kleiner als sie und sie konnte auf seinen strähnigen Haaransatz gucken. Sein Rücken war breit und ein wenig bucklig. Sein echtes Auge sah direkt in ihr Gesicht, während das andere, unheimliche, artifizielle Auge wilde Kreise drehte. „Verkaufen Sie mich nicht für dumm. Das kann ich gar nicht leiden.“

„Und ich kann es nicht leiden, wenn ich ungebetene Gäste habe.“

„Wollen Sie diese Unterhaltung unbedingt vor dem Zaubergamot fortführen, he?“ Das Auge surrte leise. „Ich kann Ihnen versichern, es braucht nur den allerkleinsten Verdachtsmoment und Sie stehen gleich neben Ihrer Schwester. Vielleicht gibt es in Askaban sogar zwei freie Zellen nebeneinander. Wenn Sie nichts zu verbergen haben, dann lassen Sie mich meine Arbeit machen.“

„Bitte. Aber falls sich herausstellen sollte, dass Sie in eigenem Auftrag hergekommen sind, dann kann ich Ihnen versichern, dass das für Sie Konsequenzen haben wird. Mr. Crouch schätzt ordentliche Vorgänge.“ Alastor Moody lacht auf und klingt dabei ein wenig kurzatmig.

„Mr. Crouch? Na, Sie sind mir eine… der gute Mr. Crouch kann seinen Platz bald räumen. Lesen Sie nicht die Zeitung?“ Bei ihm klang es eher so, als wollte er fragen, ob sie überhaupt lesen konnte. „Der Sohn von Mr. Crouch sitzt gegenwärtig entwaffnet und gefesselt in der Aurorenzentrale. Er hat in der Nacht zusammen mit anderen Todessern die Familie Longbottom überfallen. Wir wissen, dass er nicht alleine war. Die Spuren weisen darauf hin, dass drei weitere Personen beteiligt waren. Drei Personen, die mit ziemlicher Sicherheit den Nachnamen Lestrange oder Black tragen. Und ich schwöre Ihnen bei meinem zweiten Auge, diese drei Bastarde werden den Rest ihres Lebens nicht mehr die Sonne sehen!“

„Das wusste ich alles nicht.“

„Das will ich Ihnen gerne glauben. Wirklich, ich vertraue den Menschen gerne, wer tut das nicht? Vertrauen ist gut, aber… Sie wissen wie man sagt, he? Ihr Zauberstab ist lupenrein. Aber das muss nichts heißen. Und wenn Ihre Schwester sich irgendwo auf diesem Grundstück befindet oder ich irgendeinen Hinweis darauf finde, dass Sie auch dazu gehören, dann ist es aus und vorbei. Also wären Sie so freundlich und würden mich nicht länger aufhalten?“

Longbottom. Den Namen kannte sie. Sie erinnerte sich an einen schlaksigen und zugleich pausbäckigen Erstklässler. Den Vornamen wusste sie nicht mehr. Geschweige denn, in welchem Jahr ein Longbottom eingeschult worden war.

„Sind sie tot? Die Longbottoms?“

„Nein.“ Alastor Moodys Stimme war nicht mehr als ein Knurren und er jagte ohne jede Ankündigung einen blauen Zauber durch den Flur in Richtung der Tür, hinter der sich die Treppe ins Erdgeschoss befand. „Aber sie sind nah dran. Da wäre der Tod gnädiger gewesen. Was ist das? Wieso ist diese Tür verzaubert?“

„Oh, das ist ein Zauberbann…“ Sobald die Worte ihren Mund verlassen hatten, wurde ihr klar, wie ungeschickt und verdächtig das klang. Kein Mensch hatte Zauberbanne in seinem eigenen Haus. „Wegen meines Schwiegervaters. Wir schätzen unsere Privatsphäre. Aber Sie wird er nicht aufhalten, gehen Sie ruhig hindurch.“

„Gehen Sie doch bitte zuerst, junge Frau.“

Alastor Moody misstraute ihr also. Schön. Das war keine besondere Überraschung. Das war zu erwarten gewesen. Sie versuchte nicht, sich auszumalen, was ihre Schwester genau getan haben könnte, sondern hielt Draco ein wenig fester und ging die Treppe hinunter in den großen Salon. Alastor Moody folgt ihr in einem gewissen Abstand.

Ein leiser, vertrauter Knall ertönte und ehe sie ein Wort sagen konnte, hatte Alastor Moody seinen Zauberstab auch schon auf Dobby gerichtet, der erschrocken quiekte. Der Leiter der Aurorenzentrale atmete geräuschvoll aus und ließ seinen Stab sinken. „Dobby, nehme ich an?“

„Dobby wollte nur fragen, ob der Gast eine Erfrischung wünscht? Ob Dobby etwas tun kann? Denn Dobby ist eine gute Elfe, Dobby hat Lärm gehört…“

„Es ist alles in Ordnung, Dobby. Mr. Moody, wünschen Sie eine Erfrischung?“ Zu ihrer Überraschung schnaubte Alastor Moody nicht nur verächtlich, sondern nickte.

„Eine Tasse Kaffee wäre schön. Schwarz. Kein Zucker.“ Offenbar entging ihm nicht, dass er Narzissas Erwartungen nicht erfüllt hatte. Ihre höfliche Wiederholung von Dobbys Angebot war eigentlich eher ironischer Natur gewesen. „Ob Sie es glauben oder nicht, ich bin auch nur ein Mensch. Und ich habe gegenwärtig keine Zeit zum Schlafen.“

In den nächsten Minuten konnte Narzissa vom Sofa aus beobachten, wie viele Zaubersprüche es doch noch geben musste, die ihr völlig fremd waren. Die Stimme von Alastor Moody war manchmal mehr ein Bellen oder ein Poltern, sodass sie die Formeln kaum verstehen konnte. Manchmal zauberte er auch lautlos. Als Dobby mit einer großen Tasse Kaffee zurückkam, forderte Alastor Moody sie auf, den ersten Schluck zu nehmen. Sie verbrannte sich die Zunge und würgte das bittere Getränk hinunter. Es war ihr ein Rätsel, wie dieser Mann die gesamte Tasse förmlich in einem Zug herunterstürzen konnte – und dabei noch einen Zauber aussprach, der den Spiegel neben dem großen Kamin erblinden ließ.

Mittlerweile war Draco nicht mehr ganz so verängstigt, sondern fast ein wenig interessiert an dem, was in seiner Umgebung passierte. Sie rückte ihn auf ihrem Schoß zurecht, sodass er einen guten Blick auf den breiten Flur hatte, der von dem Salon bis zur Eingangstür führte. Immer wieder ging Alastor Moody quer über den Flur in die einzelnen Räume. Mehrmals hörte sie Glas brechen, Dinge umfallen und den Auror leise fluchen. Dennoch kam ihr die ganze Szenerie nach und nach fast komisch vor. Urkomisch sogar. Da saß sie nun, mit einem Kleinkind auf ihren Knien, einem Kuchen im Backofen und sah dem Leiter der Aurorenzentrale dabei zu, wie er Malfoy Manor zerlegte. Als gäbe es nichts Wichtigeres zu tun.

Narzissa musste sich zusammenreißen, um nicht laut aufzulachen, als mit einem Mal ein dunkelhäutiger, annähernd glatzköpfiger Mann, der etwa in ihrem Alter sein musste, an den sie sich jedoch aus Hogwarts nicht erinnern konnte, aus dem Kamin stieg. Er nickte ihr zu.

„Kingsley Shacklebolt. Aurorenzentrale. Guten Tag, Madam. Ist Mr. Moody hier?“ Madam war sie nun wirklich noch nie genannt worden – doch es imponierte ihr, dass er seine guten Manieren nicht vergaß, obwohl er es sichtlich eilig zu haben schien. Sie musste gar nicht antworten, denn ein ausgesprochen missgelaunter Alastor Moody kehrte in den Salon zurück.

„Kingsley, wieso bist du nicht auf deinem Posten?!“

„Robards hält die Stellung. Ich sollte Sie zurückholen, Sir. Die…“ Er warf einen zögernden Blick in ihre Richtung. „Die Gesuchten wurden gefasst. Alle drei. Sie haben die Tat bereits gestanden.“

„Wer hat sie gefunden?“

„Ich bin nicht ganz sicher, Sir… es ist die Hölle los in der Zentrale. Dumbledore, Hagrid, Remus, Augusta, sogar die Zaubereiministerin ist da.“  Von so einem illustren Publikum würde ihre Schwester gewiss hingerissen sein.

„Sagen Sie denen, ich bin gleich da, Kingsley. Drei Minuten. Und schalten Sie ein Memo an die Verwaltung, die sollen Lucius Malfoy nach Hause schicken. Am besten direkt für die ganze nächste Woche beurlauben.“

„Verstanden, Sir.“ Der haarlose Zauberer, der ein wenig verschwitzt wirkte, verschwand wieder im Kamin.

Im direkten Vergleich dazu wirkte Alastor Moody nahezu tiefenentspannt, als er sich ihr zuwandte. „Können Sie die Elfe noch einmal rufen? Ich brauche noch eine Tasse, bevor ich gehe. Außerdem haben wir noch eine Kleinigkeit zu besprechen.“

„Natürlich.“ Narzissa tat wie geheißen und beauftragte Dobby. Sie machte eine Handbewegung in Richtung des Sofas. „Möchten Sie dann einen Moment Platz nehmen?“

„Nein, nein, ich stehe lieber… also… wie soll ich es sagen? Stellen Sie sich darauf ein, dass Sie in den Zeugenstand gerufen werden. Ich weiß nicht, in was für einem Verhältnis Sie und Ihre Schwester stehen, aber falls Ihre Schwester keine klaren Aussagen trifft, dann werden wir auf die nächsten Verwandten zugehen müssen. Dem Ministerium ist bekannt, dass Ihr Vater aufgrund seiner geistigen Verfassung nicht unbedingt befragt werden kann. Ihr Ehemann und Sie können allerdings befragt werden. Ich sammele seit Jahren Beweise gegen Bellatrix, Rodolphus und Rabastan Lestrange. Wir sprechen hier von mehrfachem, vorsätzlichen verübten Mord, schwerer Körperverletzung in etlichen Fällen und der Ausübung von schwarzer Magie. Bislang hat Ihre Schwester sich immer sehr klug zu verteidigen gewusst. Sie habe die Unverzeihlichen Flüche gebrauchen müssen, im Rahmen ihres Studiums und so weiter.“ Dobby erscheint, überreicht wortlos die Tasse und Alastor Moody verzichtet darauf, sie zuerst davon trinken zu lassen. Das wertet sie als ein gutes Zeichen. Einen winzigen Fortschritt. „Wenn es nach mir geht, dann wird jeder potenziell verdächtige Haushalt durchkämmt, bis jeder, der das Mal trägt oder in irgendeiner Verbindung zu Lord Voldemort steht, in Askaban sitzt. Es wird aber nicht nach mir gehen. Die Prozesse werden beispiellos und langwierig sein. Historisch.“ Er nimmt einen tiefen Schluck aus der Tasse. „Ihr Haus ist sauber. Von ein paar Kräutern, die man eigentlich im Vereinigten Königreich nicht erwerben darf, einmal abgesehen. Aber ich bin sicher, ich werde irgendwo eine Sondergenehmigung finden… Ihr Schwiegervater ist ganz gerissen.“ Sein Blick wandert zu Draco. „Liegt hoffentlich nicht in der Familie.“ Er leert die Tasse und stellt sie geräuschvoll auf dem niedrigen Tisch vor dem Sofa ab. „Dann darf ich mich verabschieden. Auf bald, Mrs. Malfoy.“

„Auf Wiedersehen, Mr. Moody.“ Draco krähte ein freundliches „Wiedersehe“ und so kam es, dass Alastor Moody in den Kamin stieg und dabei sogar für den Bruchteil einer Sekunde ein grimmiges Lächeln zustande brachte.

* * *



Der Kuchen war ein bisschen angebrannt, aber immer noch genießbar. In einem krassen Gegensatz dazu war Lucius schon ganz unausstehlich, als er sie auch nur sah.

„Wieso werde ich von einem kahlköpfigen Kind in meinem Büro belästigt und nach Hause geschickt? Und warum riecht es hier so, als hätte jemand ein Lagerfeuer angezündet? Was war hier los?“

„Wir hatten Besuch von Mr. Moody.“

„Mad-Eye Moody?!“ Es wunderte sie kaum noch, dass Lucius nicht wirklich einen schriftlichen Durchsuchungsbefehl zu Gesicht bekommen hatte. „Er war hier?! Warum hast du mir denn nicht direkt Bescheid gesagt?! Der Kerl ist irre. Der stellt wie ein Wilder seit Tagen das Ministerium auf den Kopf. Die ganze Welt atmet auf und er ist auf der Jagd. Ich weiß nicht, wer es für eine gute Idee gehalten hat, diesen Wahnsinnigen in eine leitende Position zu setzen. Das muss der Mangel an Freiwilligen gewesen sein.“

„Schrei bitte nicht so. Draco hat sich gerade erst beruhigt.“ Lucius betrachtete Draco, der in seinem Hochstuhl saß, an einem kleinen Stück Kuchen lutschte und dabei einen hochzufriedenen Eindruck machte.

„Ich schreie doch gar nicht.“ Lucius gab sich Mühe, seine Stimme zu senken und ließ sich auf den Stuhl neben Draco fallen. „Mein Kopf platzt nur gleich. Warum schicken die mich nach Hause? Warum soll ich nächste Woche nicht wiederkommen? Was hast du gesagt? Was um Himmels Willen hast du getan?!“

„Ich habe überhaupt nichts gemacht.“ Sie konnte sich selbst nicht erklären, warum sie das alles so wenig berührte. Warum es sie nicht an den Rand eines Nervenzusammenbruchs trieb. Das kam bestimmt noch. „Er hat nach Bella gesucht. Und nach Rodolphus und Rabastan… aber offenbar wurden sie woanders gefunden… weißt du etwas über die Familie Longbottom?“

„Longbottom? Ja, sicher. Frank und Alice Longbottom arbeiten beide in der Aurorenzentrale, sie… sie wurden angegriffen. Es stand heute Morgen groß auf der Titelseite. Liest du keine Zeitung mehr?“ Bei ihm klang die Frage noch schärfer als bei Alastor Moody. „Dort stand allerdings nichts darüber, wer es getan hat.“

„Scheinbar war es Bella. Du hast also nichts davon gewusst?“

„Nein. Ich habe deine Schwester nicht mehr gesehen, seit… seit drei Wochen bestimmt nicht mehr. Du weißt doch, dass es keine richtigen Treffen mehr gab… ich habe nur patrouilliert vor dem… vor dem Haus der Potters.“ Lucius presst die Lippen aufeinander. „Und vor dem Haus der Longbottoms. Aber ich habe nichts getan. Es war nur eine ganz normale Überwachung von Mitgliedern des Ordens.“

„Warst du alleine?“

„Ja. Aber ich wurde abgelöst. Meistens von Barty Crouch.“

„Barty Crouch ist an dem Angriff beteiligt gewesen.“

„Woher weißt du das?“

„Moody hat es mir gesagt. Er war sehr gesprächig.“ Wohl in der Hoffnung, dass sie auch ins Erzählen geraten würde. Oder er war einfach nicht kurz angebunden. Oder es lag am Koffein. Und am fehlenden Schlaf.

„Es war nur eine Patrouille…“ Lucius war erbleicht. „Am Ende kommen wir doch noch in Teufels Küche. Und das nur wegen einer Patrouille.“ Ihr war gar nicht klar gewesen, dass in ihr eine Optimistin steckte, doch sie sah Lucius noch nicht in Teufels Küche. Oder in Askaban. „Was hat er noch gesagt? Moody, was hat er noch gesagt?“

„Wir sollten damit rechnen, als Zeugen vor den Zaubergamot gerufen zu werden.“

„Das ist übel. Weißt du, wie übel das ist? Vor dem Gamot setzen sie Veritaserum ein, wenn es um was geht!“

„Aber du hast nichts getan.“ Lucius krempelte seinen Ärmel hoch und präsentierte ihr das Mal, das seit dem Morgen nicht weiter verblasst zu sein schien.

„Das hier ist nicht nichts. Das ist ein Beweis. Wenn Alastor Moody vor dem ganzen Gamot die Chance bekommt, mich zu fragen, ob ich das dunkle Mal habe, dann bin ich ein toter Mann. Dann war’s das.“

„Dann darf es eben nicht dazu kommen.“ Ganz plötzlich kam ihr ein Gedanke, eine riskante Idee, die vielleicht dumm war, vielleicht aber auch das Gegenteil von dumm. „Moody wird dich so oder so nicht vergessen. Wenn du dich kooperativ gibst und nicht darauf wartest, dass du irgendwohin bestellt wirst, dann wird man das als positiv bewerten. Beweis der Aurorenzentrale, dass du keine Schuld trägst.“

„Ach und wie soll ich das machen? Auch wenn ich mit den Longbottoms nichts zu tun habe… unschuldig bin ich nicht. Das wäre eine Lüge.“

„Und du bist doch ein guter Lügner. Du hast mich belogen, also warum solltest du nicht Alastor Moody belügen können? Oder einen anderen Auroren. Niemand hat gesagt, dass du nicht ins Ministerium darfst. Geh dahin, gleich morgen. Gib ganz offen zu, dass du diese Patrouillen gemacht hast. Dass es kleine Aufgaben gab, die du erfüllen müsstest, aber nichts Wichtiges. Gib die Schuld einfach jemand anderem. Bella hat gestanden. Sie wird sowieso nach Askaban geschickt. Du kannst leicht behaupten, dass du unter dem Imperius gestanden hast. Das kann doch niemand nachweisen. Bella hat den Imperius sicher oft benutzt und selbst wenn sie sagen sollte, dass sie dich nicht verhext hat, dann steht dein Wort gegen ihres. Dann ist sie die Angeklagte und du bist der Mann, der auf die Aurorenzentrale zugegangen ist, freiwillig und zur Kooperation bereit.“ Die Worte sind mit Hochgeschwindigkeit aus ihrem Mund gekommen, gesprintet, und sie weiß nicht, wie sie so etwas sagen kann. Woher dieser skrupellose Plan auf einmal kommt. Sie muss über diese Möglichkeit nachgedacht haben. Ihr Unterbewusstsein musste seit Jahren von ihr unbemerkt an einem derartigen Schlupfloch gearbeitet haben. Lucius sieht sie an.

„Das wäre Verrat. An deiner Schwester.“

„Wenn die Rollen vertauscht wären, dann würde sie nicht anders handeln.“ Doch, das würde sie. Bella stand zu ihren Überzeugungen. Aber Lucius war ja nicht so überzeugt. „Sie würde nicht wollen, dass ich meinen Mann und Draco seinen Vater verliert, wenn es nicht sein muss.“

„Da bin ich mir nicht so sicher… ich würde nicht die Hand dafür ins Feuer legen, dass Bella mich leiden kann. Sie hat mich akzeptiert. Und sie hat erkannt, wozu ich nützlich sein kann. Mit Zuneigung hat das nichts zu tun. Sie wird sich nicht für mich opfern.“

„Aber es geht ja nicht um dich. Es geht um mich. Sie weiß, was du mir bedeutest. Und sie weiß auch, dass ich ihr nie vergeben würde, wenn sie dich bis zum bitteren Ende mit reinreißen würde.“ Noch immer wirkte Lucius alles andere als überzeugt und Narzissa wusste ja selbst nicht, warum sie sich so sicher war. Ihre Schwester war fanatisch. Eine Mörderin. Und ein Biest. Aber wenn sie bereits ein Geständnis abgelegt hatte, dann machte sie sich keine Hoffnungen mehr, einer Strafe zu entgehen. Vielleicht wollte sie das gar nicht. Vielleicht hatte das Verschwinden des dunklen Lords bei ihrer Schwester einen Schalter umgelegt. Wenn sie ohne jede Anweisung und ohne höheres Ziel zwei Auroren angriff, dann konnte sie keinen Lebenswillen mehr haben. Dann musste sie den Verstand verloren haben.

„Wenn sie den Rest ihres Lebens in Askaban verbringt, dann kann sie sich auch nichts von dem Wissen kaufen, dass du ihr wohlgesonnen bist. Was sollte sie sich noch darum kümmern, ob sie dir etwas Unverzeihliches antut?“

„Das Konzept von Geschwisterliebe ist dir wirklich fremd.“

„Bellatrix genauso. Sonst hätte sie den Kontakt zu dir vor Jahren abgebrochen und dich in Ruhe gelassen.“ Das war leider die Wahrheit. Die gemeine Wahrheit, die nun jahrelang niemand von ihnen ausgesprochen hatte.

„Willst du warten, bis eine Eule vom Zaubergamot eintrudelt?“ Lucius schüttelt den Kopf und sie schiebt ihm den Teller zu, auf dem der angebrannte Kuchen steht. „Wir müssen es zumindest versuchen.“

* * *



In den nächsten Tagen las Narzissa gewissenhaft die Zeitung. Eigentlich mehrere Zeitungen. An einigen Tagen ließ sie von bis zu drei verschiedenen Tageszeitungen eine Eule kommen. Sie las Geschichten über das Leben von Menschen, die sie kannte, die ihr nahestanden, als wären sie Fremde.

Das Urteil über ihre Schwester, die Prozesse von Rodolphus, Rabastan und Barty Crouch. Der Zusammenbruch von Barty Crouchs Mutter. Das Verhör von Igor Karkaroff, der unwissentlich dieselbe Taktik wie Lucius verfolgte und Bellatrix unterstellte, ihn verzaubert zu haben. Über Jahre hinweg. Ein besonders eifriger Mensch hatte sogar einen Brief aufgetan, in dem Bellatrix und Igor Karkaroff über ihre Verlobung sprachen, einander die Treue schwuren. Igor Karkaroff beteuerte, verliebt und verflucht gewesen zu sein. Doch kein Verrat übertrifft den Verrat, den man Sirius unterstellt. Ein Verbündeter vom dunklen Lord soll er gewesen sein, einer seiner geheimsten Vertrauten, quasi ein Freund, ein Untergebener, der James und Lily Potter verraten hat. Die Artikel über die Potters liest sie ebenso ungerne und doch eifrig wie die Berichte über Frank und Alice Longbottom. Die Reporter schlachten die sentimentalen Komponenten dieser beiden Tragödien besonders aus, niemand wird es Leid zu erwähnen, dass beide Paare gerade erst Eltern von Söhnen geworden sind. Kindern, die in Dracos Alter sind. Narzissa kann kein Wort über diese Menschen lesen, ohne dabei zu denken, wie viel Glück sie doch hat. Und wie unverdient dieses Glück ist.

Lucius trägt seine Geschichte vor und er muss seine Sache gut gemacht haben, denn es gibt kein Wiedersehen mit Alastor Moody. Es gibt keine Einberufung in den Zeugenstand. Ihre Schwester und Rodolphus schweigen nicht, es gibt keinen Grund, um noch die Meinung einer unwichtigen Schwester zu hören. Knapp einen Monat nach dem Verschwinden von Lord Voldemort wird ihre Schwester endgültig verurteilt. Die Urteile von Rodolphus, Rabastan und Barty Crouch erfolgen noch am selben Tag. Der Prozess von Sirius ist ungleich kürzer ausgefallen, er ist bereits in Askaban. Lucius ist in der Mitte des Monats November an seinen Schreibtisch zurückgekehrt und verrichtet gewissenhaft seine Arbeit.

Als das Weihnachtsfest näherrückt, versucht sie sich daran zu erinnern, was die letzten Worte gewesen sind, die Bella und sie miteinander gewechselt haben, doch es will und will ihr nicht einfallen. Ihrem Vater entfällt nun häufiger Bellas Name, er verwechselt sie und Andromeda miteinander und Narzissa zweifelt daran, dass er überhaupt wirklich begreift, was passiert ist. Was aus seinen Kindern geworden ist. Doch dann gibt es wieder Tage, an denen Narzissa sich selbst dabei ertappt, wie sie mit Diana, die ähnlich großes Glück erlebt hat, im Wohnzimmer sitzt, Tee trinkt und nicht an Bella oder an Andromeda denkt. Und an diesen Tagen zweifelt sie daran, ob sie selbst denn wirklich weiß, was aus ihren Schwestern geworden ist.

Chapter 31: Mädchenphantasien

Chapter Text

IV  –  Death By Water

 

O you who turn the wheel and look to windward,
Consider Phlebas, who was once handsome and tall as you.

 

31 – Mädchenphantasien

 

26. Juli 1995



Alastor Moody scheint nicht um vierzehn, sondern um doppelt so viele Jahre gealtert zu sein. Seine Haare sind grau, strähnig und ziehen sich langsam aus seiner Stirn zurück. Dafür hat die junge Frau neben ihm eine Löwenmähne in Bonbonrosa und Narzissa kann durchaus behaupten, dass sie alleine der Farbton für einen Moment aus der Fassung bringt.

„Mrs. Malfoy. Wiedersehen macht Freude.“ Nach allem, was sie von Draco im letzten Schuljahr über Alastor Moody – oder vielmehr den falschen Professor Moody – zu hören bekommen hat, kann sie nicht gerade behaupten, sich darüber zu freuen, dass dieser Mann aus ihrem Kamin steigt.

„Möchten Sie wieder unser Haus besichtigen?“ Bildet sie sich das ein oder hat ihr Tonfall an Schärfe verloren? Warum gelingt es ihr nicht, ein wenig gefasster und souveräner aufzutreten?  „Dieses Mal verlange ich eine schriftliche Genehmigung. Andernfalls kann ich Ihnen leider nicht weiterhelfen.“

„Immer mit der Ruhe, gnädige Frau. Darf ich Ihnen meine Kollegin vorstellen? Nymphadora Tonks. Ausgebildete Aurorin.“ Nymphadora Tonks. Der Name brennt in ihren Ohren. Wie oft hat sie sich vorgestellt, wie das Baby ihrer Schwester aussehen könnte? Sie hatte bis vor wenigen Sekunden nicht einmal gewusst, ob es ein Junge oder ein Mädchen war. Nymphadora. Was für ein scheußlicher Name. Aber es passte zu Andromeda, die ihren eigenen Namen nie geliebt hatte, ihrem Kind ebenfalls einen Namen zu verpassen, mit dem man sich nur gestraft fühlen konnte. Zu ihrer Verwunderung verfärben sich die Haare der jungen Frau. Aus dem zarten Rosa wird ein dunkles, beinahe flammendes Rot. „Meine Kollegin zieht es vor, nur bei ihrem Nachnamen genannt zu werden, aber ich dachte, der Vollständigkeit halber wäre es hier angebracht.“ Es ist allzu offensichtlich, dass Nymphadora Tonks ihrem „Kollegen“ zu gerne ins Wort fallen würde. Doch sie beherrscht sich. Spricht nicht.

Es ist ein Trick. Es muss ein Trick sein. Alastor Moody hat seine Hausaufgaben gemacht und bringt ihre Nichte, die sie noch nie im Leben zu Gesicht bekommen hat, mit in ihr Haus, um sie aus dem Konzept zu bringen.

„Bitte gehen Sie.“ Sie überwindet sich und sieht Nymphadora Tonks in die Augen. „Sie beide.“ Die junge Frau, das Mädchen, erwidert ihren Blick ungerührt. Einen Augenblick kommt ihr die Ähnlichkeit mit der Andromeda, an die sie sich erinnern kann, ganz verblüffend vor, doch dann wächst die Nase des Mädchens in die Länge und ihre Augen, die dieselbe Farbe wie ihre eigenen und die von Draco haben, werden hellblau, fast silbrig. Eine Verwandlungskünstlerin. Und jemand, der das Hochziehen von Fassaden nicht durch irgendwen, sondern von einer Meisterin dieses Fachs gelernt hat.

„Ich hab mir eine etwas wärmere Begrüßung versprochen.“ Alastor Moodys Stimme hat sich nicht verändert. Der Zahn der Zeit hat nicht an seinen Stimmbändern genagt. Oder an seiner Einstellung. „Da das Ministerium zurzeit einen recht fragwürdigen politischen Kurs fährt und Fudge ein Trottel ist, habe ich leider kein offizielles Schreiben in der Tasche. Dennoch würde ich mich gerne bei Ihnen umsehen.“

„Wieso? Denken Sie, wir verstecken Sie-wissen-schon-wen in einer Besenkammer?“ Der Auror zuckt mit den Schultern, als wäre das durchaus eine Möglichkeit, die er in Betracht gezogen hat. „Da muss ich Sie enttäuschen. Wenn Sie Probleme mit Ihrem Arbeitgeber haben, dann bin ich leider nicht die richtige Anlaufstelle. Wenn Sie jetzt so freundlich wären und gingen? Mein Sohn feiert heute Abend seinen Geburtstag und ich habe keine Zeit, Sie zu belustigen, Mr. Moody, Miss Tonks.“

Sie wünschte, irgendjemand würde in diese Situation hereinplatzen. Sie wünschte, sie hätte Lucius nicht in die Winkelgasse geschickt, um Dracos Schulbücher zu besorgen. Sie wünschte, sie hätte Draco nicht ermuntert, seinen Vater zu begleiten. Sie wünschte, Abraxas wäre nicht in einem Alter, in dem man gerne ein Mittagsschläfchen hielt. Sie wünschte, Dobby wäre noch da. Eine Dame weiß, dass das Leben kein Wunschkonzert ist. Eine Dame kennt ihren Platz.

„Richten Sie meine Glückwünsche aus.“ Alastor Moody deutet eine Verbeugung an, die man schlichtweg nicht ernst nehmen kann. „Aber Sie wissen ja, wie man sagt, he?“ Da kam eine Pointe – und sie hatte keinerlei Lust, sich an dem Witz zu beteiligen. „Aller guten Dinge sind drei. Einmal sind Sie und Ihr Gatte mir durch die Lappen gegangen, einmal lasse ich mich abwimmeln und beim nächsten Mal… wir werden sehen.“

„Ja, das werden wir sehen. Vielleicht kündigen Sie sich schriftlich an, damit Sie Lucius auch einmal kennenlernen?“ Es war dumm, so etwas zu sagen, doch sie konnte nicht anders, als sich Nymphadora Tonks zuzuwenden. „Es hat mich wirklich sehr gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen. Grüßen Sie Ihre Eltern.“ Niemand sollte denken, dass sie hier auf dem falschen Fuß erwischt worden war. Oder dass eine Provokation ihrer Sentimentalität ein gelungener Angriff auf ihr Nervenkostüm war.

Sie wüsste zu gerne, ob dieses Attentat alleine von Alastor Moody geplant worden war oder ob ihre Schwester da auch die Finger mit im Spiel hatte. Doch es wollte nicht zu Andromedas konsequenter Funkstille passen, ihr nach über zwei Jahrzehnten beinahe grundlos ihre Tochter vorbeizuschicken.

Als die beiden ungleichen Gestalten zurück zum Kamin gingen, ertappte Narzissa sich dabei, dass sie hoffte, Alastor Moody würde zuerst zum Flohpulver greifen, sodass sie ein paar Sekunden erleben würde, in denen sie allein mit Nymphadora war. Doch natürlich ließ Moody ihr den Vortritt und das Letzte, was sie von Nymphadora Tonks sah, waren himmelblaue Locken, die von den grünen Flammen verschluckt wurden.

Halb rechnete sie damit, dass der Auror noch etwas sagen würde, doch im Grunde genommen wusste sie, dass Alastor Moody sein Werk bereits verrichtet hatte. Es gab nichts hinzuzufügen.

* * *



Als Lucius und Draco aus der Winkelgasse zurückkehrten, machten sie beide nicht den Eindruck, einen erquicklichen Ausflug hinter sich zu haben. Vermutlich hatten sie gestritten – oder geschwiegen. Narzissa wurde den Gedanken nicht los, dass sie mit drei Männern in einem Haus lebte, die sich viel zu ähnlich waren, um miteinander zurechtzukommen.

Ohne viele Worte verabschiedete Lucius sich in sein Arbeitszimmer und Draco machte Anstalten, mit seinen neu erworbenen Büchern ebenfalls direkt oben in sein Zimmer zu verschwinden. „Leiste mir doch mal einen Augenblick Gesellschaft, mein Schatz.“

Ihr entging nicht, dass Draco gequält aussah, aber in seinem Alter brauchte es nicht viel, um den Eindruck zu erwecken, als ginge jemand mit glühenden Pfeilen auf einen los. Betont genervt ließ er sich auf einen der Küchenstühle fallen und betrachtete irritiert die Vielzahl an Schüsseln und Lebensmitteln, die auf der Arbeitsfläche neben dem Spülbecken ausgebreitet waren.

„Du backst?“

„Ich bereite vor.“ Es war ein Wunder, doch sie hatte Lucius das Versprechen abgerungen, einen Kuchen zu backen. Es war immerhin ein feierlicher Anlass und wenn er die Sache in die Hand nahm, dann war das Ergebnis nicht nur essbar, sondern gelungen. Seine Bedingungen waren klar gewesen: Er würde weder abspülen, noch etwas tun, was das Tragen einer Schürze erforderte. Seitdem Dobby nicht mehr bei ihnen war, bestand Lucius stur darauf, dass sie keine neue Elfe beschäftigen würden. Wozu auch. Er konnte im Ministerium essen, Draco war sowieso das ganze Jahr über in Hogwarts und sie, ja, sie konnte ja nach unten zu Abraxas gehen, der eine Elfe beschäftigte, die er jedoch – um Lucius und seinen Sturkopf abzustrafen – so zurechterzogen hatte, dass sie wirklich nur ihm gehorchte. An manchen Abenden und am Wochenende kochten Lucius und sie abwechselnd. In den Sommerferien neigte Lucius allerdings dazu, sich um diese Selbstverständlichkeit zu drücken. Sie dachte lieber nicht so genau darüber nach, ob das etwas mit Dracos Anwesenheit zu tun hatte. Wenn es Lucius nämlich allen Ernstes peinlich war, in der Gegenwart seines Sohnes zu kochen, dann würde sie auf eine Grundsatzdiskussion bestehen müssen – und darauf hatte sie irgendwo selbst keine Lust.

„Aha. Und was soll es werden?“

„Ein Kuchen. Schokolade – mit Erdbeeren. Oder magst du das auch nicht mehr?“ Draco war in diesem Jahr mit einigen interessanten Abneigungen nach Hause gekommen. Offenbar wollte er keine selbstgestrickten Socken mehr tragen, kein Fleisch mehr essen, bei dem man noch erkennen konnte, welches Tier es einmal gewesen war und die Katze nicht mehr in seinem Zimmer haben. Auf die Bemerkung, dass Merlin im Februar und im stolzen Alter von 29 Jahren verschieden war und dass sie ihm das auch geschrieben hatte, reagierte er mit einem Schulterzucken. Manchmal sehnte sie sich nach der Zeit zurück, in der Draco noch nicht das Bilden von ganzen Sätzen gelernt hatte und sehr leicht zu lieben war.

„Aber ich hab doch gar nicht wirklich Geburtstag.“ Der fünfte Juni fiel bedauerlicherweise jedes Jahr aufs Neue mitten in die Abschlussprüfungen. Im nächsten Jahr würde es anders sein, denn die Zaubergradprüfungen fanden ein wenig früher statt und so würde Draco seinen Geburtstag zwar immer noch in Hogwarts verbringen, aber vielleicht keine Klausur schreiben müssen. Das Nachfeiern seines Geburtstages hatte Draco eigentlich immer sehr gefreut, doch heute schien er auf Teufel komm raus nicht gut gelaunt sein zu wollen.

„Na und? Wollen deine Gäste deshalb nichts essen? Willst du sie in den Garten setzen, eine Runde Leitungswasser ausgeben und dich dann wie ein guter Gastgeber fühlen?“

„Nein, Mum, das will ich natürlich nicht. Aber wer soll das alles essen? So viele Leute kommen gar nicht.“ Sie gab zu, dass ein Kuchen vielleicht genug war und dass Jugendliche sich sowieso nicht auf Obst stürzten, doch sie wusste zum Beispiel sehr genau, dass Gregory keine Erdbeeren mochte, also wollte sie zumindest noch die eine oder andere Kleinigkeit anbieten können.

„So ein schönes Stichwort. Erzählst du mir jetzt vielleicht endlich, wen du genau eingeladen hast?“ Sie stellt sich hinter ihn und streichelt über seine Haare. Er lässt es zu und lehnt seinen Hinterkopf sogar gegen ihren Bauch. So nah ist er ihr seit der Begrüßung am Bahnhof nicht mehr gekommen.

„Crabbe und Goyle natürlich.“

„Draco! Du weißt, dass ich es eine Unart finde, wenn du deine Freunde bei ihren Nachnamen nennst. Das mag ja cool sein, aber Gregory ist dein bester Freund. Ihr kennt euch euer Leben lang. Da benutzt man doch nicht den Nachnamen!“

„Ja, schön, also Gregory und Vincent werden kommen. Dann noch Theo… und Blaise hat nicht geantwortet. Ich weiß aber auch nicht, wo gerade er wohnt, also hat die Eule vielleicht einfach nicht durchgehalten. Und dann habe ich noch Pansy und Millicent eingeladen.“ Pansy und Millicent. Es war das erste Mal, dass Draco auch Mädchen eingeladen hatte. Pansy und Millicent. Sie hatte die beiden bestimmt schon einmal auf dem Gleis von King’s Cross gesehen, doch sie war schon gespannt, endlich Gesichter zu den Namen vor Augen zu haben.

„Theodore Nott, richtig?“ Draco nickte und hatte die Augen geschlossen. Mit Entspannung hatte das nichts zu tun. Er wollte ihr nicht in die Augen sehen. Aber das war okay, immerhin durfte sie weiterhin seine Haare berühren.

„Ja, genau.“ Von Blaise Zabini hatte Draco stets in einem etwas bewundernden Tonfall gesprochen. Sie nahm an, dass sie keine allzu guten Freunde waren, aber Draco schien doch irgendwie von dem Jungen gemocht werden zu wollen. Bei Vincent Crabbe und Theodore Nott lagen die Dinge anders. In Briefen wurden beide immer nur spärlich erwähnt und auch sonst sprach Draco eher selten von ihnen, doch Narzissa war wohl bewusst, dass sie mit den Vätern der beiden bekannt war. Zumindest indirekt. Zumindest Lucius kannte sie. Hatte sie vor einer kleinen Ewigkeit gekannt – und war ihnen vor wenigen Wochen wiederbegegnet. Die bloße Erinnerung an den Abend, an dem Lucius vor Schmerz aufgeschrien hatte, weil sein Handgelenk so gebrannt hatte, jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Stundenlang war er verschwunden und als er wiedergekommen war, hatte er kein Wort gesprochen und war direkt im Badezimmer verschwunden. Sie war sich sicher, dass er geweint hatte, doch als sie nach einer halben Stunde nicht länger hatte warten können, da hatte er die Tür geöffnet und ihr ganz nüchtern geschildert, was auf dem Friedhof von Godric’s Hollow geschehen war. Lucius war weniger maulfaul als Draco. Und ein besserer Erzähler. Er hatte Namen genannt. Nott. Crabbe. Goyle. Die alte Garde, hatte sie gedacht. Keine neuen Gesichter.

„Pansy und Millicent… und weiter, wie heißen die beiden weiter?“

„Pansy Parkinson und Millicent Bulstrode… bist du fertig mit deinem Verhör? Du weißt doch, wer in meinem Jahrgang ist. Und ich dachte, ich soll niemanden beim Nachnamen nennen.“

„Denkst du wirklich, ich vergesse nie etwas?“ Er schüttelte den Kopf und bewies ihr damit, dass sie keinen Dummkopf großgezogen hatte. Natürlich wusste sie, wie die beiden Mädchen hießen. Doch sie kannte weder die Parkinsons, noch die Bulstrodes, obschon ihr beide Familiennamen geläufig waren. Als Kind hatten ihre Schwestern und sie bei jedem Besuch ihrer Großeltern die Namen aller reinblütigen Familien aufsagen müssen. Es war ein seltsames Spiel und der Zweck war zweifelhaft gewesen, so glaubte Narzissa. Vermutlich sollten sie bei ihrer Einschulung einfach Bescheid wissen, mit wem es sich zu sprechen lohnte und mit wem nicht. Auf welchen Jungen es sich ein Auge zu werfen lohnte. Abgesehen von Samara, deren Nachname Greengrass gewesen – und nach ihrem Wissensstand auch geblieben  –  war, hatte Narzissa in ihrem Jahrgang allerdings niemanden gefunden, der aus einer der sogenannten „unantastbaren“ Familien kam. „Was ist mit Daphne Greengrass? Ist sie nicht auch in Slytherin?“

„Doch, schon, aber Daphne ist… nicht so nett. Wir sind nicht wirklich befreundet.“ Narzissa war nicht ganz sicher, in welchem verwandtschaftlichen Verhältnis Samara und Daphne zueinander standen, doch sie erinnerte sich daran, dass Samara einen älteren Bruder hatte, der noch in einer Zeit geheiratet hatte, in der sie regelmäßige Briefe und Besuche von Samara erhalten hatte. Es war also nicht ganz und gar unwahrscheinlich, dass Daphne die älteste Nichte von Samara, der Verschollenen, war.

„Aber mit Pansy und Millicent bist du befreundet?“

„Musst du das so eklig betonen?“

„Wie betont man denn etwas eklig?“

„Du weißt genau, was ich meine.“ Noch immer hat er die Augen geschlossen. „Frag doch einfach.“

„Also ich glaube, du überschätzt mich, Draco. Eine Gedankenleserin bin ich nun auch nicht. Ich wüsste gar nicht, was ich dich fragen sollte.“ Da er sie sowieso nicht anschaut, sondern stur aus dem Fenster guckt, muss sie sich ein Schmunzeln auch nicht verbeißen. „Ich baue darauf, dass du mir freiwillig erzählst, wenn sich in deinem Leben etwas Wichtiges ereignet hat.“

„Versprich mir, dass du sie nicht ausfragen wirst. Sei nicht… peinlich.“ Es war schon mehr oder weniger abgesprochen, dass – insofern sich das Wetter nicht ernsthaft verschlechterte – die Geburtstagsrunde im Garten stattfinden würde, während Lucius und sie sich im Haus aufhielten.

„Pansy oder Millicent?“ Draco und Pansy. Pansy und Draco. Draco und Millicent. Millicent und Draco. Beides klang für sie gleichermaßen gut. Gleichermaßen wenig abwegig. Sie wünschte, Lucius wäre hier, dann könnten sie nur mit Blicken eine Wette darüber abschließen, wessen Namen Draco laut aussprechen würde.

„Pansy.“

„Mit ihr bist du auch auf dem Weihnachtsball gewesen.“ Es ist keine Frage, sondern eine Feststellung. Dementsprechend kann sie von Draco auch keine Antwort erwarten. „Und du hast sie gern?“

„Sie ist cool.“ Dieses Wort konnte sie schon nicht leiden, als sie selbst noch in dem Alter gewesen ist, in dem man es ungestraft verwenden konnte. Sie zog an einer Haarsträhne ihres Sohnes, um ihm zu zeigen, was sie von dieser knappen, nichtssagenden Ausdrucksweise hielt. „Ja, ja, ich hab sie gern. Mein Gott, warum machst du das Hobby nicht zum Beruf und gründest ein Detektivbüro?“

„Sei nicht so schnippisch, mein Schatz, dafür bist du noch zu jung.“ Sie beugt sich vor und drückt ihm einen Kuss auf den Kopf. „Und wenn man dir nicht immer alles aus der Nase ziehen müsste, dann würde ich ja gar nicht fragen…“

„Vielleicht bin ich ja deshalb so geworden, weil du immer schon so viel gefragt hast?“ Da war ja wieder ihr wortgewandtes, bockiges Kind, das sich in der letzten Woche in vornehmes Schweigen gehüllt hatte. Sie lächelt zufrieden. Er hat die Augen mittlerweile wieder geöffnet und funkelt sie trotzig an. „Ich mein ja nur, hinterfrag vielleicht erstmal deine Art zu kommunizieren, bevor du mich hinterfragst. Du hast immerhin mir das Sprechen beigebracht.“

„Schon gut, schon gut… Pansy… ist das ein Spitzname oder heißt sie wirklich so?“

„Sie heißt wirklich so.“

„Interessanter Name.“ Pansy. Sie kannte niemanden, der Pansy hieß. Was für Mädchen waren Pansys? Waren sie Hollys, Jessys oder Nancys? Oder waren sie am Ende Maes? „Und ist das etwas Ernstes zwischen Pansy und dir?“ Diesmal macht Draco die Augen nicht zu, weicht nicht aus und wird lediglich ein bisschen rot um die Nase.

„Keine Ahnung.“

„Was soll das für eine Antwort sein? Das ist doch keine Antwort!“

„Mum. Bitte. Muss das wirklich so ein Gespräch werden? Ich weiß genau, worauf du hinaus willst und es ist wirklich absolut überflüssig, dass wir darüber reden.“ Abwehrend hebt sie die Hände, auch wenn sie seine Haare dann freigeben muss. Doch er hat sich auf dem Stuhl ohnehin so gedreht, dass er ihr direkt in die Augen sehen kann. Und gleichzeitig etwas weiter weggerückt ist.

„Ich meine ja nur. Du bist kein Kind mehr. Es ist also nicht komplett abwegig, dass wir uns mal ernsthaft darüber unterhalten, was alles passieren kann, und uns gemeinsam dieser Peinlichkeit stellen. Oder wolltest du eben nur zum Ausdruck bringen, dass du darüber lieber mit deinem Vater sprechen möchtest?“ Schlagartig verändert sich Dracos Gesichtsfarbe und sie meint, einen dezenten Grünstich zu entdecken.

„Gnade. Ich hab immerhin fast noch Geburtstag, oder? Ich soll mich doch immer im Guten an diesen Tag erinnern, oder?“

„Natürlich sollst du das.“

* * *



Narzissa ist gewillt, sich an ihr Versprechen zu halten und zu verschwinden, sobald die ersten Gäste im Hauptkamin landen, doch sie hofft ein bisschen, einen Blick auf Pansy erhaschen zu können und liest deshalb betont konzentriert Abraxas Tageszeitung im Salon. Einerseits ist sie etwas enttäuscht, als die grünen Flammen zum ersten Mal aufwirbeln und es ganz eindeutig kein Mädchen ist, das da angekommen ist, doch andererseits freut sie sich, Gregory zu sehen. Bei ihm stellt Draco sich nicht so an und auch, wenn Gregory das vielleicht etwas unangenehm ist, kann sie nicht anders, als auf ihn zuzugehen und ihn zu drücken.

Es ist ganz erstaunlich, wie ähnlich ein Junge seiner Mutter sehen kann, doch mit jedem Jahr hat sie mehr das Gefühl, Diana zu erkennen, wenn sie Gregory ansieht. Vielleicht liegt das aber auch daran, dass ihr Diana von Jahr zu Jahr mehr fehlt. Ihre einzige, echte Freundin. Die einzige Freundschaft, die nicht nur einer Gelegenheit oder einem gemeinsamen Lebensabschnitt geschuldet war. Oder doch. Aber ihr gemeinsamer Lebensabschnitt war noch nicht vorbei gewesen und sie ertappte sich manchmal immer noch dabei, wie sie Briefe von Draco las und den Drang hatte, Diana zu fragen, ob Gregory auch so dumme Rechtschreibfehler machte oder so unsinnige Sachen erzählte. Es fehlte ihr wirklich, jemanden zu kennen, der einen Sohn im selben Alter hatte und vor dem sie nicht so tun musste, als wäre Draco wer weiß wie gescheit oder begabt. Mit Diana war es nie ein Kräftemessen gewesen. Oder ein Wettbewerb.

„Wie groß du schon wieder geworden bist.“ Es gab keine Zeit, in der Gregory nicht zumindest ein Stückchen größer als Draco gewesen war, doch nun überragte er ihren Sohn um einen halben Kopf und sie selbst auch um einen oder zwei Zentimeter. Trotzdem sah er nicht ausgezerrt aus wie viele andere der Jungen, die sie am Bahngleis gesehen hatte. Genau wie Diana war er nicht schlaksig, sondern einfach nur immer ein bisschen größer als alle anderen. Seine Haut glänzte, er schien nervös – oder er hatte tiefenentspannt ein wenig zu viel Deo aufgetragen. Oder Rasierwasser. Oder was auch immer Erwin Goyle da im Haus gehabt hatte.

„Guten Abend, Narzissa.“ Gregory war immer schon höflich gewesen, doch seitdem Draco und er nach Hogswarts gingen und sie ihn allerhöchstens in den Sommerferien oder an Weihnachten zu sehen bekam, hatte sie manchmal das Gefühl, er würde sie am liebsten „Mrs. Malfoy“ nennen. Als würde er sie nicht schon sein Leben lang kennen. Als hätte es nicht Wochen und Monate gegeben, in denen er quasi bei ihnen gewohnt hatte, damit Erwin seine Wunden lecken, seinen Verlust betrauern und seiner Zerstörungswut freien Lauf lassen konnte, ohne dass Gregory darunter zu leiden hatte.

Hinter ihr raschelten die Flammen des Kamins und ein weiterer Gast kündigte sich an. Draco warf ihr einen mahnenden Blick zu. „Mum…“

„Ich bin schon weg. Aber ich musste doch Gregory Hallo sagen!“ Das war nicht einmal eine faule Ausrede. Es war ihr wirklich wichtig gewesen, ihn zumindest begrüßen zu können. Sie griff nach Gregorys Hand und drückte sie noch einmal fest. „Der Kuchen ist mit Erdbeeren, aber wir haben auch Kekse. Falls Draco sie nicht versteckt hat, weil er seine Freunde auf Diät halten will.“ Auf Gregorys Gesicht zeichnete sich ein schwaches Lächeln ab.

„Danke.“

„So, und jetzt lasse ich euch alleine. Ich wünsche euch viel Spaß – und bitte sieh zu, dass ihr in den Salon geht, wenn es spät wird. Nachts ist es immer noch kalt und ich habe keine Lust, Briefe von Müttern zu bekommen, die sich beklagen, weil ihre Kinder sich bei mir eine Erkältung geholt haben!“ Sie ließ Gregorys Hand schweren Herzens los und wandte sich Draco zu. „Der Schrank mit den Whiskeyvorräten deines Großvaters ist abgeschlossen, also denk keine Sekunde darüber nach. Im Kühlschrank unten sind zwei Flaschen Elfenwein. Damit dürft ihr von mir aus machen, was ihr wollt.“

Die Spannung stieg, als ein Mädchen aus dem Kamin kletterte. Sie stolperte beinahe über ihre eigenen Füße, hatte glatte, dunkelblonde Haare und ein rundes Gesicht. Trotz ihrer gebückten Haltung konnte man erkennen, dass sie für ihr Alter sehr große Brüste hatte – überhaupt kam ihr dieses Mädchen ausgewachsen vor. „Hallo Millicent.“ Draco betonte den Namen und warf ihr einen ganz üblen Blick zu. Sie lächelte noch einmal in die Runde und ging dann schweren Herzens die Treppe hoch.

Lucius saß im Wohnzimmer, hatte einen Mehlfleck auf seinem Hemd übersehen und wirkte auch sonst nicht wie jemand, den seine Umgebung besonders interessierte. Er hatte ein plüschiges, gelbes Kissen im Nacken, das sie mittlerweile verboten hässlich fand, aber trotzdem liebte.

„Sind alle heil angekommen?“

„Von wegen. Ich wurde vertrieben… von meinem Baby. Weißt du, wie man sich da fühlt?“

„Ungeliebt?“

„Alt. Ich fühle mich alt. Wie kann es sein, dass wir ein fünfzehnjähriges Baby haben? Wie kann es sein, dass unser Baby eine Freundin hat?“ Sie wusste, dass sie ihrem Drang zum Melodramatischen nachgab, aber sie konnte nicht anders, als sich seufzend neben ihn fallen zu lassen.

„Er hat was?“

„Ihr Name ist Pansy. Stellen wir uns gleich zusammen ans Fenster und hoffen, dass wir sie sehen können? Es sind nur zwei Mädchen eingeladen – und Millicent habe ich schon gesichtet. Bitte. Wenn ich da alleine stehe, dann komme ich mir wie ein ganz erbärmlicher Spion vor.“ Er schmunzelt und legt einen Arm um sie.

„Von mir aus.“

„Als wärst du kein bisschen neugierig.“

„Seit wann schreiben wir Privatsphäre denn nicht mehr groß?“ Er zieht sie an sich und küsst sie auf den Mund. Sie ist versucht, den Kuss zu erwidern, aber gegenwärtig interessiert sie das Liebesleben ihres Sohnes ein klitzekleines Bisschen mehr als ihr eigenes.

„Ich muss dir noch was erzählen.“

„Noch eine Pansy? Dann muss ich aber ein Machtwort sprechen.“

„Ich habe heute meine Nicht kennengelernt.“ Lucius ist so sprachlos wie sie sich gefühlt hat, als Alastor Moody ihr seine bunte Begleitung vorgestellt hat. „Ihr Name ist Nymphadora. Sie ist Aurorin. Und ein Metamorphmagus.“

„Geht es dir gut?“ Er hat sich aufgerichtet und sieht sie besorgt an. Ehrlicherweise zuckt sie mit den Schultern. „Wo seid ihr euch über den Weg gelaufen? Du hast doch das Haus nicht verlassen.“

„Moody war hier. Mit ihr. Hat von einer Hausdurchsuchung gesprochen, aber er muss gewusst haben, dass ich ihm das nicht noch einmal durchgehen lasse. Ich weiß nicht, warum er sie mitgebracht hat. Was das für ein Manöver gewesen ist.“

„Das würde ich aber auch gerne wissen… und habt ihr miteinander gesprochen?“

„Nicht wirklich… sie ist Andromeda wie aus dem Gesicht geschnitten. Na ja, eigentlich hat sich ihr Gesicht permanent verändert, aber ich glaube, das war Absicht, um mich zu irritieren.“ Sie schmiegt sich an Lucius und vergräbt ihr Gesicht an seinem Hals. Eigentlich will sie heute nicht weinen. Eigentlich will sie nicht einmal traurig sein.

„Meinst du, sie ist wirklich Aurorin? Vielleicht war das nur eine Lüge? Vielleicht war diese Frau auch eine völlig Fremde und Moody hat einfach nur versucht, dich zu schockieren? Der Kerl ist mit allen Wassern gewaschen, das darfst du nicht vergessen.“

„Ich glaube nicht, dass es eine Lüge war… es hat sich alles nicht wie eine Lüge angefühlt.“ Lucius beißt sich auf die Lippe, aber er sagt nichts. Er sagt nicht, dass sie nicht unbelügbar ist. Das Gegenteil hat er ihr immerhin in regelmäßigen Abständen bewiesen. „Können wir jetzt Pansy Parkinson beobachten? Von der Bibliothek aus müsste man eine gute Sicht haben…“

„Na dann, auf geht’s.“

Irgendwie schafft er es, einigermaßen elegant aufzustehen und sie gleichzeitig auf ihre Füße zu stellen. Er lässt sich nicht zu einem einzigen spöttischen Kommentar hinreißen, als sie in der verstaubten Bibliothek stehen und sie sich bemüht, die dauerhaft verschlossenen Gardinen so unauffällig wie möglich zu öffnen. Draußen ist es noch hell, aber da sie das Licht nicht angemacht haben und vermutlich sowieso niemand in Richtung des zweiten Stockwerks schaut, ist es eher unwahrscheinlich, dass sie gesehen werden.

Ihre Augen müssen sich an die Entfernung und an das Dämmerlicht gewöhnen, doch nach und nach erkennt sie die einzelnen Gestalten, die sich auf den Gartenmöbeln verteilt haben. Gregory sitzt mit zwei Jungen und einem Mädchen an einem der Tische. Insgesamt zählt sie sechs Personen, besagter Blaise scheint also zu fehlen – oder irgendjemand verspätet sich.

Draco steht ein wenig abseits des Tisches, an dem die anderen sitzen und macht irgendwelche Handbewegungen in Richtung des Gartens. Das Gehege mit den Pfauen ist in sicherer Entfernung, aber immer noch in Sichtweite und es scheint so, als hätte Dracos Gesprächspartnerin sich danach erkundigt. Narzissa kann ihr Gesicht nicht sehen, aber selbst von hinten ist sie sich alleine der Haarfarbe wegen sicher, dass es sich dabei nicht um Millicent Bulstrode handelt.

„Das ist sie. Das Mädchen, mit dem er spricht.“

„Also ich sehe nichts außer… Haaren.“ Dunklen Haaren, die zu einem sorgfältigen Zopf geflochten waren. Das Mädchen hatte mit Sicherheit mehr als fünf Minuten vor dem Spiegel verbracht. Sie hielt die Luft an, als Pansy sich umdrehte, sodass sie ihr Gesicht erkennen konnten. Zumindest halb. „Sieht doch nett aus.“

„Findest du?“

„Findest du, sie sieht nicht nett aus?“

„Doch… sicher. Aber der Rock ist ein bisschen billig... Oh Gott, ich klinge wie meine Mutter.“  Sie stützt sich auf der Fensterbank ab und überdenkt ihr Urteil. So kurz scheint der Rock doch nicht zu sein. Sie hat es nur gedacht, weil Pansy ständig mit den Händen an dem Rocksaum zupft, als ob er zu kurz wäre. „Ja, sie sieht nett aus… vielleicht wird sie uns ja noch vorgestellt. Vielleicht sogar schon diesen Sommer?“

„Das bezweifle ich ganz ganz stark.“

„Nur weil du Abraxas und mich jahrelang voneinander ferngehalten hast… vielleicht geht Draco ja anders damit um. Immerhin ist sie schon in unserem Garten. Wir sind quasi in Rufweite.“

„Möchtest du wetten, dass er es nicht tun wird?“

„Um Geld?“

„Um was sonst?“

„Die Ehre?“

„Davon hab ich nicht genug. Da spare ich lieber.“ Er hat einen Arm um sie gelegt, sie ein Stück vom Fenster weggezogen und beinahe unbemerkt hat es seine Hand unter ihren Rocksaum geschafft.

Seitdem Draco nach Hogwarts geht und damit mehr oder minder aus dem Haus ist, gibt Lucius sich immer ein bisschen zurückhaltend, wenn Draco dann einmal da ist. Sie ist sich nicht sicher, wieso sich das so entwickelt hat, denn früher haben sie ganz bestimmt nicht bei jedem kleinen Kuss oder jeder Berührung darüber nachgedacht, ob Draco im selben Raum ist. Auch wenn es nicht selten leise Würgegeräusche gab. Es ist ihre feste Überzeugung, dass es einem Kind keine irreparablen – oder überhaupt irgendwelche – Schäden hinzufügt, wenn es sieht, wie die eigenen Eltern Händchen halten. Die davon abweichende Sichtweise von Lucius hat dazu geführt, dass er sie seit einer Woche kaum angerührt hat, wenn sie denn nicht gerade nebeneinander im Bett lagen. Doch selbst dort waren irgendwelche Akten oder Romane mit Sogwirkung nie besonders weit. Sie weiß, dass er nervös ist. Weil das Mal jederzeit wieder brennen könnte. Weil es früher oder später passieren wird. Weil der dunkle Lord ihn nicht vergessen hat. Sie ist auch nervös, wenn sie zu genau darüber nachdenkt, aber es sind Sommerferien, Draco ist da und sie will nicht, dass sich die Nervosität im ganzen Haus ausbreitet.

Doch jetzt scheint Lucius weder an Aktenstapel, noch an den dunklen Lord zu denken. Sie kann sich einen kleinen, überraschten Aufschrei nicht verkneifen, als er sie ein Stück hochhebt, sie noch etwas weiter von dem Fenster mit Blick auf den Garten wegträgt und schließlich auf einer Fensterbank in einer anderen Ecke des Raumes absetzt. In ihrem Rücken kann sie das dicke, kühle Glas durch den schweren Stoff der vorgezogenen Gardinen spüren. Seine Hände liegen ruhig und zufrieden auf ihrem Oberschenkel, der Stoff ihres Rocks ist nach oben gerutscht und er begnügt sich trotzdem damit, sie einfach nur zu küssen, bis ihre Füße anfangen zu zappeln und sie nicht länger an sich halten kann. Sie rutscht auf der Fensterbank nach vorne, schmiegt sich an ihn und schiebt seine Hände weiter ihr Bein nach oben. Ganz flüchtig hat sie noch den Gedanken, dass sie vor Beginn des nächsten Schuljahres unbedingt das peinliche Gespräch mit Draco suchen sollten. Auch wenn sie Pansy Parkinson womöglich niemals offiziell kennenlernen würden.

Chapter 32: Treue Hunde

Chapter Text

32 – Treue Hunde



Das Ende des Sommers ist schon lange keine aufregende Angelegenheit mehr. In ihrem Leben ist der erste September einfach ein Tag wie jeder andere Tag auch – nur dass eben ein vormittäglicher Besuch in London feststeht. Im letzten Jahr hat Lucius sie und Draco nicht einmal begleitet, weil eine wichtige Zusammenkunft des Zaubergamots auf dem Plan gestanden hatte. Doch an diesem ersten September besteht Lucius ausdrücklich darauf, dass sie das Haus nicht ohne ihn verlassen, er nimmt sich sogar den ganzen Tag frei, obwohl es mit einer Stunde am Vormittag getan wäre.

Draco und Lucius spekulieren halbherzig darüber, wer oder was dieses Jahr die Stelle als Professor für Verteidigung gegen die dunklen Künste erhalten haben könnte, obwohl Lucius bereits einen Namen kennt. Sie waren sich jedoch einig, dass Draco keine innerministeriellen Informationen erhalten muss, wenn es nicht zwingend nötig ist. Und ihn darüber aufzuklären, dass er bald Bekanntschaft mit einer Dame namens Dolores Umbridge machen wird, ist absolut unnötig.

Mit einem Auge sucht sie nach der Familie Goyle, mit dem anderen Auge hofft sie, dass Pansy Parkinson den Mumm hat, Draco zuzuwinken. Doch statt einer tapferen Fünftklässlerin oder Erwin Goyle entdeckt sie Harry Potter  –  und einen Hund. Sie muss kein zweites Mal hinsehen, um zu begreifen, dass Dracos Mitschüler sich kein Haustier zugelegt hat, sondern ihr eigener Cousin offenbar immer noch ein Narr ist. Und lebensmüde noch dazu. Insgeheim hat sie gehofft, dass Sirius nach seiner Flucht aus Askaban so viele Meilen wie möglich zwischen England und sich bringen würde. Sie hat sogar gehofft, er würde den Kontinent verlassen. Sich vielleicht in die Antarktis verziehen. Er hatte den Winter immer lieber als den Sommer gehabt.

Der Anblick des zufrieden kläffenden Hundes, der ohne Leine neben Harry Potter herging und schließlich in der Menschenmenge verschwand, hatte sie dermaßen gebannt, dass sie die Ankunft der Goyles nicht bemerkt hatte. Emma – der hübsche, aber belanglose Ersatz, den Erwin für Diana gefunden hatte – begrüßte sie mit einer vorsichtigen Umarmung. Sie war eine nette Frau – und sie beging nicht die Dummheit zu glauben, dass Narzissa sie jemals als eine vollwertige Freundin betrachten konnte.

„Zissy, was ist los?“ Irgendwann, wenige Tage nach der Schlagzeile, dass Sirius Black als erster Mensch auf Erden mit Erfolg aus Askaban ausgebrochen war, hatte sie einen schwachen Moment gehabt und Lucius von ihrem Cousin erzählt. Bis zu diesem Moment hatte sie stets vorgegeben, Sirius immer eher flüchtig gekannt und nie besonders gern gehabt zu haben. Einen schwierigen Charakter hatte sie ihn genannt. Doch es war anstrengend, jemanden zu verleugnen, der jeden Tag in der Zeitung stand – und deshalb zwangsläufig immer wieder zum Thema wurde.

„Nichts.“ Lucius packte ihren Ellenbogen, als sie versuchte, einen Schritt von ihm weg zu machen. „Er ist hier.“

„Wer?“ In Lucius' Augen flackerte Besorgnis auf. Natürlich. Er wartete nicht auf Sirius. Er wartete darauf, dass sich ein anderer Schatten bei ihm meldete. Wie hätte er sie nicht missverstehen können. Diese Befürchtung musste sie ihm nehmen. Rasch stellte sie sich auf die Zehenspitzen und kam ihm so nah, dass ihr Mund beinahe sein Ohrläppchen berührte.

„Sirius. Der Hund. Da hinten. Bei den Weasleys…“ Bei Alastor Moody. Und bei Nymphadora Tonks. Die beiden Auroren hatten längst bemerkt, dass Narzissa – und nun auch Lucius – in ihre Richtung sah. Beide wirkten jedoch nicht so als hätten sie einen Mann in Gepäck, der in wer weiß wie vielen Staaten gesucht wurde. „Vergiss es. Ich hab mich bestimmt verguckt. Sieh nicht hin.“ Lucius tat ihr den Gefallen und richtete seinen Blick auf ihr Gesicht.

„Ist sie das? Nymphadora?“ Sie nickte und bemerkte aus dem Augenwinkel, dass Draco und Gregory nicht wie angenommen in eine rege Unterhaltung vertieft waren. Gregory starrte in Richtung der dampfenden Lokomotive, die in wenigen Minuten abfahren würde – und Draco beobachtete sie. Es war ganz eindeutig, dass er ihnen zugehört hatte.

„Es gehört sich nicht, zu lauschen, Draco.“

„Ich hab nicht gelauscht. Ich dachte, wir unterhalten uns vielleicht noch, bevor wir uns bis Weihnachten nicht sehen?“ Bei Bedarf konnte er wirklich ein Unschuldslamm sein. Sie wollte gar nicht wissen, wie oft Lucius und sie sich schon ungehört und ungesehen geglaubt und sich damit geirrt hatten. „Und wenn ihr Geheimnisse haben wollt, müsst ihr unauffälliger sein. Also, über wen redet ihr? Die Hexe mit den goldenen Haaren?“

Die Haare von Nymphadora Tonks hatten in diesem Augenblick in der Tat die Farbe von flüssigem Gold. Lucius wirkte ausgesprochen verstimmt, weil Draco sich einmischte und strengte sich an, eine Unterhaltung mit Erwin und Emma zustande zu bringen. Sie zog Draco ein Stück abseits und ließ den Ärmel seines Pullovers nicht los.

„Du wirst mit deinen Mitschülern nicht über unsere Familie sprechen. Solange das Ministerium Harry Potter als einen Lügner darstellt, wirst du das auch tun. Du hast keine Ahnung, was der Orden des Phönix' ist, dass Harry Potter vom Zaubergamot verhört wurde und was auch immer du sonst noch so aufgeschnappt hast. Hast du mich verstanden?“

„Ja, Mum, aber… wieso erzählt ihr mir nie irgendwas? Du hast doch neulich selbst gesagt, ich bin kein Kind mehr, also warum erfahre ich immer nur das Nötigste? Sag mir doch einfach, wer die Frau ist und warum ihr sie so angestarrt habt.“ Wenn er sie so flehentlich – und zugleich gekränkt – ansah, dann konnte sie ihm keinen Wunsch abschlagen. Und er hatte ja Recht. Er war kein Kind mehr. Und auch, wenn sie ihn am liebsten von all dem fernhalten würde, war ihr auch klar, dass sie nicht für immer aus allem ein Geheimnis oder ein Gerücht machen konnten.

„Diese Frau ist eine Aurorin. Sie gehört wahrscheinlich genau wie Alastor Moody zum Orden des Phönix'. Ihr Name ist Nymphadora Tonks. Sie ist die Tochter von Andromeda.“ Den Namen hatte sie gelegentlich gebraucht und bei den seltenen Besuchen in ihrem Elternhaus hatte Draco auch den einen oder anderen Blick auf den Wandteppich mit dem Stammbaum erhascht. „Deine Tante Andromeda.“

„Wie alt ist sie, wenn sie schon Aurorin ist? Sie sieht nicht so erwachsen aus…“ Das tat sie wirklich nicht. Schon gar nicht, wenn zu den goldenen Locken ein lustiger, papageienartiger Schnabel dazukam.

„Sie dürfte ungefähr sieben Jahre älter sein als du.“

„Und woher weißt du, dass sie Aurorin ist? Ich dachte immer, du hättest keinen Kontakt zu… Andromeda.“ Er kam sich offenbar sehr merkwürdig dabei vor, diesen Namen auszusprechen.

„Dein Vater arbeitet im Ministerium. Er kennt den Namen von jedem Angestellten. Das weißt du doch… außerdem hat sie uns besucht.“ Wenn Dracos Augenbrauen so in die Höhe gingen, dann sah er Lucius wirklich unheimlich ähnlich. Ob er sich diese mimische Eigenart bewusst abgeschaut hatte? Sie selbst tat nicht besonders viel mit ihren Augenbrauen, da war sie sich sicher. „Zu Beginn des Sommers. Moody wollte unser Anwesen durchsuchen. Er ist… paranoid ist zu viel gesagt, aber er ist sehr penetrant. Und er glaubt ganz sicher nicht daran, dass Harry Potter ein durchgeknallter Fünfzehnjähriger ist, der unbedingt auf alle Titelseiten will.“

„Okay… danke.“

„Wofür denn jetzt der Dank?“

„Dad hätte gelogen, wenn ich ihn gefragt hätte.“

„Dein Vater ist kein Lügner.“ Es sieht ganz furchtbar aus, wenn Draco so mitleidig lächelt.

„Jetzt lügst du. Und zwar nicht nur für mich, sondern auch für dich.“

„Sei nicht so spitzfindig. Soll ich dich so in Erinnerung behalten?“ Draco schüttelt stumm den Kopf und lässt für etwa zehn Sekunden zu, dass sie ihn an sich und einen Kuss auf seinen Scheitel drückt. „Schreib mir. Noch vor Ende des Monats. Sonst schicke ich Professor Snape einen Brief.“

„Ich werde euch schreiben.“

„Sehr gut. Und jetzt verabschiede dich von deinem Vater.“ Pflichtbewusst nickt Draco und sie genießt das jährliche Spektakel. Sie weiß nicht mehr so genau, wann ihr aufgefallen ist, dass Lucius und Draco manchmal ganz eigenartig miteinander umgehen. In welchem Alter diese gegenseitige Verunsicherung angefangen hat. Gut findet sie das nicht, aber sie versucht, die lustigen Momente zu sehen. So wie die hilflosen Umarmungen am Gleis 9 ¾, die sind ein Witz, der nie alt wird.

Gemeinsam mit Erwin und Emma beobachten sie, wie Draco und Gregory in den Zug steigen, sich noch umdrehen, synchron winken und hoffen, von keinem ihrer Mitschüler dabei gesehen zu werden. Schmunzelnd lehnt sie sich gegen Lucius, der prompt zusammenzuckt.

„Also dann, also dann… ich muss zurück in die Bank. Ich hab um 12 Uhr einen Termin. Es war schön, dich mal wieder zu sehen, Narzissa… Lucius, wir… wir sprechen uns sicher bald.“ Erwin Goyle kniff leicht die Augen zusammen und versuchte sich an einem freundlichen, verbindlichen, nicht allzu nervösen Lächeln. Daneben wirkte Emma, die beinahe auf Knopfdruck strahlen konnte, wie eine Karikatur.

„Sicher.“

Niemand besteht auf eine herzliche Verabschiedung und mit der Disapparation der Goyles verschwinden auch knapp ein Dutzend andere Personen im Nichts. Der Zug fährt langsam an und abgesehen von den Erst- und Zweitklässlern sieht man kaum noch winkende Hände und plattgedrückte Nasen hinter den Scheiben des Zuges.

„Was hast du ihm noch gesagt?“

„Ich hab ihn daran erinnert, dass es nicht vernünftig wäre, irgendetwas zu wissen, was ein Fünftklässler nicht wissen darf.“

„Und du meinst, er hört auf dich?“

„Ich will es hoffen.“ Sie wussten beide, dass Draco ein kleiner Angeber sein konnte. Er hasste nichts mehr als das Gefühl, von allen im Raum am wenigsten zu wissen. Wenn er sich unterlegen fühlte, dann konnte er unausstehlich sein, das hatte sich schon früh abgezeichnet und sie wusste nicht, wie sie ihm die Neigung, sich aufzuspielen und laut zu werden, wenn er eigentlich nervös war, abgewöhnen konnte. Dafür war es wahrscheinlich ohnehin zu spät. „Und was machen wir jetzt?“

„Wir?“

„Ja, du und ich. Hast du das Konzept nach sechs Wochen schon wieder verdrängt?“ Lucius schüttelt lächelnd den Kopf. „Ich meine ja nur, es ist ein Freitag und du wirst den Tag nicht im Ministerium verbringen. Da müssen wir doch was draus machen.“

„Und was würdest du gerne machen?“

„Weißt du, wo wir ewig nicht mehr gewesen sind?“

„Nein, aber ich hab so im Gefühl, dass du es mir gleich sagen wirst.“

„Wenn ich so vorhersehbar bin, dann werde ich das vielleicht besser nicht tun.“ Sie hält ihm ihre Hand hin. „Vertraust du mir?“

„Was für eine Frage.“

* * *



An einem Freitagmittag war in dem Lokal „Zur Goldenen Chimäre“ zwar nicht der sprichwörtliche Gnom begraben, aber die Tische in ihrer Nähe blieben frei, sodass sie nicht das Gefühl hatte, flüstern zu müssen.

„Und, was hältst du von Nymphadora? Findest du auch, dass sie Andromeda zum Verwechseln ähnlich sieht?“ Die leeren Teller waren bereits abgeräumt worden und vor ihnen stehen zwei volle Tassen Tee. Selbst wenn Lucius diese Unterhaltung aus irgendwelchen ominösen Gründen nicht führen möchte, er wird es müssen.

„Ich hab sie doch nicht aus der Nähe zu sehen bekommen… aber nein, so stark fand ich die Ähnlichkeit nicht. Das mag aber an den Haaren liegen. Die erschienen mir doch eher… einzigartig.“

„Ja, aber das Gesicht? Hast du gar nicht auf ihr Gesicht geachtet?“

„Doch, schon, aber… das klingt jetzt furchtbar blöd, aber ich weiß gar nicht mehr so genau, wie deine Schwester früher eigentlich aussah. Ich weiß noch, wie sehr Bellatrix und sie sich glichen, aber… wenn ich an sie denke, dann sehe ich deshalb leider immer nur Bellatrix.“ Leider. War das echtes Bedauern oder tat es ihm nur leid, dass er so ein schlechtes Erinnerungsvermögen hatte? „Gesichter sind nicht unbedingt das, was ich mir merke.“

„Ich weiß.“ Es war immer wieder kurios, wenn Lucius irgendwelche Personen für sie beschrieb, die er irgendwo getroffen und mit denen er manchmal sogar gesprochen hatte – und die er doch nicht einordnen konnte. Die Hexe mit den roten Haaren, die einen lilafarbenen Umhang getragen hatte. Der Mann mit der Brille und den haarigen Ohren. Einmal waren sie Arthur Weasley in der Winkelgasse begegnet und Lucius hatte doch tatsächlich herzlich gegrüßt. Als sie ihn wenige Meter später darauf angesprochen hatte, war er heillos irritiert gewesen. Am Ende hatte er zugegeben, Arthur Weasley gar nicht richtig erkannt zu haben. Er hatte lediglich das Gefühl gehabt, diesen Mann aus dem Ministerium zu kennen und deswegen der Form halber gegrüßt. Der Grund für diesen Aussetzer war die simple Begebenheit, dass Arthur Weasley eine Mütze getragen hatte, die seine auffallenden, roten Haare verdeckt hatte. „Hast du eigentlich mal darüber nachgedacht, dich untersuchen zu lassen?“

„Weswegen?“

„Weil du nicht mehr weißt, wie meine Schwester aussieht.“

„Ich bitte dich, Zissy, ich habe Andromeda seit über zwanzig Jahren nicht gesehen. Und es ist ja nicht so, als wäre ich mit ihr aufgewachsen.“ Es ist nicht seine stärkste Defensive. Er weiß ja auch, dass sie ihn deswegen nicht wirklich ins St. Mungo schicken will. Sie würde nur manchmal gerne besser verstehen, wie sein Kopf eigentlich funktioniert.

„Nein, aber du bist immerhin sieben Jahre lang mit ihr zur Schule gegangen. Ihr hattet etliche Kurse zusammen. Ihr müsst euch stundenlang gesehen haben.“

„Das heißt doch gar nichts. Weißt du, wie viele Leute ich tagtäglich sehe? Ich kann mich unmöglich an jedes Gesicht erinnern. Ich bin froh, dass ich mir alle Namen und die Zuordnungen zu den Abteilungen merken kann. Das ist viel wichtiger.“ Beschwichtigend legt sie ihre Hand auf seiner Brust ab.

„Ich wollte dich nicht kritisieren. Ich finde es nur interessant, was du vergisst und was nicht.“ Er wirkte besänftigt und entspannte sich ein wenig. Es tat ihr beinahe leid, dass sie noch eine Frage an ihn hatte, die nicht besonders angenehm war. „Meinst du, du würdest sie wiedererkennen?“

„Keine Ahnung… wieso ist das so wichtig?“

„Wenn ihre Tochter Aurorin ist, dann gehört sie vielleicht auch zum Orden. Was ist, wenn es wieder Patrouillen gibt? Was wäre, wenn du ihr irgendwo begegnen würdest?“

„Jetzt denkst du aber sehr weit voraus. Und um sehr viele Ecken.“ Er legt einen Arm um sie und zieht sie auf der Sitzbank ein wenig näher an sich. „Ich mag mich nicht an das Gesicht deiner Schwester erinnern, aber ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie diplomatisch Andromeda immer gewesen ist. Sie hat es immer geschafft, sich aus allem rauszuhalten und einen trotzdem wissen zu lassen, wenn man von ihr verabscheut wird. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie diese Kunst im Alter nur weiter perfektioniert hat. Es kommt mir höchst unwahrscheinlich vor, dass sie im Orden des Phönix an vorderster Front kämpft. Ich könnte mir sogar gut vorstellen, dass sie die Berufswahl ihrer Tochter nicht unbedingt gutheißt. Als Black lebt es sich immerhin gefährlich im Ministerium.“

„Sie heißt doch nicht Black.“

„Aber sie ist eine Black. Oder meinst du, die Stammbäume der Mitarbeiter wären unbekannt? Bei der Ausbildung in der Aurorenzentrale werden Name von Mutter und Vater angegeben, ein potenzieller kritischer Hintergrund wird überprüft. Moody, Kingsley, Scrimgoeur, und wie sie alle heißen, leisten da schon gründliche Arbeit. Selbst Fudge wird sich darüber im Klaren sein, dass er eine Black unter sich stehen hat. Und wenn man bedenkt, dass Sirius Black und Bellatrix Black zu einer lebenslangen Haftstrafe in Askaban verurteilt worden sind, dann kann man durchaus von einem kritischen Hintergrund sprechen. Das Mädchen hat es bestimmt nicht immer leicht gehabt.“

„Ich wusste nicht, dass das Ministerium da so sorgfältig vorgeht.“

„Ich gehe zumindest so sorgfältig vor. Und viele der Abteilungsleiter tun es auch. Wenn jemand eine Ausbildung anfängt oder sich auf eine Stelle bewirbt, dann werden ziemlich viele Informationen aufgenommen. Jeder, der für das Ministerium arbeitet, egal in welcher Position, hat eine Akte. Natürlich sind viele dieser Akten sehr dünn und sehr langweilig, aber es gibt sie. Zugänglich sind sie dem Zaubereiminister und, bei Bedarf, den Abteilungsleitern oder Angestellten in leitenden Positionen. Und Moody ist ein Auror in leitender Position.“

„Und diese Akten, die werden von dir angelegt und verwaltet und geprüft und sonst was?“

„Unter anderem. Eher geprüft als angelegt. Dafür war ich früher zuständig. Das weißt du doch alles.“ Ja, eigentlich wusste sie das, aber sie hatte sich nie klargemacht, was das eigentlich bedeutete. Und offenbar war Lucius nicht klar, dass er gerade keine dummen Fragen beantwortet, sondern sich selbst in eine Zwickmühle gebracht hatte.

„Dann hast du bereits gewusst, dass Nymphadora Tonks eine Aurorin ist. Dann musst du gewusst haben, dass sie existiert und was sie tut.“ Sofort verzieht er das Gesicht. Diese Schlussfolgerung hat er eindeutig nicht kommen sehen. Er ist heute nicht in Form. Es gelingt ihr immer seltener, ihn so kalt zu erwischen. „Hast du es mir absichtlich verschwiegen oder dachtest du, Tonks wäre ein häufiger Nachname?“

„Ich habe es dir absichtlich verschwiegen. Aber es… sie hat sich vor vier Jahren im Ministerium vorgestellt. Im Sommer vor Dracos Einschulung. Da war Gregory fast jeden Tag bei uns, der Verlust von Diana war immer noch sehr frisch und du… ich hatte ehrlich gesagt Angst, wie du reagieren würdest, wenn ich dir eröffne, dass ich eine Akte für deine Nichte angelegt habe.“

„Ich hasse es, wenn du darüber entscheidest, was ich wissen darf und was nicht. Das habe ich schon immer gehasst.“

„Ich weiß.“ Er seufzt leise. „Ich wollte dich schützen.“

„Oh, ich weiß. Du meinst es immer gut mit mir. Aber ich hasse das trotzdem.“ Er drückt sie entschuldigend an sich und sie kommt sich vor, als wäre sie nur halb so alt wie sie eigentlich ist, als sie die Hände vor der Brust verschränkt. Sie ist zu alt, um überzeugend zu schmollen.

„Ich liebe dich?“

„Warum klang das jetzt wie eine Frage?“

„Weil ich wünschte, mir würde eine bessere Entschuldigung – oder wenigstens eine solide Rechtfertigung – einfallen, aber es gibt keinen anderen Grund dafür, dass ich das immer wieder tue. Also verzeihst du mir? Oder bist du vielleicht am Montag weiter auf mich sauer und vergisst für das Wochenende, dass ich ein Scheusal bin?“

„Du bist kein Scheusal.“ Sie dreht sich zu ihm und will eigentlich nach seiner Hand greifen, streift dabei versehentlich sein Handgelenk und zuckt augenblicklich zurück. Selbst durch den Stoff des Hemdes fühlt seine Haut sich heiß an. Als hätte er Fieber. Oder eine Entzündung. Vorsichtig tastet sie seinen Arm ab, doch der fühlt sich wie immer an. „Tut es weh?“

„Ein bisschen. Ich vermute, dass heute Abend eine Versammlung ist.“ Lucius' Mundwinkel zucken, aber er sieht dabei kein bisschen fröhlich aus. „Er nimmt ja durchaus Rücksicht auf die arbeitende Bevölkerung und meldet sich nicht mitten am Tag.“

„Und er hat bis zum ersten Schultag gewartet. Das ist… nein, rücksichtsvoll ist das nicht. Es zeigt nur, dass du wohlüberlegt terrorisiert wirst. Hat Erwin es auch gefühlt? Hat er deswegen gesagt, ihr seht euch bald?“

„Vermutlich.“

„Willst du nach Hause? Oder… ich weiß nicht, machen wir heute noch was Schönes? Wir könnten spazieren gehen. Oder in den Zoo. Wir waren ewig nicht mehr im Zoo und als ich Draco letzte Woche gefragt habe, da hat er so getan, als wäre das eine total lahme Idee. So hat er das gesagt: Das ist total lahm, Mum.“

„Du solltest ihm seine Launen wirklich nicht alle durchgehen lassen… auch wenn er nicht ganz Unrecht hat.“ Ohne Rücksicht darauf, dass die Schmerzen sich vielleicht nicht alleine auf sein Handgelenk beschränken, schlägt sie ihn mit der flachen Hand gegen die Schulter. Er lacht, aber besonders glücklich ist er immer noch nicht. Doch wie sollte er auch.

Chapter 33: Schwarze Löcher

Chapter Text

33 – Schwarze Löcher



„Das fühlt sich seltsam an.“ Sie konnte ihren Blick nicht von dem Weihnachtsbaum abwenden. Er war kleiner als in den vergangenen Jahren und kam ihr weniger gut beleuchtet vor. Es lag kein Schnee, es war einfach nur eisig kalt und dennoch fühlte sie sich in zwei Decken eingewickelt, auf ihrem Sofa, in ihrer Ecke, nicht wohl. „Ich warte die ganze Zeit darauf, dass Draco mit zwei schlecht verpackten Geschenken aus seinem Zimmer kommt.“

Lucius arbeitet sich an dem Korken einer Flasche Elfenwein ab, die er mutmaßlich ganz alleine trinken wird. Oder die bis ins neue Jahr hinein in der Küche stehen wird. Ihr ist nicht nach einem Glas Wein. Nicht mal fürs Gefühl. „Letztes Jahr ist er doch auch in der Schule geblieben.“

„Ja, aber letztes Jahr war auch der Weihnachtsball. Das Trimagische Turnier. Da ist niemand nach Hause gefahren… Gregory ist zuhause.“

„Und das ist dein Vorwurf an mich? Gregory ist nach Hause gefahren und Draco hat beschlossen, in Hogwarts zu bleiben? Wir haben ihn dazu ermuntert. Falls du dich erinnern kannst. Die Idee kam nicht von ihm.“ Das war richtig. Die Idee war von ihr gekommen, weil sie wusste, dass man Draco manchmal neue Möglichkeiten präsentieren musste. Und weil es nur vernünftig war, wenn er nicht nach Hause kam. Es war zwar nur eine vage Andeutung gewesen, doch der dunkle Lord hatte angekündigt, dass beim Jahreswechsel große Veränderungen bevorstünden und auch, wenn das für Narzissa eher nach einem missglückten Horoskop klang, wollte sie Draco nicht in Gefahr bringen.

„Ich weiß. Es ist trotzdem merkwürdig. Ich vermisse ihn.“

„Denkst du, ich nicht?“

„Ich weiß es nicht so genau… manchmal bin ich mir nicht sicher, ob dich seine Anwesenheit nicht stört. Wenn er da ist, dann benimmst du dich oft so grundlegend anders.“

„Ich will ihm ein gutes Vorbild sein. Und wenn wir ihn beide verhätscheln, was soll dann aus ihm werden?“

„Keine Ahnung. Was auch immer er aus sich machen möchte, schätze ich.“ Er reicht ihr ein halbvolles Glas, doch sie schüttelt den Kopf. Er lässt es bis zum Rand volllaufen, behält es für sich und setzt sich neben sie. Als er keine Anstalten macht, einen Arm um sie zu legen, sondern nur stumm an seinem Wein nippt, rutscht sie zu ihm herüber, nimmt ein Kissen und legt ihren Kopf in seinen Schoß.

„Bequem?“

„Sehr.“

„Also steht mir keine Grundsatzdiskussion darüber bevor, was wir bei Draco möglicherweise alles falsch gemacht haben?“ Sie macht ein verneinendes Geräusch. „Ich wäre ja immer für einen zweiten Versuch gewesen. Nur um zu sehen, ob wir überhaupt irgendwelche Erziehungserfolge hatten oder ob das am Ende nicht doch alles Glücksspiel ist.“

„Wärst du nicht lieber ein Einzelkind gewesen?“ Er gibt ihr keine Antwort, aber das hat sie auch nicht erwartet. „Ich würde manchmal gerne behaupten können, dass ich keine Schwester habe. Keine Schwestern. Oder wenigstens nur eine.“ Der letzte Satz war ihr einfach so herausgerutscht und sie konnte es Lucius nicht verdenken, dass er hellhörig wurde.

„Welche würdest du denn gerne eintauschen?“

„Muss ich das wirklich laut sagen?“

„Du musst natürlich rein gar nichts.“ Außer sterben. Das war auch kein schönes Thema für den Weihnachtsabend. Doch auch nach Minuten der stillen, heiligen Nacht wollte ihr kein Gesprächsthema einfallen, das nicht irgendwie grausam und unpassend gewesen wäre. Lucius' Hand hatte sich in ihren Haaren verloren, er wickelte immer wieder dieselbe Strähne mit seinem Finger auf und ließ sie in ihr Gesicht fallen. Es war ein bisschen nervig, aber irgendwie auch sehr beruhigend.

„Du hast noch gar nicht von der letzten Versammlung erzählt.“ Das war eine simple Aussage. Keine Frage und keine Aufforderung. Er konnte diese Bemerkung übergehen, wenn er das wirklich wollte. Wenn er glaubte, dass jedes Detail den Abend ruinieren würde. Oder wenn er ganz einfach nicht darüber sprechen mochte.

„Soll ich das? Interessiert dich das?“

„Natürlich interessiert mich das.“ Früher, vor fünfzehn Jahren, da hätte er vorgeschlagen, dass sie doch einfach mitkommen könnte. Das tat er nicht mehr. Sie musste nicht mehr darum bitten, dass er sie da raushielt. „Ich weiß immer noch nicht, wer alles da ist. Was ist aus den Leuten geworden?“

„Mit den meisten habe ich noch nie besonders viel zu tun gehabt… aber wenn das eine Märchenstunde sein soll, dann bitte. So spannend sind viele Werdegänge allerdings nicht. Mal überlegen… was aus Erwin geworden ist, das wissen wir ja beide, Walden Macnair wirst du auch noch nicht vergessen haben…Karkaroff, das ist auch klar. Auch wenn ich wirklich nicht weiß, wer diesen Kerl für einen fähigen Pädagogen hält. Kannst du dich an Thorfinn Rowle erinnern?“

„Nicht wirklich. Aber spannender Vorname.“

„Stimmt. Er hat einen Pub. Und einen eigenen Box-Verein. In Dublin. Man sollte nicht meinen, dass er irgendwann mal keinen Akzent hatte. Ist aber immer noch genauso unangenehm wie früher.“

„Ein Boxer? Wie reizend.“

„Ganz reizend, wirklich ganz reizend. Aber besonders illuster ist eigentlich nur die Karriere von Corban. Kannst du dich an Corban erinnern?“

„Corban Yaxley? Natürlich. Er war einer der Vertrauensschüler, als ich eine Erstklässlerin war. Er hat Andromeda immer nachgestellt. In meinem zweiten Schuljahr schon! Ich dachte immer, sie würde ihn vielleicht mal heiraten, weil er so groß und gutaussehend war.“ Lucius schnaubt belustigt, aber die Tatsachen leugnen, das konnte auch er nicht. „Er war auch immer furchtbar gut angezogen. Hat er geheiratet? Er war doch verschwunden, oder?“

„Unter der Wasseroberfläche abgetaucht – aber er ist wieder aufgetaucht. Im Sommer schon. Als wäre er nie fort gewesen. Als wäre er nicht noch am 31. Oktober 1981 in der Versenkung verschwunden. Und willst du wissen, was er gemacht hat? Es ist absurd, du kannst es eigentlich nicht erraten.“

„Hat er Schafe gezüchtet?“

„Nein… aber die Richtung ist gar nicht so falsch. Er hat sich nach Südamerika abgesetzt, Argentinien, glaube ich. Lebt auf einer Rinderfarm, handelt mit Vieh  – und betreibt nebenher ein Freudenhaus. Seine Worte, nicht meine.“

„Ein wahrer Tausendsassa.“ Sie kann nicht verhindern, dass sie pikiert klingt. So ein widerliches zweites Leben hätte sie Corban Yaxley nun doch nicht zugetraut. Hätte Lucius erzählt, dass er eine Maßschneiderei am Nordpol eröffnet hatte, sie hätte es sofort gebilligt. „Und das hat er dir einfach so erzählt?“

„Nicht mir, Erwin. Die beiden verstehen sich gut. Erwin hat ihm eine Unterkunft besorgt.“

„Und was passiert mit den kolumbianischen Konkubinen?“

„Argentinien, es war Argentinien.“

„Ich wollte nur kolumbianische Konkubinen sagen.“

„Hab ich mir gedacht. Noch mehr Einblicke ins Nähkästchen gefällig?“

„Bloß nicht, das ist ja… scheußlich. Komm bloß nicht auf die Idee, einen Zuhälter ins Haus einzuladen. Nein, das ist ja fürchterlich.“ Kaum hatte sie davon gesprochen, niemanden einzuladen, hörte sie ein dumpfes Klopfen. „Es klopft.“ Lucius verdreht die Augen. „Ich habe Abraxas gesagt, er kann sich melden, wenn er sich einsam fühlt.“

„Mein Vater ist nicht einsam. Er langweilt sich nur.“

„Langeweile kann ein Ausdruck von Einsamkeit sein… wollen wir nicht runtergehen? Es ist Weihnachten. Sonst feiern wir Weihnachten doch auch unten. Als Familie.“ Lucius scheinen die Widerworte schon auf der Zunge zu liegen. „Oder sind wir ohne Draco etwa keine Familie? Wohnen wir etwa rein zufällig mit deinem Vater in einem Haus?“

„Schon gut. Wir gehen runter. Lass mich nur noch austrinken.“ Sie hatte sich längst aufgerichtet und beobachtete ihn mit zusammengekniffenen Augen dabei, wie er das Glas penibel leerte. Nur nichts verschwenden. Nur nichts verschenken. „So, ich bin bereit. Aber zwei Stunden sind das Maximum. Und wenn irgendjemand auf die Idee kommt, den Magischen Rundfunk anzumachen und das Weihnachtskonzert von Celestina Warbeck zu hören, dann bin ich schneller weg als du Ein Kessel voll heißer, starker Liebe auch nur ansingen kannst.“

„Es ist wirklich hinreißend, dass du noch immer glaubst, du müsstest deine Bedingungen jedes Jahr wiederholen.“

* * *



Es ist der letzte Tag des Jahres und ihr ist speiübel. Sobald sie aufsteht, einen Schritt in den Tag hineintut, hat sie das Gefühl, sich innerhalb der nächsten Stunden noch mehrmals erbrechen zu müssen. Bisher ist das Unglück noch nicht eingetreten, doch Lucius scharwenzelt um sie herum, als hätte sie schon Blut gespuckt.

„Du machst mich nervös.“ Sie sitzt in eine Decke eingewickelt auf der breiten Fensterbank in der Bibliothek und sieht dabei zu, wie der Garten eingeschneit wird. Der letzte Schnee des alten und der erste Schnee des neuen Jahres. Lucius ist ihr nicht von der Seite gewichen, seitdem sie am Morgen ablehnend auf seinen Vorschlag, sich in die Küche zu stellen und in guter alter Tradition Pfannkuchen zu machen, reagiert hat. Als sie im Badezimmer gewesen ist, hat er ihr verboten, die Tür abzuschließen, auch wenn er sie im Zweifelsfall mit einem Zauber spielend leicht hätte öffnen können. Vor knapp einer halben Stunde war er wenige Minuten verschwunden, um danach zu sehen, wie die Pfauen mit der Witterung zurechtkamen, doch seit er wieder im Haus war, lief er im Zimmer auf und ab, als wollte er sie in den Wahnsinn treiben.

„Und du machst mir Angst.“

„Angst?“

„Was ist, wenn es irgendein kurioser Fluch ist? Diana hat immerhin am Silvestermorgen ein flaues Gefühl gehabt und am nächsten Tag…“ Sie macht eine energische Handbewegung, die verhindern soll, dass er diesen Satz zu Ende bringt. Doch das muss er gar nicht. Als könnte sie den rabenschwarzen Jahreswechsel vergessen, an dem Dianas Herz plötzlich beschlossen hatte, nicht mehr richtig zu funktionieren.

„Jetzt hör schon auf damit, Lucius! Ich hab in den letzten Tagen sicher nur zu viel gegessen. Das bin ich nicht mehr gewöhnt. Und es bekommt mir nie, wenn das Wetter so schnell umschlägt. Vor drei Tagen sind es sicher noch minus zehn Grad gewesen und jetzt ist es warm genug für Schnee.“

„Es ist enorm beunruhigend, wenn du versuchst, mich zu beruhigen. Weißt du das eigentlich?“

„Na schön, dann spüre ich eben sekündlich wie ich schwinde. Ich bin schwindsüchtig, ich hab es immer schon geahnt!“

„Niemand ist mehr schwindsüchtig.“ Wenn er so empört aussieht, dann ist ihr fast schon wieder nach Lachen zumute. Aber eben nur fast. „Es wäre wirklich schön, wenn du dich schonen würdest, anstatt deine Energie darauf zu verwenden, dich über mich lustig zu machen.“

„Ich mache mich nicht über dich lustig. Ich bin gar nicht lustig heute.“

„Aber auch nicht schwindsüchtig.“

„Nein, vermutlich eher nicht… es wird kein gutes Jahr. Ich weiß es einfach.“ An dieser Stelle hätte es zum guten Ton, zu den Grundprinzipien ihrer Ehe gehört, dass Lucius ihr widersprach, doch das tat er nicht. Mit einer stummen Handbewegung entfachte er das Feuer im Kamin und setzte sich – endlich endlich endlich – in den Sessel davor.

„In deiner Familie hat niemand das zweite Gesicht, oder?“

„Nicht, dass ich wüsste.“

„Dann hoffe ich einfach, dass es ein nicht so schicksalhafter Anfall von Übelkeit ist – und keine Prophezeiung.“ Das Wort brach ihm fast die Zunge. Überhaupt passten die Worte, die aus seinem Mund kamen, nicht zu seinen Augen. Hoffnung sah anders aus.

* * *



Da sie den Tag mehr schlecht als recht in aufrechten Sitzpositionen verbracht hatte, fühlte es sich unbedeutend an, als sie sich dann wirklich ins Bett legte. Lucius hatte schließlich doch noch gebacken. Pfannkuchen mit Apfelstücken. Obwohl sie weder Kernobst auf ihren Pfannkuchen mochte, noch besonderen Appetit hatte, backte er für zwei und packte ihre Portion in den Kühlschrank. Für nächstes Jahr. Das war ein ganz schwacher Scherz gewesen, aber sie hatte ihm den Gefallen getan und darüber gelacht. Noch viel lieber würde sie allerdings sich selbst einen Gefallen tun und einfach einschlafen. Mitternacht hin oder her. Silvester war nicht ihr Feiertag – und würde es nie werden. Sie versuchte, sich an die Jahre zu erinnern, in denen am letzten Tag des Jahres etwas Gutes passiert war, doch die Jahre, in denen es außergewöhnlich unschön zugegangen war, waren deutlich in der Überzahl.

Als sie den Wind um das Haus pfeifen hörte, da war sie immer noch hellwach. Ein Schneesturm, das war nur passend. Sie versuchte, sich an Andromeda zu erinnern, die früher immer behauptet hatte, der Regen würde ihr beim Einschlafen helfen. Sie versuchte, sich ein Beispiel an ihrer großen Schwester zu nehmen und schloss die Augen, als es auf einmal so klang, als wäre der Sturm nicht draußen, sondern drinnen. In ihrem Haus. Auf ihrem Flur.

„Lucius?“ Er reagierte mit einem Brummen und wie eine Besessene, eine Mondsüchtige, eine Sturmsüchtige, begann sie an seinem Oberteil zu zerren, bis er die Augen aufschlug. Unterdessen klang es so, als würde ihr Schlafzimmer sich auf hoher See befinden.

„Was ist das?“ Er tastet neben dem Bett nach seinem Zauberstab und auf einmal geht eine eigentümliche Wandlung in seinem Gesicht vor sich. Im Halbdunkel kann sie erkennen, dass er seinen Zauberstab gefunden hat und fest umklammert. Als er weiterspricht, hebt er die Stimme und sie klingt wieder so dunkel und sonor, dass es sich so anfühlt, als würde sie neben einem Fremden liegen, sitzen, schlafen, wachen, fürchten. „Wer ist da?“

Die Tür geht auf und sie hört ein altvertrautes, fremdes Kichern. „Der Wind, der Wind, das himmlische Kind?“ Das Kichern schlägt in ein kehliges Lachen um und dann ist der Raum hell erleuchtet. Ihre Erinnerungen haben sie getrogen. Es war gar nicht Andromeda, die behauptet hat, der Regen würde ihr beim Einschlafen helfen. Es ist Bella gewesen, die der festen Überzeugung war, bei Gewitter die besten Träume zu haben. „Warum seid ihr denn schon zu Bett gegangen? Es ist noch nicht einmal Mitternacht. Wollen wir nicht tanzen gehen, Zissy?“

Ihr Magen verkrampft sich, doch die Übelkeit ist vergangen. Irgendetwas ganz tief in ihr drin zieht sich zusammen und bereitet ihr entsetzliche Schmerzen, doch das ist gut, der Schmerz hält sie wach. Sie kann klar denken. Sie ist sich ganz sicher, dass sie keine Halluzinationen hat.

„Bella?“

„Was klingst du denn so ungläubig? So sehr hab ich mich doch nun auch nicht verändert.“ Doch, das hatte sie. Und das hatte sie wirklich nicht. Ihre Haare waren immer noch schwarz und lockig – und es sah so aus, als hätte sie sich mit Reisig gekämmt. Sie war mager und ihre Wangen kamen Narzissa ausgehöhlt vor, doch sie war ganz unverkennbar immer noch Bella. Immer noch am Leben. Immer noch bereit, die Welt in Angst und Schrecken zu versetzen.

Ihre Schwester breitete die Arme aus. Narzissa ging hilflos, wie eine Schlafwandlerin, auf sie zu und umarmte sie. Es wird kein gutes Jahr. Sie weiß es einfach.

* * *



Als sie am nächsten Morgen die Küche betritt, ist sie der festen Überzeugung, noch zu träumen. Oder in einem Paralleluniversum erwacht zu sein. Tief in ein Kaninchenloch gefallen zu sein. Doch ihre Schwester sitzt wirklich da. Sie hat Tee gekocht und liest den „Tagespropheten“. Wenn Narzissa ihre Schlüsselbeine nicht sehen könnte und Bella nicht eines von ihren eigenen Nachthemden tragen würde, das an ihr herunterhing wie ein Ballon, aus dem man die Luft herausgelassen hatte, dann müsste sie an das Paralleluniversum glauben. Doch so muss sie sich den Erinnerungen an die letzte Nacht stellen. Wie ein Geist hat sie Bella in das obere Stockwerk geleitet. Ihr das Gästezimmer gezeigt. Das Badezimmer. Die Küche. Ihr gesagt, sie soll sich doch ganz wie zuhause fühlen. Ihr Lachen überhört. Sich eingeredet, dass das nur die Freude über ein unerwartetes Wiedersehen ist – und kein Wahnsinn.

Bella lässt die Zeitung sinken und lächelt sie an. Zwei ihrer Eckzähne fehlen. Ein zahnloser Vampir. Hunde, die bellen, beißen nicht. „Das ist ein schönes Haus, Zissy.“

„Dankeschön.“

„Ein schönes Leben.“ Bella lächelt noch immer und allmählich kann sie nicht mehr hinsehen. Sie sieht nicht nur dunkle Löcher in ihrem Gebiss, sie bildet sich auch ein, dass Bellas Wangen löchrig sind. Auf dem Tisch entdeckt sie Krümel. Sie ist froh, dass ihre Schwester etwas gegessen hat. „Oh, im Kühlschrank waren Pfannkuchen. Die sahen aus, als wären sie übriggeblieben, da war ich so frei, mich zu bedienen. Das war doch in Ordnung, nicht wahr?“

„Natürlich. Fühl dich ganz wie zuhause.“

„Das sagtest du gestern bereits… Zissy, ich wollte dir wirklich keinen Schreck einjagen. Ich hab gehofft, du hättest es vielleicht geahnt. Die Zeichen richtig gedeutet.“

„Welche Zeichen?“ Bella übergeht ihre Frage, doch das ist okay. Sie braucht nicht wirklich eine Antwort. Der Wetterumschwung. Der Schnee. Die Übelkeit. Das schmelzende Eis. Zeichen. Zufälle. Witterungsbedingte Zufälle.

„Schau dir das an. So eine dicke Zeitung und doch nichts als Lügen… keine Zeile bin ich ihnen wert. Genauso wenig wie Rodolphus. Oder Rabastan. Und Sirius haben sie damals ein Denkmal errichtet. Sonderausgaben über Sonderausgaben… wenigstens wurde mir das erzählt.“ Bella schiebt ihr die Zeitung über den Tisch zu und Narzissa greift danach, schlägt sie jedoch nicht auf.

„Wo sind sie? Rodolphus und Rabastan?“

„Unterwegs. Es ist gar nicht wichtig, wo sie sind. Wichtig ist nur, dass sie frei sind. Und dass ich hier bin. Ich wollte dich zuerst sehen.“ Bellas Hände schlängeln sich über den Tisch und Narzissa kann ihnen nicht ausweichen. Die Hände, die nach ihren greifen, sind rau, aber warm. „Ich bin froh, dass es dir so gut geht. Wirklich. Ich hab gehofft, dass sie dich in Ruhe lassen.“

„Sie?“

„Crouch. Bagnold. Moody. Die ganze Bagage. Ich wette, im Ministerium ist heute die Hölle los. Bestimmt schicken sie Bluthunde ins Land und durchsuchen die Ruine, in der wir gewohnt haben… oder sie haben Angst. Sie halten Abstand. Sie haben keine Macht mehr. Die Dementoren sind klug, Zissy, so klug. Sie haben zuerst begriffen, dass die Zeiten sich ändern werden. Wie findest du das, ein Haufen Dementoren klüger als der ganze Zaubergamot. Das ist doch zum Schreien.“ Schreien. Ja, sie würde gerne schreien. „Jetzt sag doch was. Wann bist du so still geworden?“

„Du kannst nicht hierbleiben.“ Bella hat sie immer noch nicht losgelassen. „Du musst hierbleiben. Wir müssen… ich weiß nicht, was ich tun soll. Du musst… du brauchst neue Kleider. Du brauchst einen Haarschnitt. Und du brauchst neue Zähne. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll!“ Bella lacht und fährt mit ihren langen Fingernägeln über ihren Handrücken.

„Bleib ganz ruhig, Zissy. Du musst dich nicht um mich kümmern. Ich kann sehr gut für mich selber sorgen. Hab nur keine Angst vor mir, ja? Schau mich nicht mit so großen Augen an. Ich bin deine Schwester. Ich bin immer noch deine Schwester. Und wir müssen jetzt füreinander da sein. Ich brauche dich.“ Diese drei kleinen Worte rühren etwas in ihr. Bella braucht sie. Das ist neu. Das hat sie so noch nie gehört. Das kann sie so leicht gar nicht glauben. „Und keine Sorge, ich werde nicht hierbleiben. Ich werde gleich wieder gehen, mich auf die Suche nach Rodolphus und Rabastan machen. Du erhältst noch heute eine Eule, wo du mich finden kannst. Und dann sehen wir uns ganz bald, wenn du wieder sprechen gelernt hast.“

„Du kannst mir doch keine Eule mit deiner Adresse schreiben! Du bist auf der Flucht.“ Bella lächelt wieder. Noch breiter als vorher. In ihren Backen sind auch schwarze Löcher. Narzissa bekommt ihre Hände zurück.

„Ich bin nicht auf der Flucht. Ich bin frei.“ Bella kichert und erhebt sich lautlos. „Außerdem steht es noch nicht in der Zeitung. Noch sind die Fahndungsplakate nicht gedruckt. Ich bin also immer noch in Askaban. Nur ein Schreckgespenst.“ Nur der Geist der Vergangenheit.

Chapter 34: Verrat am Valentinstag

Chapter Text

34 – Verrat am Valentinstag



Der Anblick einer roten, gerade gewachsenen Kamelie brachte sie zum ersten Mal seit Wochen zum Lachen. Es war ihr zwar irgendwie möglich gewesen, sich an Bellas regelmäßige Anwesenheit zu gewöhnen und keinen Nervenzusammenbruch zu erleiden, weil ihre Schwester nicht nur zu Recht in Askaban gewesen war, sondern auch zu Unrecht – und weil sie ihr dieses Unrecht einfach so vergeben hatte. Narzissa wartete noch immer auf den göttlichen Zorn und versuchte, sich nicht in Sicherheit wiegen zu lassen. Es war bezeichnend, dass es nur eine Zimmerpflanze brauchte, um sie aus dem Konzept zu bringen.

Lucius hatte den Valentinstag noch nie verstreichen lassen, ohne ihr eine ausgewählte, umtopfbare Pflanze zu schenken. Mit einer außergewöhnlichen Konsequenz war er irgendwann von Sträußen zu ganzen Pflanzen übergegangen, sodass ihr Garten jedes Jahr um einen Griff daneben erweitert wurde.

Um sich noch ein wenig daran erfreuen zu können, dass Lucius es nicht über sich brachte, sie schlicht und einfach nach ihren Lieblingsblumen zu fragen, ließ sie die Kamelie auf dem Küchentisch stehen. Das Blumenschenken hätte man irgendwann auch aufgeben können, aber das war nicht Lucius' Art. Dank diesem stoischen, berechenbaren Blumenschenken fanden sich im Haus wie Garten die banalsten und außergewöhnlichsten Arten von Blumen.

In der Bibliothek, dem kühlsten Raum des Hauses, waren die Hortensien, Primeln, die Kapländische Zimmerlinde aus dem vergangenen Jahr und ein Alpenveilchen, das sie außer der Reihe zu ihrem Geburtstag von ihm bekommen hatte. Unten im Salon, an der hellen Fensterfront, hatten sich Orchideen, Hibiskus und ein Wunderstrauch versammelt. Die Begonien und Klivien hatte sie zur Sicherheit den Winter über ins Haus geholt. Der Efeu – eine ausgesprochene Verzweiflungstat aus dem Jahr 1983 – rankte sich draußen um einige steinerne Säulen, die einen Vorsprung des Hauses hielten.

Sie freute sich jetzt schon darauf, in den nächsten Tagen nach einem schönen Platz für die Kamelie zu suchen – und diese Freude konnte sie sich wenigstens solange erhalten, bis Lucius nach Hause kam. Eigentlich war sie davon ausgegangen, dass er im Ministerium sein würde, doch nur Sekunden nach ihm stieg Bella mitsamt Rodolphus aus dem Kamin. Und die beiden würden wohl, bei allem Wagemut, nicht im Ministerium spazieren gehen. Noch nicht.

„Um Himmels Willen, was ist das denn?“ Neugierig geht Bella auf die Pflanze zu und läuft einmal um den Tisch herum. Sie schnalzt tadelnd mit der Zunge. „Lucius, Lucius, also wirklich, wie lange kennt ihr euch jetzt? Eine halbe Ewigkeit und du bist immer noch ein gescheiterter Rosenkavalier? Unsere kleine Zissy ist doch eine Narzisstin. Sie liebt nur die Blumen, die auch so heißen wie sie – und dann auch nur die teuren Exemplare mit dem kitschigen Sondertitel. Wie war das noch, Zissy, Engelstränen und sonst nichts?“ In der Küche breitete sich eine unheimliche Stille aus und Lucius sah ganz langsam immer wieder zwischen ihr und Bella hin und her. In ihr starb etwas. Ihre Schwester bemerkte, dass sie ausnahmsweise ganz unabsichtlich taktlos gewesen war. „Was hab ich denn gemacht? Warum guckt ihr so?“

„Ich weiß nicht, ob ich dich ohrfeigen oder dir danken möchte, Bellatrix.“ Lucius' Mundwinkel zucken, doch ihr ist nach Heulen zumute. „Narzissen also… wirklich? Narzissen?“ Der im Wald vergessene Baum.

„Ich habe nie behauptet, dass ich originell bin.“ Ihre eigene Stimme gefiel ihr gar nicht. Sie räusperte sich. „Entschuldigt mich kurz, ich habe… ich habe den Wasserhahn nicht zugedreht.“ Es war eine fürchterliche Ausrede – und fürchterlich sinnlos noch dazu, denn die Wasserhähne waren so verzaubert, dass sie sich nach einer gewissen Zeit selbst abstellten, wenn niemand mehr im Raum war. Aber das wusste Bella ja nicht. Von so einem albernen, überflüssigen Zauber hatten weder sie, noch Rodolphus ihren Lebtag je gehört und das war gut. Lucius allerdings wusste sehr gut, dass sie sich Gedanken darüber gemacht hatte, wie man Wasser sparen könnte und folgte ihr.

Sie stand vor dem trockenen Waschbecken und er klopfte gegen die Tür, die sie nur halbherzig hinter sich zugezogen hatte. „Alles in Ordnung?“

„Nein.“ Er öffnete die Tür, hielt aber Abstand und sah sie einfach nur an. Sie wollte nicht weinen. Nicht vor Zeugen. Dabei ging es ihr nicht einmal um Lucius, doch sie war sich ziemlich sicher, dass auch nur ein kleines Schluchzen, eine einzelne Träne, Bella anlocken würde. „Sie macht alles kaputt.“

„Das stimmt doch nicht… es sind nur Blumen. Wir können auch so tun, als hätte sie nie irgendetwas gesagt. Ich war vorübergehend taub und nächstes Jahr bekommst du eine ganz scheußliche Kaktee. Wie wäre das?“

„Ich finde das nicht lustig.“

„Ich finde es auch nicht lustig. Mir wäre es auch lieber, wenn unser Leben ein bisschen anders aussähe. Ich… ich hätte nie gedacht, wie sich das hier entwickeln könnte. Wenn ich gewusst hätte, wie viel für uns irgendwann auf dem Spiel steht, dann… dann wären wir nicht hier geblieben.“ Hier. In England. Beim Ministerium. Dort, wo sie jeder finden konnte. Jederzeit.

„Du glaubst also nicht, dass es… dass diesmal alles besser für uns wird?“

„Besser? Wie soll es denn besser werden? Es geht uns gut. Ja sicher, wir leben in einer Welt, in der es Hexen und Zauberer gibt, die meinen, sie müssten sich mit Muggeln anfreunden, Familien mit ihnen gründen und sie an die Spitze unserer Gesellschaft setzen, aber das ist keine neue Entwicklung. Das geht seit Jahrhunderten so. Wir werden nicht in einer Welt sterben, in der Reinblütigkeit wieder alles bedeutet. Nicht, wenn Albus Dumbledore, Harry Potter und Wunderkinder wie diese Granger nicht verschwinden. Da mache ich mir gar keine Illusionen. Habe ich vielleicht mal, aber das war… das ist lange her.“

„Also hast du resigniert?“

„Nein. Ich will, dass du in Sicherheit bist. Ich will, dass Draco in Sicherheit ist. Ich will auch, dass ich selbst in Sicherheit bin. Und Askaban bedeutet das Gegenteil von einem sicheren, netten Leben. Und dieses Mal wird Askaban unausweichlich sein. Niemand wird glauben, dass ich zweimal unter dem Imperius stehe. Zweimal aus Zufall Dinge tue, die ich gar nicht will. Das Ministerium mag seine Schwachstellen haben, aber dort arbeiten nicht ausschließlich Idioten. Oder hast du vergessen, dass Moody uns ohne zu zögern besucht hat?“ Lucius spricht sehr schnell und sehr leise und sie spürt, wie ihr Herz mit jedem Satz leichter wird. Er spricht genau die Gedanken aus, die sie nicht abschütteln kann, seitdem Bella wieder einen Platz in ihrem Leben für sich beansprucht hat. Sie ist selbstsüchtig, aber sie ertappt sich mehrmals am Tag dabei, wie sie sich einredet, dass ihre Schwester tot ist. In Askaban gestorben. Denn ohne Bella wäre der dunkle Lord zwar immer noch zurück und immer noch ein Teil von Lucius und damit zwangsläufig auch ihrer eigenen Existenz, aber er wäre weiter weg. Bella schmiedet die Glieder, die sie an den dunklen Lord binden. Sie ist die direkte Verbindung.

„Danke für die Blumen. Sie gefallen mir sehr.“ Sie richtet sich gerade auf, bis sie die Hände vom Rand des Waschbeckens nehmen kann. Ihr eigenes Spiegelbild erschreckt sie kaum. Sie ist blass. Sie sollte bald wieder zum Friseur gehen. Doch abgesehen davon sieht sie gut aus. Sie bildet sich sogar ein, dass man ihr noch nicht ansehen kann, dass sie im November ihren vierzigsten Geburtstag gefeiert hat. Ein Lächeln gelingt ihr nicht, aber das ist nicht schlimm. Eine Dame verschenkt ihr Lächeln nicht.

„Das habe ich gehofft. Mein Vater hat sich heute Morgen danach erkundigt, ob du ihm heute Abend bei dem Versand der Abrechnungen behilflich sein möchtest. Ich habe vergessen, dir Bescheid zu sagen. Er würde sich bestimmt über deine Unterstützung freuen.“

„Natürlich, ich werde gleich nach unten gehen.“ Sie atmet einmal tief ein und aus, bevor sie das Badezimmer verlässt. Als sie an ihm vorbeigeht, schlingt er wortlos einen Arm um sie, drückt sie einen Moment an sich und küsst ihren Hals. Sie hält inne, träumt davon, die Zeit anhalten zu können und geht dann den Flur entlang. Weg von den Stimmen ihrer Schwester und Rodolphus', die sich in einer botanischen Grundsatzdiskussion verloren haben und darüber spekulieren, ob Pomona Sprout wohl mittlerweile jemanden gefunden hat, der über dreckige Fingernägel und den Geruch von Drachenmist hinwegsehen kann.

* * *



Die Buchhaltung von Abraxas ist ihr in den letzten Jahren so vertraut geworden, dass sie nicht auf seine Ankunft wartet, sondern gleich mit der Arbeit beginnt. Sie haben nie darüber gesprochen, ob sie eine Aushilfe ist. Es ging nie um Geld, immer nur um Beschäftigung. Gute Gesellschaft. Abraxas unterrichtet sie in Dingen, die man in Hogwarts nicht lernen kann, unterhält sie mit Anekdoten über kuriose Kräuterhexen aus ganz Europa und sie bietet ihm im Gegenzug ein dankbares Publikum und ein paar hausgemachte Zaubersprüche, die bei spezifischen, kleinen Lästigkeiten helfen.

Als er in sein eigenes Büro tritt und seinen Mantel ablegt, hat sie Wales und Schottland bereits abgefertigt und widmet sich den Schreiben, die in die Grafschaften von Bedfordshire bis Dorset gehen.

„Na, das sieht ja wunderbar aus, da kann ich ja die Füße gleich hochlegen.“ Er hängt seinen Mantel über ihren Stuhl. Sie hat in dem bequemen Sessel hinter seinem Schreibtisch Platz genommen und als sie Andeutungen macht, aufzustehen, drückt er ihre Schultern sanft nach unten. „Bleib, wo du bist. Ich nehme den anderen Stuhl und sehe dir zu.“

„Du kannst die fertigen Umschläge überprüfen. Ich habe noch nichts versiegelt.“

„Du machst doch nie irgendwelche Fehler. Dich zu kontrollieren ist vollkommen reizlos, meine Liebe.“ Entgegen sämtlicher Behauptungen von Lucius, der seinem Vater immer noch in regelmäßigen Abständen eine kalte Schnauze und ein kaltes Herz unterstellt, erkennt sie bei Abraxas nicht nur eine gewisse Empathie, sondern sogar einen Hauch von Altersmilde.

„Es wäre typisch, wenn ich Fehler mache, sobald du nicht mehr drauf guckst. Außerdem steht es um meine Konzentration heute nicht zum Besten.“ Es wird Abraxas wohl kaum entgangen sein, dass Bella seit einigen Wochen ein- und ausgeht wie es ihr gefällt. Mal mit Ankündigung, mal ohne jegliche Vorwarnung. Bei seinem Zeitungskonsum kann sie davon ausgehen, dass er die langen und kurzen Steckbriefe, die gelungenen und weniger guten Fahndungsfotos der Lestranges kennt.

„Habt ihr Gäste?“ Sie nickt. „Du weißt, dass du nicht wehrlos bist, oder?“

„Was soll ich denn tun? Sie vor den Zaubergamot schleifen? Askaban ist offen. Es gibt keinen Ort mehr, an dem man irgendjemanden einsperren kann.“ Es gelingt ihr nicht, ihm ins Gesicht zu sehen. Lieber konzentriert sie sich darauf, die gleichklingenden Namen der Apotheken in Durham nicht durcheinanderzubringen.

„Du bist die beste Hexe, die sich gerade in diesem Haus befindet.“ Unwillkürlich lacht sie auf und sieht Abraxas an, der keine Miene verzieht. „Ich meine das ganz im Ernst. Lucius übertriffst zu seit Jahren, ich raste und roste – und was deine charmante, früher als ach so brillant gelobte Verwandtschaft betrifft… was glaubst du, was es mit einer Hexe macht, wenn sie fünfzehn Jahre lang nicht zaubert? Magie wird nicht stärker durch Meditation oder Ruhe. Das ist Teil der Strafe von Askaban. Es gibt Geschichten über Häftlinge, die nach Jahrzehnten entlassen wurden und nicht magischer als ein Squib waren!“

„Ich bezweifle, dass meine Schwester so magisch wie ein Squib ist. Sie disappariert. Und sie hat in den letzten Wochen bereits andere sehr beeindruckende Zauber zustande gebracht.“

„Aber sie ist nicht mehr so gut wie sie einmal gewesen ist. Sie ist nicht so gut wie du. Es wird noch eine Weile dauern, bis sie wieder ganz bei Kräften ist… wenn du die Zeit verstreichen lässt, dann wird sie dir womöglich bald wieder überlegen sein. Aber jetzt gerade könntest du sie leicht überwältigen.“

„Überwältigen?“

„Du weißt, was ich meine.“ Abraxas nimmt einen Stapel mit Briefumschlägen in die Hand und wirft einen Blick darauf. „Wie wäre es, wenn wir morgen nochmal einen kleinen Tagesausflug machen? In Cumbria bist du noch nie gewesen, oder Liebes?“

„Ich könnte das nie tun.“

„Warum nicht? Hast du morgen irgendwelche Pläne? Hat Lucius neuerdings an Donnerstagen nichts zu tun?“

„Das meinte ich nicht.“ Ganz und gar unaufgeregt sieht er von den Briefen auf und betrachtet sie. Diesen Blick kennt sie. Sie fühlt sich um etliche Jahre zurückgeworfen. Verschenktes Potenzial, das sieht er. „Ich begleite dich gern.“

* * *



„Dieser Bastard!“ Ab und an fluchte Lucius, aber es war doch eher selten das Erste, was er tat, wenn er nach Hause kam. Er warf die druckfrische Ausgabe des „Klitterers“ auf den Tisch. Narzissa hatte sich im Salon niedergelassen und las ein Buch über die Entstehung des magischen Finanzwesens, mit dem man sie eigentlich über alle Berge jagen konnte. Doch es war eine Empfehlung von Abraxas gewesen und sie wollte der Lektüre eine faire Chance geben.

„Warum kaufst du denn den Klitterer? Du weißt doch, dass Abraxas und ich beide ein Exemplar bekommen. Die Eulen haben sich sicher nur verspätet.“

„Die Eulen haben sich nicht verspätet. Das hier war das letzte Exemplar in der ganzen Winkelgasse!“

„Wieso hast du überhaupt danach gesucht? Der Sinn eines Abonnements ist es doch, nicht mehr in die Winkelgasse zu müssen.“

Lucius war bleich vor Wut, nahm die Zeitschrift noch einmal in zwei Finger und hielt sie ihr direkt vors Gesicht. Quer über der gesamten Titelseite war das Gesicht von Harry Potter abgebildet. Die Überschrift war in grellroten, fetten Lettern gedruckt. Harry Potter packt endlich aus. Die Wahrheit über ihn, dessen Name nicht genannt werden darf, und die Nacht, in der ich ihn zurückkommen sah. Ein Gastbeitrag von Rita Kimmkorn.

„Oh. Hast du den Artikel schon gelesen?“

„In Auszügen. Mae hat ihr Exemplar allerdings wieder für sich beansprucht, nachdem sie mir ihre Lieblingsstellen vorgelesen hat… rechne dieses Jahr besser nicht mit einer Weihnachtskarte.“

Narzissa blätterte die Zeitschrift auf. Ihr sprang eine hervorgehobene, fettgedruckte Passage entgegen. Die Namen waren in denselben Lettern gedruckt, die auch die Titelseite des Magazins zierten. Malfoy, Crabbe, Goyle, Nott, Macnair – und das ist nur der Anfang. Das ist der Rattenschwanz. Das ist das Ende.

„Vielleicht solltest du deinen Bruder besuchen.“

„Wie bitte?“

„Du könntest ihn darum bitten, keine zweite Auflage zu drucken. Oder verlangen, dass du dich wenigstens zu den Vorwürfen äußern darfst.“ Sie lässt das Magazin sinken und erschrickt, als sie sieht, dass Lucius' Hände zu Fäusten geballt sind. „Ich bitte dich, das ist der Klitterer. Das Magazin für Absonderlichkeiten. Vor einem halben Jahr stand dort, dass der Leiter des Aurorenbüros ein Vampir ist. Das glaubt doch niemand.“

„Vampire und Todesser – das ist nicht dieselbe Liga. Das ist kein witziges Gerücht, das ist Rufmord. Und diesem Kind eine Stimme zu geben… und dann auch noch Rita Kimmkorn zu enagieren, die wahrscheinlich eine dreimal so große Stammleserschaft hat wie dieses Magazin, das ist ein Geniestreich! Das ist… es zeugt von politischer und ökonomischer Brillanz. Das entspricht Xenophilius' Art.“

„In der letzten Ausgabe bestand das Magazin zur Hälfte aus Rezepten für frisch gefangene Plimpys. Ich sage das nicht gern, aber ich glaube, du überschätzt deinen Bruder.“

„Oh nein, nein, nein, der Rest der Welt unterschätzt ihn! Das ist das Problem! Diese Zeitung verkauft sich wie frisch gebackener Kürbiskuchen am 31. Oktober. Die Winkelgasse war leergekauft. Neben diesem Exemplar war noch die Ausgabe vom letzten September übrig, die der Ladenbesitzer nicht weggeschmissen hat, weil sich ja vielleicht eventuell noch jemand dafür interessiert! Mir wollte er sie auch zum reduzierten Preis aufschwätzen! Das hier ist ein Lauffeuer, Zissy. Und das da ist unser Name, der lichterloh brennt!“

„Lucius, bitte, setz dich hin. Wir lesen jetzt diesen Artikel und dann überlegen wir uns, wie wir Schadensbegrenzung betreiben. Und an wen wir uns wenden.“

„Uns kann niemand mehr helfen.“

„Jetzt sei nicht so dramatisch, hol mir deinen Kalender mit der Adresse von Barnabas Cuffe.“

„Der Mann ist korrupt. Und er hat keinerlei Talent dafür, sich auszudrücken. Wenn er Rita Kimmkorn verloren hat, dann hat er die Lage nicht mehr unter Kontrolle.“

„Vielleicht schreitet Fudge ein. Oder Umbridge. Das Ministerium ist immerhin der eigentliche Angeklagte. Sicher, da steht dein Name, aber darum scheint es gar nicht zu gehen. Es geht darum, dass das Ministerium die Rückkehr des dunklen Lords leugnet. Es war doch sowieso nur eine Frage der Zeit, bis das Ministerium und die Presse den Kurs ändern mussten. Wenn Harry Potter jetzt nicht mehr als Spinner verleumdet wird, was bedeutet das schon? Er hat den dunklen Lord gesehen. Er hat Pettigrew gesehen. Dich hat er nicht gesehen. Das steht hier sogar ausdrücklich. Dort steht, welche Namen er gehört hat. Er kann sich aber auch verhört haben.“

„Es ist nett, was du hier versuchst, aber bitte hör damit auf. Das hier ist eine Katastrophe. Das hier ist nicht das, was der dunkle Lord gewollt hat. Es wird uns in keinster Weise irgendwie helfen. Mit etwas Glück kostet es mich nicht gleich meine Anstellung.“

„Fudge kann dich nicht von heute auf morgen ersetzen.“

„Das mag stimmen, aber unentbehrlich auf immer und ewig bin ich auch nicht.“ Er lässt sich neben sie auf das Sofa fallen und schließt die Augen. „Lies mir den Artikel vor, ja? Wort für Wort. Dann kann ich überlegen, wo ich einen Zeitumkehrer herschaffe und Xenophilius noch im Mutterleib erdrosseln.“

„Du bist geschmacklos.“

„Wetten wir, dass Rita Kimmkorn mich an Geschmacklosigkeit übertrifft?“

Chapter 35: Kurzer Prozess

Chapter Text

35 – Kurzer Prozess



Nachdem sie Stunde um Stunde mit einem schlechten Gefühl im Bauch durch das Haus getigert ist, da ist es fast schon eine Erleichterung zu hören, dass es schief gegangen ist. Am frühen Abend hat Lucius ihr verkündet, dass heute Abend etwas sehr Wichtiges geschehen würde. Im Zaubereiministerium. Er wolle ihr die Details ersparen, hatte er gesagt, doch sie hatte aus ihm herausbekommen, dass Harry Potter involviert war. Harry Potter. Dieser Name genügte mittlerweile, um bei ihr Kopfschmerzen auszulösen. Es war ihr immer noch unbegreiflich, warum der dunkle Lord seinen ganz persönlichen Krieg gegen ein Kind führte. Eine Offensive gegen das Ministerium, gegen die politischen und gesellschaftlichen Strukturen, ja selbst einen Feldzug gegen Hogwarts hätte sie irgendwie verstanden, aber sich einen Fünfzehnjährigen auszusuchen und ihn zur Wurzel allen Übels zu erklären, das war absurd. Fast so absurd wie die Tatsache, dass der dunkle Lord von einem Kleinkind in die Knie gezwungen war.

Lucius kam nicht allein zurück, sondern in Begleitung von einem Mann, den Narzissa erst auf den zweiten Blick erkannte. Kingsley Shacklebolt. Ausgewachsen. Stattlich. Und beinahe so grimmig guckend wie Alastor Moody höchstpersönlich. Schon als sie sah, dass Lucius' Umhang zerrissen war und das dunkle Mal offen lag, war ihr klar, dass es vorbei war. Da nützte es rein gar nichts, dass er hier war.

„Sie finden sich morgen um Punkt 10 im Zaubergamot ein. Wenn Sie nicht erscheinen, dann wird die Aurorenzentrale mit einer landesweiten Fahndung beginnen. Ich werde gleich einen Zauber sprechen, der verhindert, dass Sie unbemerkt disapparieren oder anderweitig reisen können. Ich bitte Sie, auch nicht innerhalb des Hauses zu apparieren, insofern Sie mich nicht vorschnell wiedersehen wollen. Haben Sie mich verstanden, Mr. Malfoy?“

„Ich habe Sie verstanden.“

„Kümmern Sie sich um Ihre Angelegenheiten. Gute Nacht.“ Kingsley Shacklebolt sah sie an und sie meinte, einen Hauch von Mitleid auf seinem Gesicht zu erkennen, doch es war dunkel, sie hatte irgendwann vergessen, Licht zu machen und auf dem Kamin stand eine fürimmerbrennende Kerze, die sie schon am Morgen angezündet hatte. „Mrs. Malfoy.“ Er nickte ihr grüßend  zu und ging dann dazu über, einige Formeln auszusprechen, die sehr schlicht, aber auch sehr offiziell klangen.

Nachdem er seinen Zauberstab wieder eingepackt hatte, verschwand er ohne jede weitere Erklärung im Kamin. Fragend wendete sie sich an Lucius und verfluchte ihn dafür, dass er seine Mimik so unter Kontrolle hatte. Sie sah ihn an und sie sah nichts. Keinerlei Informationen darüber, was heute passiert war. Was morgen passieren würde.

„Dein Cousin ist verstorben.“

„Was?“ Mit dieser Nachricht hatte sie nun wirklich nicht gerechnet. „Sirius? Aber wann… wo… wer?“ Lucius biss sich auf die Unterlippe und nickte in Richtung des Küchentischs. Weil sie wusste, dass er andernfalls nicht weitersprechen würde, setzte sie sich hin. „Wer?“

„Bellatrix. Es war… es war ein einziges Chaos. Nichts lief so wie wir dachten. Wir haben nicht nur Potter unterschätzt, sondern auch die verdammte Mysterienabteilung. Wer auch immer die Baupläne dieser Abteilung angefertigt hat, der hat entweder außerordentlich schlechte Arbeit geleistet oder sich ein paar üble Scherze erlaubt.“

„Ist noch jemand… verletzt?“

„Verletzt, ja. Shacklebolt hat es mit am Schlimmsten erwischt und du hast ihn ja gesehen, er steht noch aufrecht. Crabbe hat ein seltsamer Zauber getroffen, aber die langfristigen Schäden sind… überschaubar. Sirius sollte nicht… es sollte niemand sterben. Der Orden sollte überhaupt nicht darauf aufmerksam werden, es ging allein um Potter, aber… ich weiß ehrlich gesagt schon gar nicht mehr, worum es eigentlich ging. Bellatrix ist ausgerastet. Zwischen ihr und Sirius… ich weiß nicht, woher das auf einmal kam, aber die beiden haben nicht voneinander abgelassen. Es war grauenvoll, irrsinnig und… absolut unnötig. So wie die ganze Nacht.“

„Und was wird morgen passieren?“

„Moody kann endlich sein Versprechen einhalten und uns allen ein schönes Plätzchen in Askaban besorgen. Er hat mir schon ganz freudestrahlend erklärt, dass die Dementoren ausgetauscht wurden. Frisch gebrütet. Unbeeinflusst.“

„Das meinst du nicht ernst.“

„Na ja… vor Freude gestrahlt hat er nicht, aber es muss doch ein triumphaler Moment gewesen sein. Niemand ist entkommen. Außer Bella. Sie war so… niemand konnte sie überwältigen. Aber neun Todesser, die nach Askaban kommen. Da wird nicht nur Moody drei Kreuze im Kalender machen.“ Es ist eigenartig. Sie müsste schreien. Weinen. Aber sie fühlt gar nichts. In ihr breitet sich eine große, stumme, bleierne Leere aus. Die Aufregung, die Nervosität der letzten Stunden ist passé.

„Wer war dabei?“

„Nott. Rookwood. Macnair. Crabbe, aber das hab ich schon gesagt. Dolohow. Jugson. Der junge Mulciber. Und Avery.“

„Was ist mit Erwin?“

„Erwin war nicht dabei. Eigentlich hätte er mitkommen sollen, aber er hat sich gestern erst seine Zauberstabhand gebrochen. Ist zwar alles verheilt, aber der dunkle Lord wollte kein Risiko eingehen… Erwin ist zu wichtig für ihn.“

„Und was ist mit dir?“

„Ich bin unwichtig. Ich hatte heute die Verantwortung und ich habe versagt. Damit bin ich ganz offiziell nicht brauchbarer als Pettigrew. Jetzt sag doch was, du bist so… so ruhig.“

„Ich spreche doch mit dir. In ganzen Sätzen. Ich habe dir Fragen gestellt. Und ich stelle dir jetzt noch eine Frage, Lucius, und ich will, dass du ernsthaft antwortest. Was soll jetzt aus Draco und mir werden? Was sollen wir tun, wenn du morgen wirklich nach Askaban kommen solltest?“

„Das ist keine Eventualität, ich werde dort sein. Und ich… ich weiß nicht, was aus euch werden soll. Wenn Draco nicht in der Schule wäre, dann könntet ihr noch heute verschwinden, aber… wir kriegen ihn jetzt nicht aus Hogwarts raus. Und ich garantiere dir, dass jemand auf dich zukommen wird. Vielleicht Bella, vielleicht der dunkle Lord selbst. Er hat neun Männer verloren. Das ist für ihn gegenwärtig kein unbedeutender Verlust. Er wird sich nach Ersatz umsehen.“

„Du denkst doch nicht, dass er…“ Lucius nickt. „Lucius, er ist noch nicht einmal volljährig. Was soll der dunkle Lord mit einem Kind anfangen? Draco könnte doch nicht… er könnte nichts für ihn tun.“

„Regulus war nicht viel älter.“

„Aber wenn du nach Askaban gehst, das ist doch Strafe genug!“

„Askaban ist die Strafe des Ministeriums. In den Augen des dunklen Lords ist es nur gerecht, dass ich mich zwangsläufig dazu bekenne, das dunkle Mal zu tragen. So denkt dieser... Mann nicht. Ich habe versagt. Es war wichtig. Ihr werdet dafür bezahlen.“

„Das ist nicht gerecht.“ Seine Augen werden ganz glasig. Als würde er mit einer Wand sprechen. Einer Wand erklären, was nicht zu erklären ist.

„Mit Gerechtigkeit hat der dunkle Lord nichts am Hut. Wenn du kannst, dann… versuch irgendwie, Draco rauszuhalten. Du bist… du könntest ihm nützlicher sein. Du bist mindestens so eine gute Hexe wie Bellatrix, aber… ich weiß nicht, ob es noch um Nützlichkeit geht. Vielleicht geht es auch nur noch um Zerstörung. Ich weiß es nicht, nach heute Abend weiß ich es nicht mehr.“

„Möchtest du einen Tee?“ Lucius starrt sie an. Er wirkt hellwach. Und verwirrt. „Du sprichst so, als wäre dein Hals ganz trocken. Du hast doch bestimmt seit Stunden nichts getrunken. Also Tee? Oder lieber etwas Kaltes?“

„Das ist nicht der Zeitpunkt, um Tee zu trinken.“

„Und wofür ist es dann der Zeitpunkt? Alles, was du mir noch nicht erzählt hast, werde ich morgen vom Zaubergamot hören. Und du hast Recht, Draco ist in Hogwarts, ich kann also nirgendwohin gehen. Ich muss abwarten, was mit mir passieren wird. Ich kann nichts planen, nichts tun, aber ich kann aufstehen und eine Kanne Tee kochen. Oder wolltest du durstig ins Bett gehen?“

Wortlos beobachtet Lucius sie dabei, wie sie aufsteht, das Wasser zum Kochen bringt und die etwas spärliche Auswahl an Kräutertee inspiziert. „Versteh mich jetzt nicht falsch, aber ich hab dich unterschätzt. Ich habe vergessen, wie eisern du sein kannst.“

„Eisern?“

„Stoisch. Ich… ich habe dein Nervenkostüm unterschätzt. Ich habe fest damit gerechnet, dass du… ich weiß nicht, dass du mir den Kopf abreißen und Moody diese ehrenvolle Aufgabe abnehmen würdest. Du musst mich hassen, weil ich dich in diese Situation gebracht habe. Dich und Draco.“

„Draco und ich müssen nicht nach Askaban, also brauchen wir dein Mitleid nicht. Pfefferminz oder Kamille?“

„Kamille.“

„Und ich bin wütend. Aber nicht auf dich. Ich bin sicher, du hast immer dein Bestes getan, um unsere Familie zu schützen.“ Sie sieht von dem fröhlich blubbernden Wasser auf und betrachtet ihn, wie er an der Anrichte lehnt. In ihrer Küche. Mit dem zerfetzten Umhang. „Ich liebe dich. Und ich bin sicher, der dunkle Lord wird die Dementoren noch ein weiteres Mal bezaubern. Du wirst zurückkommen und dich von ihm abstrafen lassen, bis irgendjemand diesem ganzen Zirkus ein Ende macht.“ Sie gießt das Wasser in zwei Tassen und nimmt sich eine. Das heiße Porzellan verbrennt ihre Finger. Gar kein so schlechtes Gefühl. „Wird es eine Beerdigung für Sirius geben? Oder wird das Ministerium das unter den Teppich kehren? Kannst du das einschätzen?“

„Sirius ist… ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber es gibt nichts, was man beerdigen könnte. Er wurde nicht von einem Todesfluch getroffen oder irgendwie… zerfleischt oder so. In der Mysterienabteilung ist der einzige legale Durchgang vom Diesseits ins Jenseits. Die Geisterbehörde hat dieses „Portal“, eine Art Bogen, vor Jahrzehnten eingerichtet, um einen Überblick darüber zu behalten, welche Hexen und Zauberer nach dem Ende ihres Lebens zu Geistern werden. Sie wollten darüber mit dem Jenseits kommunizieren, aber… es hat sich als sehr tückisch herausgestellt. Nachdem mehrere unbedarfte Angestellte angefangen haben, irgendwelche Stimmen zu hören und schließlich durch den Bogen gegangen sind, hat das Ministerium beschlossen, den Durchgang nicht länger zu gebrauchen. Ihn zu zerstören wäre aber auch riskant gewesen, deswegen wurde er in die Mysterienabteilung verschoben. Genau genommen wurde eigentlich die Geisterbehörde verlegt. Sie war früher dort, wo jetzt die Mysterienabteilung ist. Sie ist quasi darum herum entstanden. Alles andere dort war irgendwie… transportabel.“

„Und Sirius ist…durch diesen Bogen gefallen?“ Lucius nickt.

„Ein Zauber von Bellatrix hat ihn getroffen und… durch den Bogen befördert. Sie hat vielleicht nicht gewusst, was passiert, wenn ein lebender Mensch dem Bogen zu nahe kommt, aber… wahrscheinlich hat sie es doch gewusst.“

„Hast du Hunger?“ Es ist die nächste, pragmatische Frage, die Lucius in bodenlose Verwirrung stürzt. Wann hat sie das letzte Mal für jemanden die Gastgeberin gespielt? Das muss mindestens fünf Jahre her sein, denn Lucius hat seine Kontakte im Ministerium stets so gepflegt, dass sie irgendwo eingeladen gewesen sind. Die einzigen wirklich regelmäßigen Gäste sind Erwin und Diana gewesen. Ein oder zwei Abendessen mit Erwin und Emma haben sie versucht, aber es ist nicht dasselbe. Es ist nicht einmal angenehm gewesen.

„Hunger, ja, aber ich glaube nicht, dass ich jetzt was essen kann.“

„Das solltest du dir gut überlegen. In einer Woche könntest du dich dafür hassen, eine warme Mahlzeit ausgeschlagen zu haben.“ Lucius verzieht das Gesicht, dabei hat er den Kuchen angeschnitten. Wenn er so spricht, als würde er morgen ganz sicher nicht nach Hause kommen, sondern geradewegs nach Askaban geschickt, dann wird sie das auch tun. „Ein Vorschlag. Ich koche und du gehst nach unten und sagst deinem Vater Bescheid.“

„Und was soll ich sagen?“

„Verabschiede dich einfach anständig von ihm.“ Sie weiß, dass es ihm widerstrebt, seinen Vater an seinem Scheitern teilhaben zu lassen. Sie würde nicht einmal darauf schwören, dass Lucius und Abraxas miteinander jemals über den dunklen Lord gesprochen haben. Über das Mal. Oder darüber, wie viel Glück sie vor vierzehn Jahren doch eigentlich hatten. „Er sollte das von dir hören. Nicht von mir.“

„Ich weiß.“ Mit steifen Bewegungen legt Lucius seinen Umhang ab, wäscht sich die Hände, ordnet seine Haare mit einer automatisierten Bewegung und stößt sich dann von der Anrichte ab, als müsste er in eine Arena einschreiten.

„Ich liebe dich.“ Sie ruft ihm nach, doch er dreht sich nicht um. Seine Antwort versteht sie trotzdem ganz deutlich.

„Sag das nicht zu oft. Irgendwann wird es unglaubwürdig.“

* * *



Sie hat Lucius' Rat nicht beherzigt. Im Laufe der Nacht hat sie sicherlich noch ein halbes Dutzend Mal beschworen, dass sie ihn liebt. Wahrscheinlich hat sie noch im Schlaf davon gesprochen. Als sie aufwacht, sitzt er aufrecht neben ihr und sieht aus dem Fenster. Es ist bereits hell, aber das heißt nichts. Es ist Juni. Im Juni wird es immer früher hell.

„Wie spät ist es?“

„Halb sieben.“

„Konntest du schlafen?“

„Zwischenzeitlich.“ Er wendet den Blick vom Fenster ab und sieht sie an. „Aber es war nicht langweilig. Du hast dich oft umgedreht. Ich hatte also immer etwas Neues zum Ansehen.“

„Sei nicht so gruselig.“ Seine Mundwinkel zucken und sie ist froh darüber. Sie ist froh, dass sie nicht darüber sprechen, dass sie in weniger als vier Stunden im Zaubergamot sein müssen. Sie setzt sich auf und wird von ihm zurückgerissen. Er hat ihr Handgelenk gepackt und ehe sie sich versieht, ist sie in seinen Armen gelandet.

„Bleib noch ein bisschen hier, ja?“

„Ich wollte mir die Zähne putzen.“ Sie sagt das, aber sie protestiert nicht mehr. So wichtig ist ihr das Zähneputzen nun auch wieder nicht. Sie vergräbt ihr Gesicht an seiner Brust und unternimmt noch einmal den Versuch, die Zeit anzuhalten. Irgendwann muss es ja klappen.

Es klappt nicht. Es wird sieben, es wird acht, es wird neun, es wird zehn Uhr und irgendwann steht sie mit geputzten Zähnen, mit gekämmten Haaren vor dem Saal, in dem der Zaubergamot tagt. Lucius steht neben ihr. Sie kann sich nicht vorstellen, dass sie diesen Saal nicht zusammen verlassen sollten. Sie kann einfach nicht glauben, dass sie heute Abend alleine in ihrem Bett liegen könnte. Die Flügeltür, die in den Saal führt, wird von zwei Männern bewacht, die Ministeriumsumhänge tragen. Wahrscheinlich irrt sie sich und die Männer bewachen nicht die Tür, sondern Lucius und sie.

Sie darf den Saal betreten und wird von einem der Männer in eine der vorderen Sitzreihen verwiesen. Der Raum erinnert sie ein wenig an einen Hörsaal. Die Sitzreihen scheinen bis hoch in die Decke zu gehen. Der Raum ist kreisrund. Sie weiß, dass der Zaubergamot für gewöhnlich 51 Mitglieder umfasst. Die Sitze verteilen sich auf die verschiedenen Abteilungen. Es gibt immer wieder Vertretungen und Wechsel, doch es kommt ihr so vor, als wären doppelt so viele Menschen im Raum. Sie versucht zu zählen, doch es gelingt ihr nicht. Nicht auf allen Roben der Anwesenden entdeckt sie das Z. Sie erkennt Gesichter. Alastor Moody. Kingsley Shacklebolt. Nymphadora Tonks. Der Leiter der Aurorenzentrale, Rufus Scrimgoeur, der als nächster Zaubereiminister gehandelt wird, aber noch nicht vereidigt ist. Cornelius Fudge ist abwesend. Barty Crouch ist vor über einem Jahr verstorben, doch auch lebend wäre er wohl kaum anwesend gewesen. Rita Kimmkorns giftgrünes Kostüm leuchtet zwischen den Ministeriumsroben in gedeckten Farben.

Sie hört kein Wort. Es ist kein Prozess, es gibt keine Anklage, keine Verteidigung. Es wird lediglich der Grund für die Bestrafung verlesen. Lucius' Unterarm wird entblößt, das dunkle Mal wird offiziell gesichtet. Es gibt Fragen, doch Lucius gibt einsilbige Antworten. Er antwortet mit Ja und Nein. Es entsteht kein Gespräch. Er gibt sich keine Mühe, aber sie kann ihm keinen Vorwurf machen. Moody sitzt dort knurrend in seinem Ledermantel mit seinem irren und seinem gesunden Auge und unterbricht Scrimgoeur mehrfach mit eigenen Fragen.

Schließlich spricht jemand die zwei entscheidenden Worte aus. Askaban. Lebenslänglich. Oder so lange es eben möglich ist. Diese Menschen glauben nicht mehr an Askaban, an die Neutralität der Dementoren, an die Insel im Meer, die einst als der sicherste Ort der Welt galt. Sicherer als Gringotts, sicherer als Hogwarts. Nur mit einem etwas anderen Klientel.

Lucius wird entlassen. Die Überführung wird noch am Nachmittag stattfinden. Der Prozess hat nicht einmal eine halbe Stunde gedauert. Man geht in alphabetischer Reihenfolge vor. Das bedeutet, Avery, Crabbe, Dolohow, Jugson und Macnair werden in Nebenräumen verwahrt und von Auroren bewacht. Andrew Mulciber wartet bereits vor der Tür und die beiden Männer, die dort mit ihnen gewartet haben, wurden durch einen Mann und eine Frau in identischen Umgängen ersetzt. In der ersten Reihe erheben sich ihre Wachposten. Einer der Männer lotst sie von ihrem Sitzplatz, der andere Mann steht dicht neben Lucius. Mulciber schweigt und wird von den Flügeltüren verschluckt.

Sie sieht Lucius an und einer der beiden Männer räuspert sich. Ein verlegenes Geräusch. „Mrs. Malfoy, Sie dürfen nicht länger mitkommen. Bitte… bitte verabschieden Sie sich jetzt. Wir haben einen strikten Zeitplan.“ Der Mann ist jung. Sicher noch keine dreißig Jahre alt. Er hat Sommersprossen und sieht immer wieder nervös auf seine Füße. Er hat ein schmales Gesicht.

Es gibt nichts mehr zu sagen. Lucius und sie haben den ganzen Morgen miteinander geredet. Sie hat es nicht einmal über sich gebracht, ihn alleine baden zu lassen. Sie weiß schon gar nicht mehr, über was sie nicht alles gesprochen haben. Draco. Ganz bestimmt haben sie über Draco gesprochen. Über Sirius. Über den Aufbau des Ministeriums. Über diesen Bogen, diese verdammte Abteilung, über ihr Studium, Cornelius Fudge, das Wetter, wie die Pfauen aussehen, wenn sie krank sind, ein Testament, ein Rezept für Scones, ein Buch, das sie beide noch lesen wollten. Irgendwann haben sie aufgehört zu sprechen und sind wortlos zurück ins Schlafzimmer gegangen. Das waren vielleicht die friedlichsten Minuten des Tages.

Da ist absolut nichts mehr, was es zu sagen gibt und sie ist froh, dass Lucius sie an sich zieht und sie küsst. Der junge, schmalgesichtige Mann räuspert sich verlegen, aber das soll nicht ihr Problem sein. Sie schlingt ihre Arme um ihn und versucht noch ein letztes Mal, die Zeit anzuhalten, ehe er sich langsam von ihr löst und einen Schritt zurücktritt.

Unentschlossen betrachten die beiden Männer sie. Sie scheinen mit einer Abschiedsformel zu rechnen. Einem Auf Wiedersehen, einem Pass auf dich auf, einem Ich liebe dich, aber weder Lucius, noch sie tun ihnen den Gefallen und öffnen den Mund. Schließlich kann sich der weniger schmalgesichtige, weniger sommersprossige Mann dazu durchringen, die Situation zu bewegen. Man erinnert sich daran, dass es einen strikten Zeitplan gibt. Die beiden Männer nicken ihr zu, stellen sich links und rechts neben Lucius.

Sie bleibt stehen und sieht zu, wie die drei Gestalten den schwarz gefliesten Ministeriumskorridor hinuntergehen und schließlich hinter einer Ecke verschwinden. Ein sommersprossiges Gesicht hat sich zu ihr umgedreht. Lucius hat den Blick nach vorn gerichtet.  

* * *



Das Haus ist zu groß. Sie braucht nur wenige Minuten, ehe die unfassbare Größe des Hauses sie zu erschlagen beginnt. Sie löst den Zauberbann, den sie vor so vielen Jahren über die Tür und die Treppe gelegt hat, die in den Salon führen. Das Haus ist nicht nicht länger geteilt. Das Haus ist riesig und still.

Abraxas gibt sich gesprächig, er gibt ihr zu tun und er verdonnert die Elfe zur Nichtsnutzigkeit. Sie kocht. Sie erfindet neue Haushaltszauber. Man könnte vom Boden essen, doch sie sitzen am Tisch. In den ersten Nächten schläft sie nicht in ihrem Bett, sondern auf dem Sofa im Wohnzimmer. Das fühlt sich seltsam an, weil sie noch nie auf dem Sofa geschlafen hat, doch das ist weniger schlimm, als das seltsame Gefühl, das sich bei ihr einstellt, wann immer sie darüber nachdenkt, alleine in dem Bett zu schlafen, in dem sie noch keine Nacht ohne Lucius gelegen hat.

Als Draco nach Hause kommt, wird es etwas besser. Sie muss kaum etwas erklären. Sie hat ihm Briefe geschrieben. Er hat den „Tagespropheten“ gelesen. Rita Kimmkorn hat berichtet. Draco dabei zuzusehen, wie er in sein Zimmer geht, ist auch seltsam. Sie will ihn danach fragen, wie seine ZAG-Prüfungen gewesen sind. Ob er nervös ist wegen der Ergebnisse. Wie es Pansy geht. Wie es ihm geht. Sie hofft zugleich, dass er nicht fragt, wie es ihr geht.

Sie nötigt ihn dazu, gemeinsam mit Abraxas und ihr im Erdgeschoss zu essen. Die Elfe hat sie dazu gezwungen, ihr beim Kochen zuzusehen. Die Suppe, die sie in Erinnerung an die Weihnachtssuppen ihrer Mutter zusammengebraut hat, ist versalzen. Suppe im Sommer ist sowieso eine scheußliche Angelegenheit. Draco ist vor drei Wochen sechzehn Jahre alt geworden. Sie hat ihm Süßigkeiten und eine Karte geschickt. Die richtigen Geschenke stehen in seinem Zimmer, so wie jedes Jahr.

Als sie im Wohnzimmer sitzt, wünscht Draco ihr eine gute Nacht und sagt nichts zu dem Kopfkissen und der Decke, die sie aus dem Schlafzimmer zum Sofa getragen hat. Vor zwei Nächten schon. Sie hat Rückenschmerzen, aber das findet sie eigentlich sogar ganz gut. So kann sie tagsüber immer ein bisschen Zeit darauf verwenden, über ihren schmerzenden Rücken nachzudenken. Das sind Sekunden, in denen sie andernfalls an Lucius denken würde. Und an all die Schauermärchen über Askaban, mit denen sie aufgewachsen ist. Die sie Draco erzählt hat. Weil sich das so gehörte. Ungeachtet der Tatsache, dass seine Tante dort war. Kinder mussten sich vor Askaban fürchten. Jedes Kind musste wissen, was Askaban war. Sonst wurde man irgendwann ausgelacht, weil man es nicht wusste.

Sie nickt ein, aber sie schläft nicht wirklich. Das Knirschen der Treppenstufen, das Geräusch von bedächtigen Schritten auf dem alten Holz reicht aus, um sie zu wecken. Draco steht wieder im Türrahmen. Er sieht aus wie ein kleines, blasses Gespenst. Vielleicht ist ja schon Mitternacht. Vielleicht träumt sie. Vielleicht wacht sie auf und erfährt, dass die Zeit doch stehen geblieben ist.

„Kann ich bei dir schlafen?“ Sie kann sich nicht mehr daran erinnern, wann Draco zum letzten Mal mit seiner Decke und diesem leicht beschämten Gesichtsausdruck an ihrem Bett gestanden hat. Aber sie weiß noch genau, dass er sich immer bemüht hat, nur sie und nicht auch Lucius zu wecken. Sie hat ihn dann immer auf ihre Seite gelassen und war selbst in die Mitte gerückt, damit er morgens aus dem Bett klettern und in sein Zimmer gehen konnte, bevor Lucius aufwachte und sich genötigt sah, eine Predigt darüber zu halten, dass große Kinder und kleine Männer in ihrem eigenen Bett nächtigten. Weil es keine Monster gab, die in Kleiderschränken und unter Betten lauerten.

„Natürlich, mein Schatz.“ Unwillkürlich hatte sie sich aufgesetzt und die Decke angehoben. Doch die Chance, dass sie es beide auf dem Sofa bequem haben würden, war niedrig.

Sie stand auf, nahm ihr Kissen und die Decke und versuchte nicht darauf zu achten, wie wacklig sie auf den Beinen war. Sie schwankte wie eine Betrunkene. Eine alte Frau. Ein Schiff. Ein betrunkenes, altes Schiff, das von einer alten, betrunkenen Frau gesteuert wurde. Draco folgte ihr mit seinem eigenen Kissen und seiner eigenen Decke.

Die ungewohnte Menge an Bettwäsche führte dazu, dass es sich wie ein fremdes Bett anfühlte. Es roch auch irgendwie anders. Beinahe ein bisschen fremd. Mit geschlossenen Augen konnte sie sich leicht einreden, dass Draco und sie eine Reise machten und auf einer kleinen, exotischen Insel in einem Hotel untergekommen waren.

Obwohl ihr schon am Bahngleis aufgefallen ist, dass er die entscheidenden zwei, drei Zentimeter gewonnen hat, um sie zu überragen, schlingt sie ihren Arm um ihn und schmiegt sich an seinen Rücken. Sein Atem geht ungleichmäßig, als würde er weinen oder sich unheimlich aufregen, doch er sagt nichts. Er schluchzt nicht. Es ist ganz still im Zimmer. Mit geschlossenen Augen kann sie das Meer rauschen hören.

Chapter 36: Strafarbeit

Chapter Text

36 – Strafarbeit



Sie rechnet mit Bella höchstpersönlich als Überbringerin der Einladung und weiß dementsprechend wenig mit dem kleinen, buckligen Mann, der nervös zwinkert und auf den Namen Peter Pettigrew hört, anzufangen. Alleine der Gedanke, dass Severus Snape und Peter Pettigrew im selben Alter sein sollen, ist absurd. Während Severus Snape schon eine gewisse Autorität ausgestrahlt hat, ehe ihm eine Hogwartsprofessur angetragen wurde, wirkt Peter Pettigrew immer noch wie die Art von Jungen, die in der letzten Reihe sitzen wollen und dort nicht überleben konnten. Sie weiß, dass Sirius während seiner Schulzeit gewissermaßen ein Freund von Peter Pettigrew gewesen ist. Sie kann allerdings auch sehen, was Sirius aus diesem Jungen gemacht hat, der nicht immer ein solcher Angsthase gewesen sein kann. Zu viel Angst, um Laufen zu lernen, hatte er immerhin nicht. Solche Kinder soll es auch geben.

„Mrs. Malfoy? Bitte entschuldigen Sie, dass ich hier so unangekündigt erscheine, aber ich… der dunkle Lord lädt Sie ein.“ Ob er immer so krumm dasteht oder ob das eine Verbeugung sein soll? Selbst Wretcha hat nach Jahrzehnten unter dem Kommando ihrer Mutter eine aufrechtere Haltung gehabt. Wretcha, die Gute. Narzissa weiß, dass es albern ist, eine Hauselfe zu vermissen, aber über die Lebenserwartung von Hauselfen ist so wenig bekannt, dass sie irgendwie immer gehofft hat, dass Wretcha vielleicht unsterblich ist. Doch das war sie nicht. Wretcha ist begraben, Kreacher ist im Grimmauldplatz. Er verlässt das Haus nicht mehr. Es kümmert ihn nicht, dass dort niemand mehr lebt. Er hält dem Haus die Treue.

„Nur mich?“ Peter Pettigrews Augen quellen aus ihren Höhlen hervor. Ein unappetitlicher Anblick. Sie weiß, dass Severus Snape in seiner Schulzeit verspottet wurde. Mehr noch als dieser kleine, lächerliche Mann vor ihr. Wie kann es sein, dass ein Blick von Severus Snape eine Herde von Elfjährigen zum Verstummen bringen kann, während man Peter Pettigrew am liebsten einem Zirkus vermitteln würde? Sie schämt sich für ihre Gedanken. Sie ist garstig geworden. In nur wenigen Tagen. „Möchte er Draco nicht auch sehen?“

„Nein.“ Mehr ein Fiepen als eine Stimme. „Er hat explizit darum gebeten, dass Sie allein kommen. Heute Abend. Die Adresse und die Uhrzeit hat er Ihnen aufgeschrieben.“ Eine persönliche Notiz? Das wundert sie wirklich. Das ist beinahe schon eine respektvolle Geste. Jedes Anzeichen von Respekt beunruhigt sie. Mit zitternder Hand reicht Peter Pettigrew ihr einen Umschlag.

„Danke.“ Peter Pettigrew neigt sich nach vorne und sie befürchtet schon, dass er umkippt und seine breite, hohe Stirn auf ihrem Küchenboden aufschlägt. Das war die Verbeugung. Alles andere ist offenbar seine permanente Haltung. Hastig geht er zurück zum Kamin und lässt sie mit dem verhängnisvollen Umschlag zurück. Eine menschliche Briefeule, denkt sie, doch aus irgendeinem Grund hat der dunkle Lord sich gegen einen Vogel und für seinen Leibeigenen entschieden. Das ist zu viel der Ehre. Zu viele Bemühungen um ihre Person.

Cobham Wood. 20 Uhr. Ich freue mich auf unsere Begegnung, Narzissa.

Cobham Wood. Sie zweifelt nicht daran, dass der dunkle Lord sie irgendwoanders als in ihrem Elternhaus erwarten wird, das zuletzt von ihrem Vater bewohnt wurde. Gelegentlich geht Narzissa dort vorbei, bepflanzt das Grab von Wretcha im Garten und sieht nach dem Rechten. In diesem Jahr ist sie erst einmal da gewesen. Im Februar.

Sie sagt Draco nicht, dass sie am Abend weg sein wird, doch er scheint zu spüren, dass etwas in der Luft liegt. Als sie vor ihrem Kleiderschrank steht und darüber verzweifelt, was für eine Garderobe dem Anlass auch nur einigermaßen entsprechen könnte, steht er auf einmal hinter ihr.

„Gehst du aus?“

„Ja. Du isst heute allein mit deinem Großvater.“ Skeptisch betrachtet Draco das hellblaue Sommerkleid, das an ihr unangemessen fröhlich aussieht, obwohl sie nicht einmal beim Blick in den Spiegel ein Lächeln zustandebringt. Es kommt ihr so vor, als hätte sie in nur einer einzigen Woche mit regelmäßigen Mahlzeiten und ohne außergewöhnliche sportliche Aktivitäten abgenommen. Im letzten Sommer hat das Kleid noch ein wenig zu eng gesessen und sie hatte sich vorgenommen, es mit einigen Zaubern anzupassen und es dann doch nicht getan, weil ihr das wie Betrug am Schneiderhandwerk vorgekommen ist. Und an sich selbst.

„Und du? Hast du eine Verabredung?“ Draco war alt genug, um zu bemerken, wenn sie sich mit ihrer Kleidung bemühte. Doch sein Tonfall verriet ihr, dass er nicht davon ausging, dass sie einem romantischen Rendezvous entgegensah. Das wäre auch ein Frevel nach nicht einmal einem Monat. Nicht einmal ganz zwei Wochen.

„Ja.“ Draco fragt nicht, mit wem. Oder wo. Oder ob es spät werden wird. In solchen Gesprächen haben sie keinerlei Übung. Sie ist schließlich keine alleinerziehende Mutter auf der verzweifelten Suche nach einer Vaterfigur. Sie ist auch keine Witwe, die ihre Trauer allmählich vorsichtig überwinden möchte. Lucius lebt. Daran darf sie nicht zweifeln.

„Ich glaube, es regnet morgen.“ Sie fühlt sich ganz und gar nicht wohl, wenn Draco sie so betrachtet. Sein Blick wandert von ihren Füßen bis zu ihrem Scheitel. Dabei fühlt es sich an, als würde sie ein fremder Mann auf der Straße begutachten und nicht ihr eigener Sohn. Ihr Baby. Fühlt es sich so an, wenn man alleine, mit nackten Armen und offenen Augen durch die Welt spaziert? Seit wann sieht Draco Menschen so an? Ob er die Mädchen in Hogwarts auch so ansieht? Ihr ist schwindelig und sie greift nach einer schwarzen Strickjacke, die ihr schon immer ein wenig zu groß gewesen ist und die ihr gerade deswegen gut gefällt. Draco nicht. Die Begutachtung ist vorbei. Er wünscht ihr keinen schönen Abend. Sie wünscht ihm keine gute Nacht. Sie hofft, dass er noch wach ist, wenn sie wieder nach Hause kommt.

* * *



Von außen hat sich das Haus kaum verändert. Es ist immer noch alt. Hübsch. Einige Dachziegel fehlen, doch nicht so viele, dass es ernsthaft nach Verfall aussehen würde. Die Hintertür, die unmittelbar in den Salon führt, ist weit geöffnet. Man erwartet sie – und sie hat keine Ahnung, was sie erwarten muss.

Es kommt ihr wie unmögliches, wundersames Glück vor, dass sie dem dunklen Lord bisher noch nie von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand. Sie waren im selben Raum gewesen. Einmal. Die Zeitungen druckten kaum Bilder, die ihn zeigten. Es war alleine der Name, der für sich sprach. Keine photographischen Beweise von Nöten. Doch dieser Mann, dieses Wesen, hatte kaum noch Ähnlichkeit mit dem Mann am anderen Ende des Raumes, an den sie schwache, aber doch irgendwie zugleich prägnante Erinnerungen hatte.

Seine Haare waren verschwunden. Seine Haut war nicht rosig, nicht einmal blass, sondern irgendwie wächsern. Wie die eines Toten, der in einem schlecht belichtenen Mausoleum lag. Seine Züge waren durchaus noch menschlich, doch er hatte auch etwas von einer Echse. Ein Schlangenmensch. Sein Mund war ein Strich. Seine Lippen waren schmaler als die von Professor McGonagall nach einer haushohen Niederlage auf dem Quidditchrasen.

„Narzissa.“ Auf einmal verabscheute sie ihren Namen. Narzissa. Gab es einen Namen, den man besser zischeln konnte? Sie musste an ihre Mutter denken. An ihr Zischen. Doch das war kein Vergleich. Der dunkle Lord schimpfte nicht, nein, er sprach nicht einmal besonders laut. Er saß am Ende eines Tisches, an dem ihre Eltern früher nur dann aufgetischt hatten, wenn sie sogenannten „hohen“ Besuch empfangen hatten. Am noch unbesetzten Ende des Tisches stand ein Glas mit Elfenwein. „Bitte, nimm Platz.“

Die Verwendung ihres Vornamens, das Ausbleiben einer höflichen Anrede, führte nicht dazu, dass sie sich fühlte, als wäre sie bei einem zwanglosen Abendessen angekommen. Wie sollte sie ihn ansprechen? Seinen Namen mochte sie nicht verwenden. Du-weißt-schon-wen kam nicht in Frage. T.M. Riddle. Plötzlich sah sie wieder den Einband des Taschenkalenders vor sich, der ihnen so viel Unglück gebracht hatte. Nun ja, nicht ihnen direkt, doch er hatte definitiv Unglück in die Welt hinaus getragen. Aber seinen eigentlichen Namen würde er wohl nicht gerne hören. Nein, ein Mr. Riddle war er nicht. Ein Tom war er auch nicht. Sie konnte sich noch genau daran erinnern, wie verhalten Draco ihr am ersten Abend der Sommerferien davon erzählt hatte. Die Kammer des Schreckens. Ginny Weasley. Der Erbe Slytherins. Draco hatte mehr Fragen gehabt, als sie ihm beantworten konnte oder wollte, doch sie hatte ihr Bestes getan. Und sie war sich sicher, dass er Lucius und sie im Laufe des Sommers belauscht hatte. Das Thema war immer wieder aufgekommen. Wie eine Wasserleiche, die an die Oberfläche trieb. Eine Wasserleiche. Das war es, woran der Mann vor ihr sie erinnerte. Die aufgedunsene, fahle Haut. Ein toter Mann, der oben schwamm.

„Vielen Dank für die Einladung, Sir.“ Sie besann sich auf ihre Erziehung. Sir, das ging immer. Es war fast immer zu höflich und gerade deswegen konnte sich niemand daran stören. Die Arbeitskollegen ihres Vaters hatte sie so genannt. Die Professoren an der Universität. Sir Nicholas, den Fast-Kopflosen. Die Lippen, die Fast-Lippen des dunklen Lords kräuselten sich zu einem Lächeln, als sie sich hinsetzte. Sie betrachtete das Glas.

„1980. Ein hervorragender Jahrgang, so sagt man.“ Der dunkle Lord. Ein Weinkenner. Diese Bemerkung verwirrte sie über die Maße und sie konnte nur daran denken, dass es bestimmt kein Zufall war. 1980. Ein hervorragender Jahrgang. Dracos Jahrgang. Harry Potters Jahrgang. Es gab keine Zufälle zwischen Himmel und Erde. Nicht in so einem Moment. „Wie geht es dir?“

„Den Umständen entsprechend.“ Sie nahm sich vor, einen Schluck zu trinken, doch es ging nicht. Der Wein war rot, sicher, doch er kam ihr fast schwarz vor. Ein hervorragender Jahrgang. „Ich möchte nicht unhöflich sein, aber die Einladung hat mich erstaunt. Ich habe nicht erwartet, dass ein Interesse an meiner Person bestehen würde.“ Und sie erwartete immer noch, dass Bella – oder wenigstens Rodolphus – wie ein Springkastenteufel in das Zimmer platzen durfte.

„Du bist eine interessante Person. Und ich habe es versäumt, dich kennenzulernen. Nicht nur Bellatrix hat mir immer wieder versichert, dass du eine sehr begabte Hexe wärst. Trotzdem habe ich mich mit Lucius' Gesellschaft begnügt. Ein Fehler, das hat sich nun gezeigt. Nicht unverzeihlich, aber doch sehr sehr ärgerlich.“

„Da könnte ich nicht mehr zustimmen. Und Lucius ebenso. Er bereut es sehr.“

„Das nehme ich an… Askaban ist kein schöner Ort. Zumindest stelle ich es mir nicht sehr schön vor.“ Sein Blick fiel auf das unangetastete Glas vor ihr. „Trinkst du keinen Wein?“

„Nicht allzu gern.“

„Ich auch nicht. Aber ich wollte nicht mit leeren Händen aufwarten. Nun ja, irgendjemand wird die Flasche schon zu schätzen wissen. Wurmschwanz ist immer durstig… er war ganz aufgeregt, weil er nach Malfoy Manor durfte. Das berüchtige Malfoy Manor, dessen Tore nur für ganz besondere Gäste geöffnet werden… und natürlich für jene, die dreist genug sind, sich immer wieder selbst einzuladen.“ Sprach er von sich selbst? Oder von Bella? „Draco hat seine Zaubergradprüfungen abgelegt, nicht wahr?“

„Ja, das ist richtig.“

„Und?“

„Wir warten noch auf die Ergebnisse. Die Ferien haben ja gerade erst begonnen.“

„Natürlich, natürlich… aber hat er ein gutes Gefühl? Ist er ein guter Schüler?“ Das Eis unter ihren Füßen war so dünn, sie hörte es beinahe knirschen. Ihre Zehen kamen ihr taub vor. Das musste die Kälte sein. Oder die Schuhe, die plötzlich kleiner geworden zu sein schienen.

„Er hat uns nie Sorgen gemacht. Für Wahrsagen und Kräuterkunde hat er kein besonders gutes Verständnis, aber die eine oder andere Schwachstelle hat ja jedes Kind.“ Die eine oder andere Schwachstelle war jedes Kind. Sie konnte spüren, dass ein Messer ihre Kehle kitzelte. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis ihr die Luft wegbleiben würde.

„Es ist ja auch nicht immer die Faulheit oder der Geist des Schülers, die effizientem Unterricht im Wege stehen. Manchmal ist es auch die Lehre. Und die Auswahl einiger Lehrkräfte in Hogwarts war in den letzten Jahren doch eher bedenklich, wenn man Severus Glauben schenken darf.“ Eine Debatte über die Probleme der Bildungspolitik? Sollte das der Grund für ihre Anwesenheit sein? Baute der dunkle Lord sich sein eigenes kleines Ministerkabinett auf und suchte noch nach jemandem, der sich um irrsinnige Schwindlerinnen als Professorinnen für Wahrsagekunst aufregen konnte? „Ein Junge wie Draco sollte die Chance haben, gut unterrichtet zu werden. Er hat immerhin das außerordentliche Glück, eine sehr intelligente Mutter und eine Tante zu haben, denen es nicht an Zeit fehlt, ihm etwas beizubringen. Der Sommer ist noch lang. Wir sollten ihn dafür nutzen, Draco ein paar Stücke Zauberei zu zeigen, die ihm in der Zukunft hilfreich sein können.“

„Draco ist erst sechzehn. Sein Geburtstag ist noch nicht lange her. Er darf nur in der Schule zaubern. Die Regeln des Ministeriums, die Zauberei von Minderjährigen betreffend, sind eindeutig.“

„Die Regeln des Ministeriums sind mir bekannt. Draco wird keinen Ärger bekommen. Er wird lediglich etwas lernen. Es wäre doch sehr bedauerlich, wenn er nach Hogwarts zurückkehren würde, ohne das nötige Handwerkszeug.“ Die Nicht-Lippen kräuselten sich wieder. „Draco wird eine Aufgabe bekommen. Eine sehr wichtige Aufgabe, die nicht einfach zu lösen ist, doch ich habe großes Vertrauen in ihn. Er wird seine Chance besser zu nutzen wissen als Lucius.“ Das war es also. Eine Aufgabe. Für den Ersatz. Den Nachwuchs. An Aufgaben und Missionen und Pflichten würde es hier nie mangeln. Dem dunklen Lord würde immer etwas einfallen, das getan werden musste. Etwas, das niemand tun wollte. Dreckige Arbeit. Strafarbeiten.

„Draco ist ein guter Junge.“

„Daran hege ich keinerlei Zweifel und aus diesem Grund möchte ich auch ihn kennenlernen. So bald wie möglich.“ Missbilligend sah der dunkle Lord sich in dem Zimmer um, das einst prachtvoll und gemütlich gewesen war, doch ohne Gäste, ohne Wärme, ohne jemanden, der Staub wischte, doch eher karg und bleich schien. „Besonders wohnlich ist es hier nicht. Allerdings zweckdienlich. Es ist schon eine Weile her, doch Bellatrix hat hier ein kleines, unsichtbares Meisterwerk vollbracht. Dieser Raum existiert nicht, wusstest du das? Hier ist das Nichts. Hier darf jeder Zauber gesprochen werden. Zumindest hat dein Cousin hier einige sehr gefällige Zaubertricks gelernt, ohne dafür vom ehrenwerten Zaubereiministerium belangt zu werden.“ Regulus. „Regulus war nicht viel älter.“

„Draco wird sich sicher freuen.“ Im ersten Moment würde er das vielleicht wirklich. Es hatte ihn immer unheimlich aufgeregt, seine Hausaufgaben für Professor Flitwick und Professor McGonagall erledigen zu müssen, ohne dabei die Möglichkeit zu haben, die beschriebenen Zauber praktisch auszuprobieren. In dieser Hinsicht schlug er sehr nach Lucius, dem theoretische Beschreibungen von irgendwelchen Handbewegungen ebenfalls ein Grauen waren.

„Wäre es möglich, dass er mich morgen Nachmittag besucht?“

„Sicher.“

„Bellatrix wird hier sein. Und er ist ja beinahe erwachsen. Es ist also nicht nötig, dass du ihn begleitest.“

„Ich würde ihn aber gerne begleiten.“

„Dagegen habe ich auch an und für sich nichts einzuwenden. Nur morgen nicht. Morgen wird jemand anders deine Hilfe dringender brauchen.“ Zum dritten Mal kräuselten sich die Lippen und sie wusste, dass alles Wesentliche gesagt war. Mit ein wenig Glück würde sie bald entlassen werden. Oder in eine einnehmende Unterhaltung über das Wetter verstrickt werden.

* * *



Der Jemand, der ihre „Hilfe“ brauchte, war nicht irgendjemand, sondern ein alter Bekannter. Der dunkle Lord hatte ihr noch eine Uhrzeit mit auf den Weg gegeben, zu der er Draco in Cobham Wood sehen wollte. Draco kannte das Haus, die Umgebung. Die Besuche bei ihrem Vater waren nicht häufig gewesen, aber doch beständig. Als sie am Abend zurückgekommen war, hatte Draco die Tür zu seinem Zimmer bereits fest verschlossen. Abraxas war ebenfalls zu Bett gegangen. Sie war nicht gleich nach Hause appariert, sondern hatte Wretchas Grab besichtigt und war über die Landstraße gegangen. In der vagen Hoffnung, von einem der Lastwagen erfasst zu werden, die tagsüber wie nachts zwischen Rochester und London hin und her fuhren.

Beim Frühstück hatte sie Draco mitgeteilt, was er heute tun würde. Sie hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass ihr nicht wohl dabei war und sie ärgerte sich darüber, mit Draco nicht mehr über Bellatrix gesprochen zu haben. Sie war seine Tante und doch war sie eine Fremde für ihn. Eine Gruselgestalt – bekannt aus dem „Tagespropheten“ und dem allgemeinen Getuschel. Draco hielt seinen Zauberstab fest wie einen Fremdkörper und sah den Kamin an, als wäre er der Schlund eines feindseligen Drachen. Ehe sie Draco davon überzeugen konnte, eine Handvoll Flohpulver zu nehmen, spuckte der Drache auf einmal Feuer und im Abstand von wenigen Sekunden landeten Rabastan und Bellatrix in ihrer Küche.

Rabastan hatte sich erschreckend wenig verändert. Seine Haare waren zu lang, sein Gesicht war faltig und seine Zähne, die er sofort durch ein Grinsen entblößte, waren gelblich verfärbt. Er gab zu wenig auf sich Acht. Er gab schon so lange zu wenig auf sich Acht, dass es kaum noch einen Unterschied zu machen schien, ob er zwei Jahre im Dschungel oder fünfzehn Jahre in Askaban verbrachte. Draco, der über Rabastan von ihr nie ein einziges Wort gehört hatte, starrte ihn an. Sein Mund war geschlossen, doch man musste nur auf seine Augen achten, um zu erkennen, dass er schockiert war. Vielleicht war es das Grinsen. Vielleicht war es aber auch bloß die Tatsache, dass Rabastan und Bellatrix echte Menschen waren. Und nicht die Tinte auf Fahndungsplakaten.

„Wie groß du geworden bist. Und wie hübsch.“ Bella gurrte fast und ignorierte gnädig, dass Draco einen halben Meter zurückwich, als sie ihn ansprach. „Du hast deinen Zauberstab und siehst aus, als wärst du hinter den Ohren gewaschen. Sehr gut. Mehr brauchst du nicht.“ Draco rührte sich nicht und zuckte zusammen, als sie seine Schulter berührte.

„Draco, das ist Bella. Deine Tante. Ihr werdet heute zusammen ein bisschen zaubern. Du kannst viel von ihr lernen.“ Sie klang als würde sie mit einem Vierjährigen reden, doch im zarten Alter von vier Jahren war Draco wesentlich gesprächiger gewesen als in der Gegenwart. „Wir sehen uns heute Abend.“ Sie griff nach seiner Hand und drückte sie fest. Am liebsten hätte sie ihn an sich gerissen und wäre Gott weiß wohin mit ihm appariert, aber das war nicht möglich. Das würde ihnen auch kein Glück bringen. Es durfte nicht so weit kommen, dass der dunkle Lord und Bella ihnen feindselig gegenüber standen. Und wenn es dafür notwendig war, dass Draco einen Nachmittag mit Bella verbrachte, dann konnte sie das leider nicht ändern. Wenn er sich sträuben würde, dann wäre die Gefahr, die summend und brummend um sie herumschlich, nur ein Stückchen realer.

Draco bewies, dass er doch irgendwie der Sohn seines Vaters war und glättete sein Gesicht. Ohne eine Grimasse zu ziehen, ging er zum Kamin, nahm eine Handvoll Flohpulver und sah Bella direkt ins Gesicht. „Cobham Wood?“ Bella nickte und nacheinander verschwanden die beiden.

Rabastan, der sich bisher eher ruhig gegeben hatte, war an die Anrichte herangetreten. Vor ihm stand die Dose mit dem Kamillentee, den sie seit dem Abend vor Lucius' Urteil jeden Tag getrunken hatte. „Ein nervöser Junge.“

„Er kennt Bella nicht.“ Sie wollte sich nicht rechtfertigen und sie tat es doch. Glücklicherweise breitete sich auf Rabastans Gesicht ein Grinsen aus.

„Und Bella kann einen schon mal nervös machen, das ist wohl wahr. Er ähnelt Lucius sehr. Ich dachte fast, ich hätte eine Erscheinung.“ Rabastans dunkle Augen ruhten auf ihrem Gesicht, als würde er nach irgendwelchen Merkmalen suchen, die Draco von ihr geerbt hatte. „Ich freue mich, dich zu sehen.“

„Versteh mich nicht falsch, aber ich freue mich nicht besonders. Ich bin froh, dass du es bist, aber ich hätte ihn lieber begleitet. Und ich kann mir absolut nicht vorstellen, wobei du meine Hilfe brauchen solltest, also muss ich annehmen, dass du mein Ablenkungsmanöver bist und nun ja, ich bin froh, dass diese Aufgabe nicht Rodolphus übertragen wurde.“

„Du hast dich wirklich nicht großartig verändert. Du bist immer noch viel zu ehrlich… aber ich benötige tatsächlich deine Hilfe. Rodolphus, Bella und ich haben in den letzten Tagen sehr viel Bewegung gehabt… es ist zwar unwahrscheinlich, dass das Ministerium eine Offensive startet, aber niemand von uns unterschätzt den Dickschädel von Mad-Eye Moody – oder Scrimgoeur. Ein Auror als Zaubereiminister anstatt eines eingefleischten Bürokraten, sie lernen dazu. Wir brauchen einen Ort, an dem wir uns häuslich einrichten können. Das Nomadenleben… für mich wäre das in Ordnung, aber man wird ja doch ein wenig älter. Bella und ich haben unser Bestes getan, um das alte Haus mit Bannen zu überdecken, die auch den Herrgott persönlichen außen vor halten, insofern er das Zauberwort nicht kennt… aber wir brauchen jemanden, der die Abnahme machen kann. Jemanden vom Fach. Jemanden, der einen Abschluss in Zauberkunst und einen wachen Geist hat… und glaub es oder glaub es nicht, aber wir haben alle zuerst an dich gedacht.“

„Ich fühle mich geehrt.“

„Bist du etwa richtig zynisch geworden? Ich hatte schon immer eine Schwäche für zynische Frauen.“ Sie wartet auf das ironische Zwinkern, doch es bleibt aus. Für diese Bemerkung hat sie der Sicherheit halber nur ein Seufzen übrig.

„Dann lass uns anfangen. Je schneller das erledigt ist, umso schneller bin ich wieder hier.“

„Was willst du hier?“ So wie er sich in der Küche umsah, sollte man meinen, der Mann hätte in den letzten Jahren allerlei spannende Orte gesehen – und nicht immer nur dieselbe, sicherlich nicht unbedingt kunstvoll dekorierte Zelle. Mit einem Mal kam ihr das Grinsen nicht mehr freundlich vor, sondern zugleich stupide und raubtierhaft. Und stupide Raubtiere waren nicht unbedingt etwas, das sie in ihrer Nähe wissen wollte.

„Ich möchte später in Ruhe kochen.“

„Kochen? Habt ihr denn keine Hauselfe mehr? Was ist aus dem guten Kreacher geworden?“

„Kreacher sehen wir hier nur noch selten. Und ich koche gerne. Es ist entspannend.“ In den letzten Tagen hatte sie zwar immer wieder zu viel Salz oder Pfeffer verwendet oder direkt zu den falschen Gewürzen gegriffen, doch beruhigt hatten sie sogar diese Fehlgriffe.

„Wie hausmütterlich du geworden bist… man sieht es dir gar nicht an. So schick wie eh und je.“ Ohne Vorwarnung schnappt er nach dem Saum ihres Kleides und lässt den Stoff durch seine Finger gleiten. Schon wieder fehlt ihr der Hinweis darauf, dass er sich nur einen Spaß mit ihr erlaubt.

„Lass uns gehen, ja?“

„Natürlich.“ Als sie automatisch einen Schritt auf den Kamin zutut, schüttelt er tadelnd den Kopf. „Kein Anschluss unter dieser Nummer. Euer alter Kamin mag niemals abgemeldet worden sein, aber Bella und Rodolphus haben noch vor ihrem abrupten Aufbruch alles stillgelegt. Du hast die Wahl. Ein klassischer Ritt auf dem Besen – oder eine schlichte Disapparation aus der Nähe deines Hauses in die Nähe des Hauses, in dem du sehnlich erwartet wirst.“

„Komm mit.“ Schweigend folgt er ihr ins Erdgeschoss, hinaus in den Garten, in Richtung der Grenzen des Grundstücks, hinter denen auch ihm das Disapparieren möglich sein wird. Obwohl er kein Wort sagt, kann sie hören, dass er sich ganz prächtig amüsiert. Ob das an ihrem Sommerkleid liegt, an ihrem Mangel an Leichtfertigkeit oder ganz einfach daran, dass er einen unterhaltsamen Gedanken in sich trägt, das kann sie nicht ergründen.

Aus einer gewissen Entfernung wirkt Malfoy Manor so groß und prächtig, dass sie kaum glauben kann, dass dieses Gebäude ihr Zuhause ist. Die Pfauen, die bei Sonnenschein besonders eitel sind, stolzieren über die Hecken und recken ihre Hälse in die Höhe.

„Darf ich bitten?“ Rabastan bietet ihr seine Hand an, als wolle er sie zum Tanzen auffordern.

„Ich kann alleine disapparieren. Ich kann mich noch an das Haus erinnern.“

„Bitte, Narzissa, jetzt sei nicht stur. Wenn wir keine allzu schlechte Arbeit geleistet haben, dann wird eine Disapparation nicht möglich sein – und wir wollen doch nicht, dass du dir wehtust, weil du dich an den falschen Baum erinnerst. Na komm schon, nicht so schüchtern, du bekommst deine Hand zurück.“

Widerwillig legt sie ihre Hand in seine und versucht, sich nicht anmerken zu lassen, wie betroffen es sie macht, dass er mit seinem Daumen über ihr Handgelenk streichelt. Seine Fingernägel sind spitz und rau und länger muss sie darüber nicht nachdenken, denn sie treten in das Nichts ein und landen auf einer Wiese. Hinter ihnen ein Wald, den sie weniger dunkel und dicht in Erinnerung hatte.

Das Haus, um das sich Bellatrix und Rodolphus schon nicht allzu gut gekümmert haben, als sie Tag für Tag darin gewohnt haben, ist vollkommen zugewachsen. Es sieht aus, als wäre es vom Garten verschluckt worden. Lediglich das Dach und ein Schornstein schauen hinter den Bäumen und Büschen noch hervor. Wenn man nicht wüsste, dass dahinter ein ganzes Haus verborgen ist und zufällig beim Blick in den Himmel den Schornstein bemerkt, dann könnte man es bei einem Waldspaziergang glatt übersehen.

Rabastan lässt ihre Hand los und bedeutet ihr mit einer Geste, dass sie stehen bleiben soll. „Ich werde immer ein Stück vorgehen. Die Bannzauber sind so angelegt, dass ich, Rodolphus, Bella und der dunkle Lord alle durchtreten können. Ich hätte auch gleich ins Haus apparieren können, doch du wärst vermutlich schmerzhaft abgeschmettert worden. Der erste Bann dürfte relativ sanft sein, also wenn du das Gefühl hast, gegen ein gespanntes Laken zu laufen, dann sag Bescheid und geh nicht weiter.“

„Und dann?“

„Dann nehme ich dich bei der Hand und wir gehen zusammen in den ersten Kreis der Hölle.“

„Und dann kann mir der Zauber nichts anhaben? Das ist nicht sehr sicher. Du weißt, die größte Tücke von Bannzaubern ist die Möglichkeit, dass sich jemand an dich dran hängt. Also einfach durch Körperkontakt den Zauber umgehen zu können, das ist nicht besonders stabil.“

„Ich wusste, dir würde das hier Freude machen. Du bist schon ganz in deinem Element. Bitte, geh ein Stück.“

Sorgsam setzte sie einen Fuß vor den anderen und hielt die Hände mit gespreizten Fingern hoch, damit der Zauber unter gar keinen Umständen zuerst ihr Gesicht treffen würde. Auf einen fiesen Fall von Nasenbluten hatte sie nämlich überhaupt gar keine Lust. Ihre Handflächen landeten auf einer klebrigen Oberfläche. Es fühlte sich nicht nach einem gespannten Laken an, sondern eher nach einer Plastikfolie. Sie tastete von links nach rechts, trat mit einem Fuß nach vorn und hoffte, keinen allzu albernen Anblick zu bieten.

„Solide. Gehe ich Recht in der Annahme, dass ich zurückgeschleudert werde, wenn ich weiterlaufe?“ Rabastan nickt und nimmt ihre Hand, die sie in seine Richtung ausgestreckt hat. Es fühlt sich an, als würde sie unter eine Dusche steigen, als sie den Bann gemeinsam durchschreiten. Unwillkürlich greift sie in ihre Haare, doch natürlich ist sie nicht nass. Rabastan ist wieder stehen geblieben und beobachtet, wie sich der Abstand zwischen ihnen vergrößert. Als sie sicherlich zehn Meter gegangen ist, dreht sie sich fragend zu ihm um.

„Sollte da nichts sein?“

„Doch. Es ist allerdings ein Bann gegen fremdes Blut. Wahrscheinlich bist du durchgekommen, weil Bella deine Schwester ist.“

„Ein Bann gegen Blutsfremde? Schlechte Wahl. Was wäre, wenn Sirius noch am Leben wäre? Dann könnte er den Bann mit Leichtigkeit durchbrechen. Außerdem wird Andromeda dann auch durchgehen können. Genau wie ihre Tochter.“ Es war gar nicht der Plan gewesen, von Nymphadora zu sprechen, doch Rabastan wirkte nicht so, als hätte sie ihm da irgendwelche bahnbrechenden Neuigkeiten verkündet.

„Berechtigter Kritikpunkt. Geh weiter. Der nächste Spruch ist ziemlich wasserdicht.“ Wasserdicht im wahrsten Sinne des Wortes. Als sie ein Stück weiterging, hatte sie das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Die Wiese sah ganz normal aus und doch schwankte sie. Als würde sie über Treibsand gehen. Ein gemeiner Trick, aber auch nicht vollkommen sicher. Sie richtete den Blick nach vorne und ging einfach weiter. Wenn man sich nicht beirren ließ, dann waren Zauberbanne, die auf Sinnestäuschungen setzten, leicht zu überwinden. „Okay, okay, du bist gut. Drei von sieben sind geschafft.“

„Sieben? Weil das eine magische Zahl ist oder ist euch sonst nichts eingefallen? Wenn ich so weit komme, dann schafft es Moody auch.“ Falls er auf die Idee kam, Nymphadora zu schicken oder Vielsafttrank zu nutzen. Aber das würde er schon. Er war schließlich nicht dafür bekannt, dass es ihm an Einfallsreichtum oder queren Gedanken fehlte.

Gespannt, ob sie hier an ihre Grenze kommen wird, geht sie weiter und ertastet mit ihren Händen eine Mauer. Endlich ein klassischer Bannzauber. Mit ihrem Zauberstab ertastet sie die imaginären Steine und schiebt die Spitze des Stabs dazwischen. Sie hört ein leises Bröckeln und schließlich klingt es, als würde vor ihnen ein Steinbruch entstehen.

„Wie hast du das gemacht?“

„Es gab Rillen. Unsaubere Arbeit. Wenn man eine Mauer imaginiert, dann muss man auch den glatten Beton imaginieren. Wenn man Stein für Stein setzt, dann kann auch Stein für Stein abgetragen werde. Ein allgemeines Problem ist im Übrigen, dass ihr keine Desillusionierungszauber verwendet. Man kann das Haus sehen. Das ist immer ein Nachteil, weil man so erahnen kann, dass die Zauber ringförmig angeordnet sind. Wenn ihr schon eine Glasglocke über das Grundstück legt, dann versteckt es wenigstens vor neugierigen Zuschauern.“

„Ich merke schon, ein Erwartungen übertroffen ist hier nicht mehr zu holen.“

„Oh, doch, meine Erwartungen werden übertroffen. Ich habe erwartet, dass ihr euch mehr anstrengt. Aber wahrscheinlich ist auch das Absicht, so habe ich viel zu meckern und viel zu tun und kann nicht auf die Idee kommen, mich um Draco zu sorgen.“

„Du bist paranoid. Wir sind wirklich auf dich angewiesen.“

„Schleim.“

„Was?“

„Kommt Schleim als Nächstes? Nichts ist schöner als eine im wahrsten Sinne des Wortes abstoßende Defensive.“ Rabastan lacht auf und doch wird sie enttäuscht. Die letzten drei Zauber sind aus dem Lehrbuch übernommen und schließlich steht sie ungehindert im Garten. Vor mannshohem Gras. „Kein Glanzstück. Wenn ich gleich nicht vom Rasen erwürgt werde, dann braucht es nicht mehr als zehn Minuten.“ Sie wendet sich Rabastan zu. „Wenn es jemand wirklich in dieses Haus schaffen will, dann ist das möglich.“

„Und was empfiehlt der Doktor dagegen?“

„Schleim. Das war eben mein Ernst. Es gibt einen Bann, der in Verbindung mit einem Zaubertrank arbeitet. Der Eindringling wird zwar durch den Geruch gewarnt und es ist kein schönes Gefühl, wenn man durch eine zähflüssige Wand aus Schleim läuft, aber der Trick ist, dass die Wand, also der Ringzauber, mehrere Meter dick ist. Sobald sich ein Körperteil in dem Schleim befindet, kann man nicht mehr umkehren. Es ist wie Kleber – und fühlt sich zugleich durchlässig an, sodass der motivierte Eindringling immer einen Schritt zu weit geht. Der Schleim erstickt nicht, doch er konserviert. Der gewissenhafte Hausbesitzer kann sich also noch sehr lange ansehen, wer ihn da besuchen wollte – und erwünschte Besucher unbeschadet befreien. Disapparation ist nicht möglich, sobald die bloße Haut in Kontakt mit dem Bann gekommen ist. Sollte jemand so umsichtig sein und Handschuhe tragen, dann ist ein Rückzug möglich. Allerdings kein Durchgang. Komme was wolle.“

„Das ist ja widerlich.“

„Und sehr effektiv. Ein weiterer Vorteil ist, dass der Bann nicht gebrochen werden kann, ohne einen entsprechenden Zaubertrank. Aber wenn der Schleim die letzte Schicht darstellt, dann ist keine Umkehr mehr möglich. Und die Wahrscheinlichkeit, dass jemand mit diesem Bann beim ersten Versuch rechnet, überhaupt so weit kommt und dann noch den passenden, übrigens nicht ganz einfach herzustellenden Trank in der Tasche hat… die Wahrscheinlichkeit ist nicht sehr hoch.“

„Entzückend. Darf ich dir eine Tasse Tee anbieten, während du mir erklärst, wie ich diese Festung erbaue?“

„Oh danke, aber nein. Bella ist mit dem Zauber vertraut. So hat unsere Großmutter ihr Haus vor ungebetenen Gästen geschützt. Aber es ist sehr nett, dass du dich so darum bemühst, mir die Zeit zu vertreiben. Trotzdem würde ich jetzt gerne gehen.“

„Du kannst Draco nicht helfen.“ Da ist kein Mitleid. Nicht einmal ein Funken. Da ist der gekränkte Stolz eines Mannes, der vielleicht irgendwann einmal dachte, dass er sein Leben auf der Bühne verbringen sollte.

„Ich weiß. Aber ich kann dafür sorgen, dass er heute Abend etwas Warmes zu essen bekommt. Ich wünsche dir einen angenehmen Abend. Richte Rodolphus meine Grüße aus. Es wird sicher nicht lange dauern, bis ich ihn auch zu Gesicht bekomme.“

Mit ausgebreitet Armen spaziert sie durch die Bannzauber zurück und macht sich auf eine unerwartete Gemeinheit gefasst, doch nichts geschieht. Sie steht wieder auf der Wiese, den Wald und die Bäume direkt vor ihrer Nase und kann ungehindert disapparieren.

* * *

 


Abraxas und sie essen miteinander. Draco kehrt nicht zurück. Auf der Stirn seines Großvaters hat sich eine Sorgenfalte gebildet und aus lauter Verzweiflung sprechen sie darüber, dass man in diesem Jahr doch noch Tomaten anpflanzen könnte. Und eigene Kräuter. Dafür, dass die Malfoys seit Jahrhunderten die Familie waren, die ihr Vermögen damit machte, Kräutermischungen, Medikamente und andere Hilfsmittelchen unter die Leute zu bringen, waren sowohl Abraxas, als auch Lucius reichlich uninspiriert, wenn es darum ging, einen eigenen Kräutergarten anzulegen. Mit Draco und seinem voraussichtlich knappen „Annehmbar“ in Kräuterkunde war ebenfalls kein Silberstreif am Horizont in Sicht.

Die lobenden Worte für den misslungenen Eintopf klangen ihr noch in den Ohren, als sie aus dem Obergeschoss Dracos Stimme hörte. Er rief nach ihr und sie wusste nicht warum, doch sie wartete nicht drauf, dass er zu ihnen kam, sondern stand vom Tisch auf, ließ Abraxas mit einer veralteten Ausgabe des „Spektrum Zaubergamot“ zurück, in der Lucius' Name noch nicht genannt wurde, und eilte nach oben.

Draco saß auf ihrem Bett. Mit den Fingern seiner rechten Hand hielt er seinen linken Unterarm fest umklammert. Verdeckte ihn. Mit leeren Augen sah er sie an. Er weinte nicht, doch seine Stimme brach, auch wenn es nur wenige Worte waren, die er von sich gab: „Sie haben gesagt, ich soll es mit Fassung tragen.“

Es fiel ihm sichtlich schwer, die Umklammerung seines Handgelenks aufzugeben, doch schließlich zog er seine Finger weg und sie hatte freie Sicht auf das vertraute Motiv. Seine Haut war gerötet und sie erinnerte sich noch gut daran, welche Schmerzen Lucius das frische Mal damals bereitet hatte. Im Gegensatz zu ihm gab sich Draco alle Mühe, keine Grimassen zu ziehen. Er trug es mit Fassung. Wie gewünscht.

Sie setzt sich neben ihn, schlang ihre Arme um ihn und legte ihr Kinn auf seiner Schulter ab. Sein Oberkörper zitterte und sein Atem ging ungleichmäßig. Sie drückte einen Kuss auf seine Schulter.

„Das ist halb so schlimm, mein Schatz. Das bedeutet nichts.“

„Das bedeutet alles!“ Er bebte und sie drückte ihn fester. „Ich kann das nicht, Mum. Ich kann das nicht, es ist… es ist unmöglich. Es ist wie eine dieser Aufgaben von Professor Snape, mit denen er uns demonstrieren will, dass wir rein gar nichts wissen und nie eine Chance hatten, den Trank richtig hinzubekommen. Er will, dass wir scheitern, damit wir sehen, dass wir immer noch ganz am Anfang stehen. Dass es rein gar nichts bedeutet, wenn man einen mittelmäßigen Liebestrank packt.“ Es klang, als würde er sprechen, ohne dabei zu atmen. Sie drückte ihn fester, auch wenn er dadurch sicher nicht besser Luft bekam. „Und er will auch, dass ich scheitere. Er will, dass ich sterbe.“

„Du wirst nicht sterben, Draco. Das verspreche ich dir.“

„Das kannst du mir nicht versprechen. Ich muss nach Hogwarts und da bin ich ganz allein und… ich will sterben. Am liebsten jetzt gleich.“ Sie ließ ihn los, nur um ihn zu packen und ihn so zu sich umzudrehen, dass er sie ansehen musste. Seine Augen waren leer und glänzten. Der trotzige Todeswunsch lag noch auf seinen Lippen und ehe sie sich zurückhalten konnte, hatte sie ihm eine schallende Ohrfeige verpasst.

„So etwas will ich nie wieder von dir hören. Du wirst nicht sterben. Nicht solange ich nicht zuerst unter der Erde liege.“ Entschuldigend streicht sie über die Haut, die sich bereits rosa verfärbt hat. „Es wird sicher kein gutes Jahr, aber dir wird nichts passieren. Daran darfst du niemals zweifeln, hörst du mich? Niemals.“

Chapter 37: Die fliegende Zeit

Chapter Text

37 – Die fliegende Zeit



Es war ein furchtbares Gefühl, alleine neben Draco am Gleis zu stehen. Ursprünglich hatte Abraxas sie begleiten wollen, doch er war mit Kopfschmerzen zu Bett gegangen und sie hatte ihn am Morgen weder gehört, noch gesehen und wollte ihn auch nicht stören. Es gab immerhin keinen Grund, warum er sie unbedingt begleiten müsste. Erwin Goyle winkt ihr verhalten zu und als er einen Schritt in ihre Richtung macht, sieht sie, wie Emmas Hand vorschnellt und ihn zurückhält. So läuft das jetzt also. Sie sind gebrandmarkt. Sie sind Personen, mit denen man nicht mehr gerne im öffentlichen Raum gesehen wird.

Draco hat ebenfalls bemerkt, was vor sich gegangen ist, doch er sagt nichts dazu. „Siehst du das Mädchen dort, das so beharrlich winkt? Das ist Pansy.“ Es ist eindeutig, dass Draco hier ein Opfer bringt. Er will sie davon ablenken, dass einer ihrer ältesten Bekannten nicht mehr mit ihr sprechen möchte. Das ehrt ihn und sie tut ihm den Gefallen und geht darauf ein.

Pansy bemerkt, dass sie nicht allein Dracos Aufmerksamkeit bekommt und hört erschrocken auf, zu winken. Sie errötet, wendet sich ab und redet auf ihre Eltern ein. Zwei blasse Menschen, die Wintermäntel tragen und starre Gesichter haben. Keine angenehmen Menschen. Keine Menschen, von denen man erwarten würde, dass sie eine frenetisch winkende Tochter haben.

„Sie sieht nett aus.“

„Sie ist auch nett.“

„Es tut mir leid, dass sie uns nicht besuchen konnte. Du hättest sie in den Ferien bestimmt gerne eingeladen und… diese Möglichkeit hab ich dir genommen.“ Nicht sie direkt. Aber wenn sie vor knapp fünfundzwanzig Jahren bessere Entscheidungen getroffen hätte, dann wäre der Vater ihres Kindes kein Todesser. Dann wäre ihr Kind kein Todesser. Dann wäre ihr Kind einfach nur ein Kind, das im Sommer seine Freunde zu sich einladen konnte.

„Ist besser so. Ich werde… ich sollte wohl mit ihr Schluss machen.“ Er macht nicht den Eindruck, als wäre das eine besonders schlimme Vorstellung für ihn, doch vermutlich trägt er den Gedanken schon länger mit sich herum und hat sich daran gewöhnt. Entschuldigend streichelt sie über seine Wange.

„Es wird nicht für immer so sein. Du kannst… irgendwann kannst du das wiedergutmachen. Und wenn sie die Richtige ist, dann wird sie dann immer noch da sein.“ Draco sieht sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.

„Liest du wieder Groschenromane oder woher kam das jetzt, Mutter?“

„Mach dich nur lustig über mich. Du wirst schon noch sehen, dass ich Recht habe.“

Die Richtige.“

„Sagt man das nicht mehr so? Ist die Begrifflichkeit aus der Mode gekommen? Drücke ich mich wie eine alte Frau aus, die keine Ahnung mehr vom echten Leben hat? Sag es mir ruhig frei heraus, ich will doch am Puls der Zeit bleiben.“ Er verdreht die Augen. In zehn Minuten fährt der Zug ab. Pansy verabschiedet sich von ihren Eltern, wirft Draco noch einen verstohlenen Blick zu und steigt dann ein. Erwin und Emma Goyle sind längst verschwunden. Sie will nicht, dass er geht.

„Doch, das sagt man schon noch so, aber… ich bin sechzehn. Pansy ist… so ernst ist das nun auch wieder nicht. Ich will sie ja nicht heiraten. Wer lernt denn schon mit sechzehn den Menschen kennen, den er irgendwann mal heiratet?“

„Soll ich dir jetzt wirklich in aller Schnelle erzählen, wie dein Vater und ich uns kennengelernt haben?“

„Oh bitte nicht, ich hatte Saft zum Frühstück. Mehr Zucker vertrage ich heute nicht.“ Tadelnd verpasst sie ihm einen Klaps und er verzieht das Gesicht. Er gibt sich so entsetzlich viel Mühe. Draco will genau wie sie, dass sie sich daran erinnern können, im Guten auseinandergegangen zu sein. Bis Weihnachten brauchen sie diese Erinnerung an einen vergnüglichen Vormittag im September. Einen bitteren Abschied können sie beide nicht ertragen.

„Ich meine ja nur, du kannst nie wissen, was die Zukunft bringt. Aber ich gebe zu, mit sechzehn Jahren hab ich wohl auch nicht darüber nachgedacht, ob dein Vater und ich so lange zusammen bleiben. Wenn ich mir vorgestellt hätte, dass wir eines Tages heiraten, dann wäre ich mir auch ein bisschen verrückt vorgekommen. Sehr verrückt sogar.“ Und trotzdem war es passiert. Trotzdem war sie hier und Lucius in Askaban. „Du solltest wohl einsteigen. Sonst sind am Ende alle Abteile besetzt.“

„Pansy hält mir gewiss einen Platz frei.“

„Das ist nett von ihr.“

„Sie ist nett. Das haben wir ja bereits festgestellt.“ Sie drehten sich im Kreis. Aber das war doch kein Grund, ihn früher als nötig gehen zu lassen.

„Du musst mir schreiben. Öfter als sonst. Jede Woche. Und wenn irgendetwas ist, wenn du irgendein Problem hast, das du keiner Eule anvertrauen kannst, dann geh zu Professor Snape. Er wird dir helfen. Er wird alles tun, was in seiner Macht steht, um dir zu helfen.“

„Hat er das wirklich versprochen?“

„Geschworen. Er hat es geschworen. Mir. In Bellas Anwesenheit. Und glaub mir, vor Bella will er nicht wie jemand dastehen, der sein Wort bricht.“ Man kann Draco bei der ersten Erwähnung von Bella ansehen, dass er eine Wand hochzieht. Eine Mauer. Entgegen ihren absurden Hoffnungen sind Bella und Draco nicht miteinander warm geworden. Draco hat sich seine Angst erhalten – und Bella hat es gefühlt. Gerochen. „Sie will auch nicht, dass dir etwas passiert.“

„Ich hatte nicht den Eindruck, dass sie mich besonders leiden kann. Sie… sie hat keine so hohe Meinung von Dad und sie hat mich ständig mit ihm verglichen.“ Das war korrekt. Das konnte man nicht beschönigen und sie hatte nicht die Zeit, um Draco von etwas zu überzeugen, das er weder glauben konnte, noch glauben wollte.

„Du gehörst zur Familie.“ Draco zuckt mit den Schultern. Familie. Ja. Das Wort hat in den letzten Wochen an Bedeutung verloren und an den falschen Stellen wieder an Bedeutsamkeit gewonnen. „Der Zug fährt gleich ab. Du solltest… schreib mir.“

„Mach ich.“ Der Bahnsteig hat sich bereits merklich geleert und auch wenn sie weiß, dass es ihm vermutlich unangenehm ist, zieht sie ihn in eine Umarmung und drückt ihm einen Kuss auf beide Wangen. Als sie ihn ein Stück von sich weghält, hat er die Lippen fest aufeinandergepresst.

„Grüß Pansy von mir, ja?“

„Sicher doch.“

* * *



Ohne Draco ist das Haus wieder so leer und still wie am Tag nach Lucius' Prozess. Sie setzt sich an den Schreibtisch in seinem Arbeitzimmer und beginnt, einen Brief zu schreiben, den sie nicht abschicken wird. In aller Ausführlichkeit schildert sie den Sommer, die vergangenen sechs Wochen, für Lucius – und so viel Tinte und Papier verschwendet sie in dem Wissen, dass er diesen Brief niemals erhalten würde, selbst wenn sie eine Eule finden würde, die es bis nach Askaban schaffen würde.

Aber eines Tages wird er hier sitzen und den Brief lesen können. Daran will sie nicht zweifeln. Deshalb entscheidet sie sich gegen ihren ersten Impuls, den Brief einfach zu verbrennen, faltet die Bögen gewissenhaft, sucht nach einem Briefumschlag, steckt sie hinein und versiegelt den Umschlag mit Kerzenwachs. Schließlich schreibt sie noch das Datum über das Siegel. 1. September 1996. Wann immer etwas passiert, das sie Lucius nicht nur in der Flüchtigkeit eines Moments, sondern wirklich erzählen will, wird sie es aufschreiben. Wann immer überhaupt etwas passiert und nicht ein Tag wie ein Dutzend andere Tage ist.

Als sie aufstehen will, lacht sie das weiche Weiß eines freien Bogens Pergament immer noch an. Ihr Handgelenk schmerzt von der ungewohnten Anstrengung, doch es juckt in ihren Fingern. Sie setzt den Federkiel auf, denkt an Nichts, und erschrickt, als sie sieht, was sie innerhalb eines Wimpernschlages geschrieben hat.

Liebe Andromeda,

Unwillkürlich lässt sie den unhandlichen Federkiel fallen und zerknüllt das Pergament mit beiden Händen, nur um es gleich wieder glatt zu streichen. Sie fühlt sich ganz entrückt. Die Idee, an ihre Schwester zu schreiben, die ungeschickten Briefe, der Drang des Erzählens hat irgendwann nachgelassen. Schon vor Jahren hat sie aufgehört, kleine Notizen anzufertigen und sich dabei vorzustellen, wie sie einfach das Bein der Eule greifen und einen Brief an ihre Schwester abschicken würde. Einfach so. Doch scheinbar ist der Drang nicht so tot wie sie gedacht hat. Einen anderen Grund für diesen Aussetzer, diese beiden Worte, die sie regelrecht anstarren, gibt es nicht.

Kurz entschlossen zieht sie ihren Zauberstab aus seiner sicheren Verwahrung in ihrem Stiefel hervor. Feuer. Asche. Das ist die einzige, vernünftige Lösung. Briefe an Lucius zu schreiben, aber nicht abzuschicken, das ist nicht vollkommen irrational. Irgendwann wird er hier sitzen und die Zeit haben, sie zu lesen. Und dann werden sie sich beide freuen, welche Details sie im Laufe der Zeit vergessen hat. Welche Beobachtungen sie gemacht hat. Kleinigkeiten wie das Winken von Pansy Parkinson werden dann wichtig und amüsant sein. Briefe an Andromeda hingegen sind irrational und sonst nichts. Sie weiß ja nicht einmal mit Sicherheit, ob ihre Schwester noch lebt. Wer garantiert ihr, dass sie nicht längst verstorben war und zusätzlich noch totgeschwiegen wurde? Wer sollte sie denn schon darüber informieren, wenn sie verstorben war? Wer würde daran schon denken? Nymphadora Tonks sicher nicht.

Sie verscheucht die Gedanken an Tod und Teufel, verlässt Lucius' Büro, schließt die Tür ganz sorgsam hinter sich und geht hinab ins Erdgeschoss, um Abraxas zu fragen, ob seine Kopfschmerzen verschwunden sind und sie gemeinsam zu Abend essen wollen.

Es erstaunt sie, sowohl das Büro, als auch die kleine Stube, in der Abraxas mit Vorliebe sitzt, wenn er sich durch einen Roman arbeitet, leer vorzufinden. Einmal hat sie ihn gefragt, warum er seine Zeitungen im großen Salon liest, doch seine übrigen Bücher nicht. Er betreibe keinen literarischen Salon, das war seine Antwort darauf gewesen. Die Lektüre von Romanen sei eine private Angelegenheit, der Konsum von Zeitungen und Magazinen sei jedoch eine Annäherung an den öffentlichen Raum, ebenso wie der Salon der Ort im Haus sei, den Besucher betreten würden. Diese Logik war verquer, aber doch nicht komplett aus der Luft gegriffen.

An die Tür seines Schlafzimmers zu klopfen, war ihr immer noch ein wenig unangenehm. Denn wenn die Stube schon ein privater Raum war, was war dann das Schlafzimmer? Sie klopfte und sagte erst leise und dann ein wenig lauter seinen Namen. Auf ihre zweite Nachfrage reagierte er mit einem dumpfen „Herein“.

Das Zimmer war sehr viel schlichter eingerichtet, als sie angenommen hatte. Sofort erinnerte sie sich daran, wie sie bei ihrer ersten Begegnung mit Abraxas gestaunt hatte, weil er so schmucklos und asketisch aufgetreten war – und nicht wie jemand, der irgendwen beeindrucken wollte. Außer einem breiten Bett, einem Kleiderschrank und einem Spiegel gab es keinerlei Mobiliar. Der Boden war mit einem goldgelben Teppich ausgelegt, der dem Raum etwas Wärme verlieh. Auf der Fensterbank standen zwei blütenlose Pflanzen. An den Wänden hingen keinerlei Gemälde oder anderweitige Dekorationen wie im übrigen Haus. An einer Wand, die ansonsten leer geblieben wäre, war eine Photographie angebracht worden. Es war ein Porträt von Lucrezia Malfoy, auf dem sie sehr jung und sehr fröhlich aussah – und ganz anders als auf den übrigen Bildern, die sie kannte.

Die Bestandsaufnahme des unbekannten Zimmers führte dazu, dass sie Abraxas beinahe übersehen hatte, obwohl er auf dem Bett lag. Er trug einen Morgenmantel und hatte den Kopf auf mehrere Kissen gestützt. Es war ein intimer Anblick. Er sah regelrecht verletzlich aus. Verletzt.

„Ich wollte dich fragen, ob es dir besser geht… und was du gerne essen würdest, aber es sieht nicht so aus, als hättest du das Zimmer heute schon verlassen… warum nimmst du keinen Trank dagegen?“ Er hatte ein schwaches Lächeln für sie übrig.

„Ich glaube nicht, dass ich dieses Zimmer heute oder überhaupt noch einmal verlassen werde.“

„Wie bitte?“ Hatte er das gerade wirklich gesagt? Es fühlte sich wie ein grausames Déjà-vu an, als er den Gurt seines Morgenmantels löste und nichts als grüne, schuppige Haut zum Vorschein kam.

„Ich habe dir gegenüber einmal behauptet, ich würde mir noch optimistische drei Jahre geben und ich bin sicher, du bist entweder mit oder ohne Hilfe von Lucius irgendwann darauf gekommen, dass ich dir da ganz großen Drachenmist erzählt habe. Allerdings habe ich immer damit gerechnet, dass sich die Infektion eher früher als später ausbreiten würde. Es ging mir sehr lange sehr gut. Die Symptome waren kaum spürbar und ich hatte keinen Grund zu klagen. Vielleicht erinnerst du dich an die Grippe, die mich im März niedergestreckt hat?“ Wehrlos nickt sie, auch wenn es vermutlich egal ist, was sie tut. „Meine Abwehr wurde dadurch nachhaltig geschwächt und ich habe in den letzten Wochen täglich gemerkt, wie ich müder… und schuppiger werde.“

„Warum hast du nichts gesagt? Wieso… wir hätten dich ins St. Mungo bringen können!“ Er winkt ab.

„Ach, du hattest weiß Gott genug um die Ohren… und es ist ja nicht so, als gäbe es eine Theraphie. Wenn es die klassischen Pocken wären, gut, dann würde ich die bittere Pille schlucken, mich von oben bis unten einsalben lassen, aber es gibt kein Zaubermittel, das sie im St. Mungo verstecken. Ich habe mich selbst jahrelang behandelt, aber irgendwann erreicht jede Behandlung ihre natürliche Grenze.“

„Aber du… du hast einfach weitergearbeitet, als wenn es gar nichts wäre. Letzte Woche bist du in Brügge gewesen! Letzte Woche!“

„Warum hätte ich auch nicht in Brügge sein sollen? Was für einen Sinn hätte es gehabt, die Brocken hinzuwerfen und mich voreilig in meinem Elend zu suhlen?“ Er winkte sie zu sich und wie ferngesteuert ging sie zu seinem Bett und setzte sich neben ihn. Aus der Nähe sahen die Verkrustungen noch farbenfroher und schmerzhafter aus. Wie ein neugieriges Kind streckte sie ihre Hand aus und er schüttelte den Kopf.

„Bleib, wo du bist. Das ist schon ein sehr guter Abstand.“ Er schloss den Morgenmantel wieder und sie entdeckte dabei eine einzelne, grüngelbe Schuppe auf seinem Unterarm. „Die Gefahr einer Ansteckung ist nicht allzu hoch, wenn wir keinen direkten Hautkontakt haben. Trotzdem solltest du vorsorglich meine Kleidung und die Bettwäsche verbrennen, wenn alles vorbei ist.“

„Du wirst nicht sterben.“

„Oh doch, meine Liebe, das werde ich.“

„Aber was wird dann aus der Apotheke?“ Was wird aus dem Namen Malfoy? Was wird aus einem Vermächtnis und einem Vermögen, einer Berufung, die über Jahrhunderte hinweg weitergegeben worden war? Von Väter an Söhne? Von Väter an Töchter? Von Mütter an Töchter? Von Mütter an Söhne und immer so weiter, immer anders, doch immer irgendwie?

„Ich bin sicher, die Beschäftigung wird dir gut tun. Ich habe vollstes Vertrauen darin, dass du dich mit der Unterstützung von einigen alt eingesessenen Kollegen ganz wunderbar um alles kümmern wirst.“

„Und wer kümmert sich um mich?“ Die Frage war ihr entschlüpft, ehe sie darüber nachdenken konnte, wie hilflos und verzweifelt sie klang.

„Du brauchst niemanden, der sich um dich kümmert. Und du wirst sehen, Lucius ist früher zurück, als du glaubst, um dir dazwischen zu pfuschen und auf mein Grab zu spucken.“

„Das würde er nie tun!“

„Das wird sich zeigen.“ Seine Mundwinkel zucken. „Ich würde sagen, wir wetten darum, aber das wäre wohl doch ein wenig makaber.“

„Aber nur ein ganz klein wenig.“

Er zwinkert ihr freundlich zu und sie zwinkert eine Träne weg.

„Nicht weinen. Wenn du mir etwas Gutes tun willst, dann wein nicht. Das Timing ist schlimm genug, ich weiß, ich wäre auch lieber im Frühling gestorben, wenn die Erde langsam warm und locker wird.“ Am liebsten würde sie ihm den Mund zuhalten, doch sie beherrscht sich und legte ihre zitternden Hände in ihrem Schoß ab. „Wie sieht es aus, wollen wir zusammen ein paar Kreuzworträtsel lösen? Dann würde ich mich zumindest noch etwas nützlich fühlen.“

* * *



Am zweiten September tut Abraxas seinen letzten Atemzug. Nur wenige Minuten zuvor hat er ihr noch einen Vortrag über die Verwendungsweisen von Ingwer in der Küche, sowie in der Zaubertranklehre gehalten. Danach hat er verkündet, müde zu sein und für einen Moment die Augen schließen zu wollen.

Drei Tage später wird er bei strahlendem Sonnenschein beerdigt. Bella und sie sind die einzigen Trauergäste. Am Abend zuvor hat sie einen Brief an Xenophilius Lovegood geschrieben und die Eule ist noch vor Mitternacht ohne ihren Brief, jedoch auch ohne eine Antwort, zu ihr zurückgekehrt. Sie hat nicht erwartet, dass er käme und doch ist sie enttäuscht, als er es wirklich nicht tut. Gerne hätte sie sich geirrt.

Malfoy Manor wird groß und größer. Als Bella davon spricht, eines der leeren Zimmer beziehen zu wollen, wehrt sie ab. Sie wehrt sich mit Händen und Füßen. Sie läuft durch das Haus auf der Suche nach Räumen, die sie noch nicht kennt. Es ist so leicht, sich vorzustellen, dass sie ein jammerndes Baby vor sich herträgt und erst seit wenigen Tagen hier zuhause ist. Es ist so schwer.

* * *



Auf wundersame Weise vergeht die Zeit, ohne dass sie ihren Verstand verliert. An jedem Samstag kommt ein Brief von Draco. Jeden Sonntag schreibt sie einen Brief an Lucius und versiegelt die Woche. Sie ist ein Uhrwerk. Sie übernimmt die Arbeit von Abraxas und als ihr Geburtstag bevorsteht, kennt sie jede einzelne Grafschaft von England, jedes schottische Dorf, in dem eine Malfoy-Apotheke steht. Sogar weit oben in Irland und auf der winzigen, vom Ozean verschluckten Isle of Man ist sie gewesen. Sie ist eine Kosmopolitin. Eine Reisende. Sie arbeitet, zum ersten Mal in ihrem Leben – und doch fühlt es sich so an, als würden ihr all die freundlichen, hilfsbereiten Apotheker einen Gefallen erweisen. Sie schenken Narzissa ihre Zeit, bitten sie auf einen Tee herein, fragen nach ihren Lieblingskeksen, bedauern den Verlust von Abraxas.

Als sie am Morgen ihres Geburtstags einen Strauß Narzissen auf dem Küchentisch erblickt, fällt sie beinahe in Ohnmacht. Ihre Beine werden taub und sie sieht, wie der Boden näherkommt, ehe sie von zwei starken Armen aufgefangen und wieder hochgezogen wird. „Na, na, das wird doch nicht schon die Altersschwäche sein.“ Es klingt nicht wie Lucius. Es riecht nicht wie Lucius. Es ist nicht Lucius. Es ist Rabastan, der sie festhält und sie so dreht, dass sie sein Gesicht sehen kann. „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.“

„Du hast mich erschreckt.“

„Das war nicht meine Absicht.“ Er lächelte und seine Augen rutschten ab. Als sie an sich heruntersah, wäre sie am liebsten im Boden versunken. Mit dem ersten Frost hatte sie es sich angewöhnt, in Lucius' Pullovern zu schlafen, anstelle von ihren eigenen Nachthemden. Am gestrigen Abend hatte sie sich für ein blaues Exemplar entschieden, das nur knapp bis zur Mitte ihrer Oberschenkel reichte.

„Bist du auf dem Sprung oder bleibst du zum Frühstück?“

„Wenn ich darf, würde ich bleiben.“

„Dann ziehe ich mir etwas über.“

„Ich setze heißes Wasser auf.“

Er gab sie frei und ihre Beine fühlten sich immer noch nicht ganz sicher an, doch sie schaffte es ohne Schwanken und Wanken ins Badezimmer. In einem bodenlangen Morgenmantel fühlte sie sich immer noch nicht richtig angezogen, aber doch zumindest präsentabel. Hastig putzte sie ihre Zähne, bürstete ihre Haare und rieb sich kaltes Wasser ins Gesicht. Sie war wach. Eindeutig. Sie war 41 Jahre alt und Lucius war in Askaban. Das war die Realität. Das durfte sie nicht vergessen.

Bei ihrer Rückkehr in die Küche erwartete sie der Geruch von Kaffee. Rabastan konnte nicht wissen, dass sie seit dem Sommer keinen frischen Kaffee mehr gekauft hatte. Die letzte Packung war auf Bitten von Draco angeschafft worden, der sich während der Vorbereitung auf die ZAGs wohl angewöhnt hatte, jeden Morgen zwei Tassen zu trinken und infolgedessen über Kopfschmerzen klagte, wenn sie ihm einen Tee vorsetzte. Im Laufe des Augusts war sie dazu übergegangen, ihm koffeinfreien Kaffee einzuschenken. Das Zichorien-Gebräu hatte zwar eine schöne Verpackung, doch es verbrauchte sich nur sehr langsam und sie zweifelte daran, ob das Pulver überhaupt noch haltbar war. Die schöne Verpackung hatte sie nämlich weggeschmissen.

„Du siehst blass aus. Ich wollte dir wirklich keinen Schreck einjagen.“

„Schick das nächste Mal doch eine Eule, wenn du beabsichtigst, mich zu einer gottlosen Uhrzeit aufzusuchen.“ Eine gottlose Zeit. Gab es so etwas überhaupt? Eine kleine, religiös gefärbte Sinnkrise näherte sich an und sie nahm rasch einen Schluck aus der Tasse, die Rabastan ihr eingeschenkt hatte und schmetterte die Krise ab. „Warum bist du hier?“

„Ich dachte, das wäre offensichtlich.“

„Ist es nicht.“ Sie griff zu einem Apfel aus der Schale, die in der Mitte des Tischs stand. Seitdem sie nur noch alleine aß, hatte sie die Freude am Kochen verloren, doch sie versuchte, sich gesund zu ernähren und kaufte deshalb Obst in rauen Mengen.

„Du hast Geburtstag. Deinen Geburtstag solltest du nicht alleine verbringen.“

„Und wenn ich das gerne möchte?“ Als würde es einen Unterschied machen. Als würde sie nicht jeden Tag alleine verbringen. „Ich habe zu tun.“

„Es ist Sonntag. Was hast du an einem Sonntag zu tun?“

„Ich muss einen Brief schreiben. Ich habe ein Buch, das ich auslesen möchte. Die Pfauen und der Garten müssen versorgt werden.“ Womit hatte sie sich früher nur die Zeit vertrieben? Wie waren sieben Tage vergangen, ohne dass es einen Unterschied gemacht hätte, ob es ein Sonntag war oder nicht? Wie konnte es sein, dass sie sich nie gelangweilt hatte?

„Das sind alles ehrenwerte Vorhaben, aber vielleicht gestattest du trotzdem, dass ich dir Gesellschaft leiste?“

„Nicht nötig. Ich bin sicher, du hast auch zu tun.“ Er seufzte und lehnte sich auf dem Tisch nach vorn, sodass sein Gesicht ihr ein ganzes Stück näher kam. Zu nah.

„Ich würde gerne mit dir spazieren gehen. Einen Ausflug mit dir machen. Nichts anderes will ich heute tun.“ Sie weicht seinem eindringlichen Blick aus und reagiert nicht. „Was ist los? Magst du mich nicht mehr leiden? Sind wir denn keine Freunde mehr?“

„Wir waren nie Freunde, Rabastan.“

„Das schmerzt, Zissy.“ Das sagt er zwar, doch er sieht nicht wie jemand aus, der Schmerzen leidet. „Eine Chance. Ein Tag. Wenn es schrecklich ist, dann werde ich hier nie wieder auftauchen.“ Leere Worte in einem leeren Haus.

„Gut. Ich werde mich fertig machen, aber ich werde mich nicht beeilen. Du wirst warten müssen. Oder du kommst später wieder her.“

„Ich warte. Willst du nicht noch frühstücken? Ein Apfel, das ist doch nichts.“ Er deutet in Richtung der bunt gefüllten Obstschale. Sie schiebt ihren Stuhl nach hinten und steht auf.

„Bedien dich.“

Ihr Versuch, sich nicht zu beeilen, sich zu entschleunigen, schlägt Fehl. Selbst als sie in der Badewanne sitzt und das Wasser immer wärmer wird, hat das nicht den üblichen beruhigenden Effekt auf sie. Selbst das Lavendelöl verfehlt seine Wirkung. Ihr Herz schlägt schnell, sie würde vielleicht sogar schwitzen, wenn sie nicht im Wasser hocken würde.

Vor dem Spiegel trocknet sie ihre Haare, die einen stumpfen Glanz haben. Das Schwarz hat sich in den Spitzen verloren und sie nimmt sich vor, für die nächste Woche  einen Termin im Friseursalon auszumachen. Ihre Haare sind so hell, dass sie nicht mehr sagen kann, ob sie immer noch blond sind oder bereits weiß. Weiße Haare sind ein Anzeichen fortschreitenden Alters, ein sicheres Zeichen dafür, dass man sich vielleicht schon in der zweiten Lebenshälfte befindet – oder zumindest nicht mehr jugendlich ist. Sollte sie sich darüber freuen, dass sie immer schon so ausgesehen hat? Vermutlich immer so aussehen wird? Sie cremt sich ein, wickelt den Morgenmantel erneut um sich und schreitet über den Flur in ihr Zimmer, vor ihren Kleiderschrank. Sie will sich keine Mühe geben und greift zu einem schlichten, schwarzen Kleid, das sie in dieser Woche bereits zweimal getragen hat. Bei einem Blick aus dem Fenster wählt sie eine ihrer dicksten Strumpfhosen und eine Strickjacke aus warmer, grauer Wolle. Sie schlüpft in ein Paar hohe Stiefel und verstaut ihren Zauberstab darin, auch wenn sie ihn vermutlich nicht brauchen wird.

Rabastan hat sich nicht vom Fleck bewegt. Der Geruch von frischem Kaffee hängt nicht länger in der Luft, die Luft ist schwer und schlecht und sie würde gerne das Fenster öffnen.

„Du siehst sehr hübsch aus.“

„Danke. Und danke im Übrigen auch für die Blumen. Sie sind sehr dekorativ.“ Rabastan betrachtet sie skeptisch und daran merkt sie, dass sie aus der Übung gekommen ist. Ihr ganzes Leben lang ist es ihr gelungen, Dinge zu sagen, die man sagen sollte, weil sie nett und richtig klangen – und stets war sie dabei einigermaßen überzeugend gewesen. „Entschuldige, ich habe keine besonders gute Laune.“

„Wenn du erlaubst, dann nehme ich die Herausforderung an und versuche, das zu ändern.“ Da sie ihm bereits zugebilligt hatte, den Tag mit ihm zu verbringen, zuckte sie bloß mit den Schultern und machte einen Schritt in Richtung des Kamins. Er schüttelte den Kopf. „Lass uns rausgehen. Dort, wo ich mit dir hinmöchte, gibt es keine Flöhe.“

Sie wandte sich vom Kamin ab, ging den Flur herunter und zuckte zusammen, als er sie einholte und an der Hand nahm. Wie ein Kind, das den Weg nicht kannte. Folgsam ging sie neben ihm, hinaus in den Garten, durch die milden Zauberbanne, die niemanden ernstlich abschreckten, aber doch zumindest verhinderten, dass Rabastan in jedes Zimmer des Hauses apparieren konnte, bis sie schließlich aus dem Garten hinaustraten.

Es war eine ganz ähnliche Szene wie im Sommer, doch diesmal landeten sie nicht in der Nähe eines Hauses. Sie stiegen durch das eine Nichts und landeten in einem anderen Nichts. In der Ferne hörte sie Wellen, die gegen Felsen schlugen. Die Luft war kalt und klar, doch als sie sich umdrehte und nach dem Meer, der Linie am Horizont suchte, sah sie nur Nebel. Seenebel. Im November gab es kaum einen Ort, der sich von seiner besten Seite zeigt, doch die Weite der kargen Landschaft, die Felsen, die aus dem blassen Gras wuchsen, hatten eine schlichte Schönheit. Im Sommer, wenn hier Blumen wuchsen, war es gewiss ein Idyll.

„Wo sind wir?“

„Der Ort hat keinen Namen, soweit ich weiß… mein Bruder und ich haben hier das Fliegen gelernt. Mein Vater hat es uns beigebracht.“ Vage erinnerte sie sich daran, dass Rabastan einst davon gesprochen hatte, auf einer professionellen Ebene Quidditch spielen zu wollen. Er hatte nach seinem Abschluss an einigen Auswahlspielen teilgenommen, eine halbe Saison war er sogar bei irgendeinem mittelprächtigen Verein in der Reserve gewesen. Das hatte sie vollkommen vergessen. Der Rabastan, der ihr zwischen Hörsaal und Bibliothek auflauerte, sie davon überzeugte, noch einen Kaffee zu trinken, schien nicht derselbe, hagere Mann zu sein, der neben ihr stand und den Kragen seines Mantels nach oben schlug. „Ich bin immer gern hier gewesen. Es ist friedlich.“

„Ja, das ist es.“

„Es ist das genaue Gegenteil von Askaban.“ Askaban. Das Wort, das sowohl sie, als auch Draco in ihren Briefen vermieden. Manchmal bildete sie sich sogar ein, dass Bella es aus Rücksicht nicht verwendete. Asbakan. Ein Nicht-Ort, dessen Namen jedes Kind in England kannte. „Es muss merkwürdig sein, Lucius nicht zu sehen. Habt ihr in den letzten Jahren überhaupt mal eine Woche getrennt voneinander verbracht?“

„Nein. Nicht einmal zwei Tage. Lucius ist jeden Abend nach Hause gekommen und wir sind nie ohne einander verreist.“

„Das klingt symbiotisch.“ Erneut nahm er sie an die Hand, zog sie mit sich und steuerte auf eine hohe Felsformation zu. „Und doch hast du dich dagegen gewehrt, Zeit mit mir zu verbringen. Hast du die Einsamkeit für dich entdeckt?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Fehlt es dir nicht?“

„Es?“

„Die Gesellschaft eines Mannes.“ Der Blick, den er ihr zuwarf, gefiel ihr ganz und gar nicht. Sie löste ihre Hand aus seiner.

„Lucius fehlt mir. Aber ich bin nicht auf der Suche nach einem Ersatz.“ Rabastan lachte so schallend, dass es ihr so vorkam, als würde sich das Lachen über die weite Landschaft verteilen und wieder zu ihr zurückkommen. Vom Nebel zurückgeworfen werden. Mit einer großen Bewegung legte er einen Arm um sie und seine Hand landete grob auf ihrer Hüfte.

„Nicht so scheu! Hab ich dir denn je etwas getan?“

„Noch nicht.“ Es war nicht immer gewinnbringend, den erstbesten Gedanken laut auszusprechen, doch in diesem Fall schien es ihr nötig zu sein.

„Jetzt sag nicht, du hast noch nie darüber nachgedacht? Er würde es doch nie erfahren. Und gewiss würde es dich aufmuntern.“ Es war möglich, dass das hier das übliche Geplänkel von Rabastan war, doch vielleicht war es auch bitterer Ernst. Vielleicht überschätzte sie sein Gedächtnis und Askaban hatte ihm doch etwas genommen. Eine glückliche Erinnerung an den Tag, an dem er sein Geheimnis mit jemandem geteilt hatte. War das die Art von Erinnerung, die einem Dementor gefiel?

„Seit wann interessierst du dich für Frauen?“

„Frauen im Allgemeinen interessieren mich nicht, aber du, Zissy, du bist für mich nicht irgendeine Frau.“ Er grinste. Oder lächelte. Das war schwer zu sagen. Seine Finger strichen über ihren Hüftknochen und näherten sich ihrem Oberschenkel. „Ich war früher sehr engstirnig. Ich habe bedauernswerterweise sehr klare Grenzen gezogen. Ich dachte, wenn mir beim Anblick eines schwitzenden Anton Bletchley flau im Magen wird, dann kann ich mich ja nicht gleichzeitig für einen hübsch gewählten Ausschnitt begeistern.“ Sie schweigt. Dazu weiß sie nichts zu sagen. „Wenn man in Askaban eines hat, dann ist es Zeit. Zeit, um solche Fehleinschätzungen zu überdenken.“

„Was möchtest du hier eigentlich zum Ausdruck bringen?“

„Ich bereue es, dass ich nie versucht habe, eine ernsthafte Konkurrenz für Lucius zu sein. Wer weiß, vielleicht hättest du mich ihm irgendwann doch vorgezogen. Vielleicht hätte er es auch nicht ertragen, einen Rivalen zu haben, dich aufgegeben und dann wäre ich übrig geblieben. Das hätte leicht passieren können.“

„Das klingt nicht besonders realistisch.“

„Weil die Realität anders aussah. Etwas, das nicht Realität ist, wird uns nie realistisch erscheinen.“ Wann hatte er sich in ein kalendersprücheaufsagendes Orakel verwandelt? Wann war seine Hand bis zu ihrer Mitte gewandert? Sie war ratlos. Es wäre eine Möglichkeit, einfach zu disapparieren und der Situation zu entgehen, doch es war nicht anzunehmen, dass er ihr nicht folgen würde. Stumm fliehen wie vor einem Fremden, der sie auf der Straße bedrängte, das war nicht möglich. Sie musste sich der Situation stellen.

„Lass mich los.“

„Ich möchte aber nicht.“ Er war ihr körperlich eindeutig überlegen. Er war größer als sie, stärker, schwerer. Aber vielleicht war sie die bessere Hexe. Vielleicht wäre sie schneller an ihrem Zauberstab. Im Ernstfall wäre es sicherlich möglich, ihm einen Schockzauber zu verpassen.

„Rabastan, bitte.“

„Ich mache doch gar nichts.“ Tatsächlich zog er seine Hand zurück und legte sie einigermaßen anständig auf Höhe ihrer Taille ab. Er hatte sie für ihren Geschmack immer noch etwas zu dicht zu sich gezogen, aber es war nicht allzu verwerflich. Und es war ehrlich gesagt auch nicht so furchtbar, einen anderen Menschen neben sich zu spüren. Solange er nicht sprach. „Du hast abgenommen.“

„Ein bisschen vielleicht.“

„Du solltest vernünftig frühstücken.“

„Äpfel sind vernünftige Lebensmittel.“

„Hast du keine Elfe im Haus?“ Doch. Elsi war zwar die Elfe von Abraxas gewesen und hatte diese Zuordnung auch sehr ernst genommen, doch Abraxas hatte in seinem Testament verfügt, dass Elsi zu Malfoy Manor gehören würde, solange dort jemand lebte. Es wäre ihr also möglich gewesen, Elsi fortzuschicken, doch sie hatte es nicht über sich gebracht, das letzte, lebende Wesen, das sich im Haus befand und kein Pfau war, zu vertreiben. Stattdessen unterforderte sie Elsi, überließ ihr die Pflege und Fütterung der Vögel und bat sie ab und an um Hilfe bei der Gartenarbeit.

„Doch, doch… es geht mir gut. Ich kann mich um mich selbst kümmern. Ich bin erwachsen.“

„Vor allem bist du stur.“ Rabastans Finger tänzelten über ihre Rippen. „Stur und dürr. Wenn du noch mehr Gewicht verlierst, wird man es dir als Erstes im Gesicht ansehen. Willst du wirklich dein Gesicht verlieren, dein hübsches Gesicht?“

„Kannst du vielleicht ganz normal mit mir reden?“

„Ganz normal? Rede ich denn nicht normal mit dir?“

„Nein, du tust so, als wäre ich ein kleines Mädchen, das nicht weiß, was es möchte.“ Und nebenbei tat er so, als wollte er dieses kleine Mädchen verführen. Das nahm sie ihm allerdings noch immer nicht ganz ab. Sie hatte nicht vergessen, wie er sein konnte. Wie unsicher.

Es war nicht richtig und es war nicht nett, doch auf einmal wollte sie wissen, wie viel es brauchte, um ihn aus der Fassung zu bringen. Abrupt blieb sie stehen, drehte sie so zu ihm um, dass sie ihm geradewegs in die Augen sehen konnte und trat so dicht vor ihn, dass sie den Kopf ein bisschen in den Nacken legen musste, um nicht seine Schultern anzustarren.

„Ja?“ Auf seinem Gesicht hatte sich ein fragendes Grinsen ausgebreitet.

„Was willst du eigentlich? Was soll das hier werden? Wenn du mich wirklich ins Bett kriegen willst, dann wäre es klüger gewesen, wir hätten das Haus nicht verlassen.“ Es war windig und neblig und es würde sie nicht wundern, wenn es anfangen würde, zu regnen. Die Luft war feucht und salzig. Sie streicht sich die Haare aus dem Gesicht und wartet ab, was er sagt. Oder tut. Nichts. Nichts wird er tun.

„Ich dachte nicht, dass du bereit wärst, euer Ehebett zu entweihen.“

„Wir haben zahlreiche Gästezimmer. Oder hast du mich eher auf dem Gras gesehen? Passt das etwa zu mir? Passt es zu mir, meinen Mann zu betrügen?“ Er grinst nicht mehr. „Passt es zu dir, so einen Gedanken an mich heranzutragen? Du warst immer nur ein halb so schlechter Einfluss wie du behauptet hast.“

„Nur ein halb so schlechter Einfluss wie ich behauptet habe… wie ich deine Ausdrucksweise vermisst habe.“ Nun bekommt sie seine Eckzähne wieder zu sehen. „Und ich weiß nicht, ob so etwas zu dir passt. Vielleicht hast du dich verändert. Vielleicht hat Lucius dich betrogen? Ich weiß doch nicht, ob ihr immer noch so verliebt seid wie früher. Das kann man sich ja kaum vorstellen. Und ich dachte, ich spreche einfach mal meine Wünsche laut aus. Das ist ja nicht verboten.“

„Ich war nie deine erste Wahl. Und ich hatte nie das Gefühl, dass du mich so siehst.“

„Tja, jetzt bist du meine erste Wahl. Ich kann schließlich nicht in irgendeine Kneipe gehen und irgendjemanden ansprechen. Mit etwas Glück würde ich nur einen Korb kriegen, aber wahrscheinlich würde mich irgendjemand auch bei schlechten Lichtverhältnissen erkennen, sich an das Kopfgeld erinnern und ja… dann bin ich ganz schnell wieder in meiner Zelle.“

„Du könntest dich unter Muggel mischen.“ Der Ekel steht ihm ins Gesicht geschrieben.

„Selbst für Muggel werden angepasste Fahndungsplakate gedruckt. Ein gut informierter Muggel hält mich für einen Serienmörder mit nationalistischem Hintergrund.“ Das war ihr neu. Wie war es wohl, wenn man den Job hatte, die Fahndungsplakate von Askabans Häftlingen für die Muggelwelt umzuschreiben? Wer tat so etwas? Und mit welcher Qualifikation? Eine Bewegung von Rabastan riss sie aus ihren Gedanken. Seine Hände lagen auf ihren Hüften und er hatte sie enger zu sich gezogen.

„Ich bin also deine erste Wahl, weil du keine Auswahl hast. Wie charmant. Ich werde ganz rot.“ Unter ihrem abschätzigen Blick schrumpft er und sie fühlt sich schon als Siegerin dieser glücklicherweise rein verbalen Auseinandersetzung. „Hast du noch etwas hinzuzufügen?“

„Deine Haare gefallen mir so besser. Das Blond mochte ich immer. Sonst siehst du Bella so ähnlich.“

„Das bedeutet wohl, dass du mit Bella keine Unterhaltung auf diesem Niveau geführt hast?“ Er lacht und zieht sie zum ersten Mal an diesem Tag in eine richtige Umarmung. Gerade als sie denkt, dass die Spannung verflogen ist und es reine Einbildung ist, dass seine Hände immer weiter nach unten rutschen, hat er dann doch noch etwas zu sagen.

„Ich müsste dich eigentlich gar nicht um Erlaubnis fragen, aber ich stehe nun mal auf ein bisschen Offensive von der anderen Seite.“

„Du bist widerlich.“ Um etwas zu überprüfen, presste sie sich für einen Augenblick länger an ihn und schob ihr Knie zwischen seine Beine. „Und das hier lässt dich absolut kalt.“

„Ich muss einen klaren Kopf behalten, wenn ich es mit dir aufnehmen will.“

„Lass mich jetzt los, ja?“

Er gibt sie frei und tritt sogar einen Schritt zurück. Der Wind findet die Lücke, die zwischen ihnen entstanden ist, und zerzaust ihr die Haare. Als sie wieder freie Sicht hat, grinst er sie an.

„Wir könnten uns auch die Kleider vom Leib reißen und schwimmen gehen.“

„Du bist ja wahnsinnig.“

„Gib es ruhig zu, du hast für eine Sekunde darüber nachgedacht, wie es unter diesem Mantel aussieht.“

Chapter 38: Hors de combat

Chapter Text

38 – Hors de combat



Rabastan ist nicht der schlechteste Mensch, den sie je gekannt hat, doch auf seine Art ist er das größte Monster von allen. Zur „Gewichtskontrolle“, so nennt er das, kommt er zweimal in der Woche vorbei, übernimmt das Regime in ihrer Küche, herrscht die Hauselfe an und zwingt sie, fetthaltige Speisen für die nächsten drei Tage vorzubereiten und zu verhindern, dass irgendetwas davon weggeschmissen wird. An diesen beiden Tagen danach leistet er ihr Gesellschaft beim Essen und gibt ihr die Einblicke in das Geschehen, die sie nie haben wollte.

Draco schreibt ihr immer noch jeden Samstag, doch seine Briefe werden merklich kürzer. Den längsten Brief erhält sie, als er sich von Pansy trennt – und ihr im gleichen Zuge mitteilt, dass er in den Weihnachtsferien nicht nach Hause kommen möchte, ihm das sehr leid tut und er sie vermisst. Für diesen Entschluss gibt er keine genauen Gründe an und sie hakt bei Erwin Goyle nach, ob Gregory nach Hause kommt. Das tut er. Doch Gregory muss ja auch nicht damit rechnen, die Feiertage in der Gesellschaft von drei Flüchtigen zu verbringen. Sie versucht, Draco seine Entscheidung nicht übel zu nehmen, doch das ist schwerer als gedacht. Ein Weihnachtsessen mit Rabastan, der ihr dauernd nachschenkt; Bella, die sich in einem Fort nach Dracos „Erfolgen“ erkundigt und Rodolphus, der zum Zigarrenrauchen nicht mehr nach draußen geht, ist nicht wirklich ein Fest.

Am Silvesterabend darf sie ruhen, nachdem Rabastan sie am Nachmittag aufsucht und sich nach ihren guten Vorsätzen und Wünschen erkundigt. Leichtsinnigerweise sagt sie, sich ein weniger leeres Haus zu wünschen. Engel und Teufel, der er eben ist, erfüllt Rabastan ihr diesen Wunsch.

Offenbar hat Alastor Moody sich pünktlich zu Lucius' Geburtstag, zwei Wochen nach Anbruch des neuen Jahres, bis zum innersten Kreis der Bannzauber, die um das Haus der Lestranges gelegt sind, vorgearbeitet – und mit Kennermiene das finale, schleimige Hindernis entdeckt. Mit der vernichtenden Geduld eines gealterten Aurors hat er den Belagerungszustand ausgerufen, ohne zu wissen, ob sein magisch verstärktes Gebrüll jemand hören kann. Wenn Bella, Rodolphus oder Rabastan das Haus verlassen wollten, dann müssten sie schon einen Mantel tragen, der sie unsichtbar macht. Das Apparieren und Disapparieren innerhalb des Hauses ist nicht mehr möglich, wenn Moody wach ist. Das typische, knallende Geräusch des Apparierens weckt den schlafenden Hund zwar lediglich auf, doch dann ist er wieder auf dem Posten und macht mindestens zwölf Stunden kein Auge mehr zu. Der Eulenverkehr ist ebenfalls unmöglich geworden und weil Rabastan nicht daran zweifelt, dass Moody sie wie Tauben vom Himmel schießen wird, wenn sie einen Besen benutzen, verkündet er schließlich, dass sie vorübergehend ins Manor umsiedeln werden. Dann ist es auch nicht mehr so leer, das müsste sie ja freuen.

Es freut sie ganz und gar nicht. Sie erneuert den Zauber, der ehemals Abraxas daran hindern sollte, die Räumlichkeiten von Lucius und ihr zu betreten. Außerdem meldet sie den Kamin in ihrer Küche vom Flohnetzwerk ab, sodass der große Kamin im Salon wieder zur einzigen Anlaufstelle für Gäste wird. Sie verlegt Abraxas' altes Büro und seine privaten Besitztümer in ihren Teil des Hauses. Dann gibt sie den Westflügel frei.

Zweimal am Tag disapparieren entweder Bella oder Rodolphus in ihr Haus zurück, um Alastor Moody bei Laune zu halten – und ihn Glauben zu machen, dass er immer noch an einer ganz heißen Spur dran ist. Rabastan nötigt sie, jeden Bannzauber, den sie kennt, um das Manor zu legen. Das tut Narzissa. Zugleich versiegelt sie die Tür, die Schwelle zum Wahnsinn und schottet ihr eigenes Reich ab.

Sie liest Lucius' Bücher über Zaubereigeschichte. Trollkriege, die Organisation des Ministeriums, die Zauberwelt im Mittelalter, all das sind wunderbare Fluchtpunkte. Die Mahlzeiten nimmt sie unten ein, wenn Rabastan oder Bella sie dazu drängen. Ansonsten isst sie alleine mit Elsi in ihrer Küche und fühlt sich wieder ein bisschen so wie in der fünften Klasse, als sie an Weihnachten zuhause war und auch meistens in ihrem Zimmer gegessen hat. Wretcha und Kreacher fehlen ihr. Diana und Samara fehlen ihr. Lucius und Draco fehlen ihr. Hauselfen und Freundinnen sind die Instanzen ihrer Existenz, deren Verlust sie ertragen hat, doch nun, wo die beiden wichtigsten Menschen in ihrem Leben nicht da sind, wird in ihr eine Sehnsucht freigesetzt, die sich nicht nur auf Lucius und Draco beschränkt. Plötzlich scheint jeder Mensch, der gestorben ist und jede Bekanntschaft, die sich im Sande verlaufen hat, unendlich zu schmerzen. Sie trauert um vierzig Jahre voller Verluste und verpasster Chancen.

Sie gefällt sich in ihrem Selbstmitleid ganz und gar nicht, doch sie kann sich nicht bremsen. Ein wenig unheimlich ist es schon, wie wohl sie sich in ihrer Trauer fühlt. Einsamkeit wäre nicht einmal mehr das Wort, das sie wählen würde, um ihren Zustand zu beschreiben. Sie lebt in einer irrealen, rasenden Zeit. Es ist eine produktive, arbeitsame Zeit – doch es kommt ihr dennoch so vor, als könnte sie jeden Tag beschließen, einfach keinen Blick mehr auf die Abrechnungen, Bestelllisten und Einschreiben werfen, die täglich aus den Apotheken kommen und von ihr verschickt werden. Sie hält ihren Lebensrhythmus ein, schreibt Briefe an Draco, an Lucius und ab und an sogar an Andromeda oder Abraxas. Am Valentinstag beschenkt sie sich selbst mit einer blauen Primel.

Als der Todestag von Albus Dumbledore kommt und das Schuljahr für Draco vorzeitig endet, ist sie nicht vorbereitet. Sie weiß, dass sie für Draco da sein müsste, aber ihn zu umarmen fühlt sich seltsam an – und jedes Wort, das sie zu ihm sagt, kommt ihr falsch und sperrig aus dem Mund. Sie weiß auch, dass Draco es bemerkt und von ihrem Verhalten befremdet ist.

Mühsam erlangt sie die Kontrolle wieder. Ihr fallen wieder die richtigen Wörter ein, um mit Draco zu sprechen, ihn zu trösten, aufzumuntern und zu fragen, was er gerne zu Abend essen würde. Die magischen Mauern, die sie hochgezogen hat und die nicht einmal Bella zu durchdringen versucht, wenn sie sich nur oft genug im Erdgeschoss sehen lassen, scheinen ihn zu beruhigen. Er fragt sie, welche Sprüche dafür nötig waren und sie erklärt es ihm geduldig.

Draco ist volljährig und sie weiß, dass ihm die Vorstellung Angst macht, welche Zauber von ihm nun jederzeit verlangt werden könnten. Gerne würde sie ihm sagen, dass er nichts mehr tun muss, weil er alles getan hat. Weil er eine unlösbare Aufgabe überlebt hat. Dass Severus Snape auch ein zweites Mal sein Leben retten würde. Oder jemand anders.

Seit dem Unglück in der Mysterienabteilung und dem Prozess von Lucius ist annähernd auf den Tag genau ein Jahr vergangen, als Bellas Stimme durch die Tür dringt und ihren Namen ruft. Narzissa legt das von Lucius oft als solches bezeichnete Standardwerk über Die Geburtstunde des Zaubereiministeriums – Eine Analyse der parlamentarischen Demokratie bei Seite und öffnet ihrer Schwester die Tür. Amüsiert betrachtet Bella die Schwelle, die sie nicht übertreten kann, obwohl sie wie eine ganz gewöhnliche Holzdiele aussieht.

„Ich habe eine Überraschung für dich.“

„Wenn du wieder eine antike Ausgabe der Heißen Hexe zwischen den Lexika gefunden hast, dann verschone mich.“ Die Entdeckung eines vergilbten, erotischen Magazins hatte Bella erst letzte Woche für mehrere Stunden köstlich amüsiert.

„Komm einfach mit.“ Sie stellt sich auf die Zehenspitzen und schaut über Narzissas Schulter. „Ist Draco da?“

„Er ist oben in seinem Zimmer.“ Ohne Vorwarnung brüllte Bella den Namen ihres Neffen und Narzissa hielt sich die Ohren zu. Natürlich kicherte Bella darüber, nannte sie eine Mimose, scheuchte sie nach unten in den Salon und rief ein weiteres Mal nach Draco, der hastig am oberen Treppenabsatz erschienen war.

Lustlos ging Narzissa die Treppe herunter und stolperte beinahe über die letzten Stufen, als sie Lucius sah, der auf dem Sofa saß und sie anlächelte.

Das ganze Jahr über war es ihr gelungen, nicht in Tränen auszubrechen. Sicher, sie war oft traurig gewesen und ihre Augen waren immer wieder feucht geworden, wenn sie in einem seiner Bücher las, seinen Teil des Kleiderschranks begutachtete oder sich einen seiner Pullover nahm, aber sie hatte nie zugelassen, dass sie nur noch schluchzen konnte und die Welt vor ihren Augen nicht nur verschwamm, sondern regelrecht verschwand.

Ihre Hände umklammerten das Treppengeländer, bis sie spürte, wie Lucius' Finger die Umklammerung langsam lösten. Ihr Kopf landete an seiner Brust, als wären sie zwei Magneten, die einander nicht verfehlen konnten. Seine Arme schlossen sich um ihren Körper und er drückte einen Kuss auf ihren Haaransatz. Wenn das ein Streich von Bella war, irgendein Illusionszauber oder eine Fata Morgana, dann würde ihr Herz stehen bleiben und zerbrechen. Sie wagte es nicht, die Augen zu öffnen und in seinem Gesicht nach Flüchtigkeitsfehlern oder Unvertrautheiten zu suchen. Er musste echt sein. Das konnte ihr nicht einmal Bella antun.

Bella. Sie hörte Bellas Stimme und zuckte zusammen: „Ich wusste, du würdest dich vor Freude kaum halten können.“ Die Arme, die Lucius gehören mussten, packten sie ein bisschen fester, doch es war, als hätte die flapsige Bemerkung ihrer Schwester einen Schalter umgelegt. Sie schob Lucius ein Stück von sich, umfasste sein Gesicht und machte sich auf die Suche nach Abweichungen – doch es gab keine. Er war echt – oder eine perfekte Imitation.

„Dad.“ Das war immer noch nicht Lucius' Stimme, sondern Draco. Draco, der in einem zerknitterten Pullover, der zu warm für den Tag war, am oberen Ende der Treppe stand und skeptisch aussah. Weil er die Fälschung erkannte, die sie nicht zu sehen vermochte? Oder weil er einfach nichts mehr mit seinem Vater anzufangen wusste?

Sehr langsam kam Draco die Stufen herunter, bis er schließlich neben ihr stand. Sie zog ihre Hände zurück, ließ von Lucius ab und bereute es sogleich. Draco und Lucius hatten es schon lange verlernt, einander ohne Unbehagen zu umarmen und nicht einmal in diesem Moment schien es ihnen selbstverständlich, einander einfach in die Arme zu schließen. Auch wenn sie ihren Blick nicht von Lucius lösen konnte, dessen Echtheit sie immer noch nicht ganz überzeugt hatte, weil er noch immer kein Wort gesprochen hatte, bemerkte sie auf einmal Bella, die sich in dem Sessel neben dem Kamin niedergelassen hatte und die Szene verständnislos betrachtete.

„Geht es dir gut?“ Diese Frage kam von Lucius und richtete sich an Draco, der sich alle Mühe gab, niemanden merken zu lassen, wie er sich fühlte. Nicht einmal Narzissa selbst war sich sicher, ob er wütend oder traurig oder überglücklich war. Sein Kinn zitterte und vielleicht kostete es ihn seine ganze Kraft, nicht ebenso erbärmlich zu schluchzen wie sie. Stumm schüttelte Draco den Kopf und dann tat Lucius etwas, das sie weder von einem echten, noch von einem unechten Lucius erwartet hätte. Er sagte nichts, sondern griff nach Dracos Arm, drehte ihn um, sodass er das dunkle Mal sehen konnte und zog ihn dann wortlos in eine Umarmung.

Es waren nur einige, an zwei Händen abzählbare Sekunden, in denen Draco diese Nähe zuließ, ehe er sich von Lucius losmachte und einen Schritt zurückwich. „Ich gehe wieder in mein Zimmer, okay?“ Er warf ihr einen flehenden Blick zu und sie wusste, dass er sich keine Blöße geben und wirklich weinen wollte. Nicht vor seinem Vater. Nicht vor Bella, die immer noch begierig zusah und dabei ein Gesicht machte, als wollte sie die Weltformel erfinden.

„Natürlich ist das okay.“ Dankbar nickte Draco und verschwand wie der Blitz im ersten Stock.

„Soll ich es ihr sagen oder möchtest du?“ Das war wieder Bella, die abgewartet hatte, bis Draco die Tür hinter sich ins Schloss gezogen hatte. Lucius schlug die Augen nieder und ihr Herz setzte einen Schlag aus. Also war es ein Schwindel. Ein Trugbild. Ein Test, um zu sehen, welche Gefühle sie zulassen würde. Um sie daran zu erinnern, wie schwach sie war. Wie fadenscheinig ihr Alltag war. Welche Luftschlösser sie sich da wieder gebaut hatte.

„Wenn es dir Freude macht, Bella, bitte… du hast das Wort.“

„Freude, was ist schon Freude, wenn man seine Freiheit gänzlich unverdient zurückerhalten hat? Und das schon nach so kurzer Zeit… du kennst wirklich keine Demut, Lucius.“ Bella spottete und milderte ihren hämischen Tonfall nur ein wenig, ehe sie sich an Narzissa wandte. „Ich habe auch eine schlechte Nachricht, Zissy. Unser Elternhaus wurde heute in seine Einzelteile zerlegt. Mad-Eye Moody hat die Nerven verloren und ein Feuerwerk veranstaltet. Glücklicherweise war niemand dort. Dennoch war es bloß ein glücklicher Zufall… das Gebäude war unzulänglich geschützt. Der dunkle Lord kann nicht länger Fehler und Unzulänglichkeiten tolerieren. Dein Haus ist bestens geschützt, wir können uns hier frei bewegen, es ist ausreichend Platz vorhanden. Es ist der perfekte Ort für Versammlungen, sobald wir den Kamin vom Flohnetzwerk abgemeldet und das Ministerium ausgeschlossen haben… dieser Kamin macht mich nervös, ich sag es dir schon seit Wochen, das Ding gehört geschlossen.“ Bella lächelt sie an. Ihre Augen funkeln. „Fühlt euch geehrt. Nicht jeder hat ein Zuhause, das er als geeignete Residenz anerkennt. Wurmschwanz wollte seine Waldhütte schon ein Dutzend Mal anbieten, bis er sie in Flammen gesteckt hat, um Wurmschwanz das Maul zu stopfen.“

„Aber das…“

„Das ist der Preis, Zissy. Oder möchtest du deinen Liebsten wieder hergeben? Ein Rücktransport nach Askaban ist jederzeit möglich. Den Dementoren ist jeder Gast willkommen und Rückkehrer haben sie besonders gern. Vorgeschädigte Seelen sind gute Seelen.“

„Wann? Wann kommt er an?“

„Heute Abend. Du musst nicht die Gastgeberin spielen, leih uns einfach deine Elfe. Morgen Abend findet eine große Versammlung statt. Das Vorgehen für diesen Sommer muss besprochen werden. Moody wird sterben. Potter wird sterben. Das Ministerium wird fallen.“

Auf diese apokalyptisch anmutende, jedenfalls endgültig klingende Äußerung seitens Bella folgte eine Stille, die sie nur ertragen konnte, weil Lucius' Hand in ihre Richtung zuckte und er so lächelte, dass nur sie es sehen konnte. „Wenn ihr mich entschuldigt, ich müsste dringend das Badezimmer aufsuchen.“

Lucius ging, sie ließ ihn ungern gehen, doch Bellas bloßer Gesichtsausdruck sagte ihr, dass sie noch nicht entlassen war. Schon wieder machte Bella das Weltformel-Gesicht und nickte in Richtung des Sofas, bestand jedoch nicht darauf, dass Narzissa sich setzte, als sie sich stattdessen am Treppengeländer abstützte.

„Wenn du nicht meine Schwester wärst…“ Wie oft hatte sie selbst genau diese Worte schon gedacht? Und dabei waren ihre Gedanken nicht einmal annähernd in eine ähnliche Richtung gegangen wie Bellas. Sie waren einander so unähnlich. Man hätte es früher bemerken müssen. „Er ist kein Mann. Und Draco… ich gebe zu, dass Draco noch jung ist und er hat sich bis zuletzt nicht schlecht geschlagen, aber am Ende hatte er nur Glück. Wenn Severus es nicht getan hätte… Draco hätte versagt. Genau wie Lucius. Du bist die Einzige in dieser Familie, die keine Angst vor dem Tod hat.“

„Vor dem Tod?“

„Vor dem Töten.“ Bella lächelte und sah dabei fast gütig aus. Wie eine gütige, durchgedrehte Frau mittleren Alters, deren Gebiss schon bessere Zeiten gesehen haben musste. Sie war immer noch schön und es war ihr gelungen, Askaban von sich abzuwaschen, aber irgendetwas war ihr verloren gegangen. Und das war gewiss nicht nur ihr jugendlicher Charme, den sie sich immerhin fast bis zu ihrem 30. Lebensjahr erhalten hatte. „Ich weiß, wozu du fähig bist, Zissy. Und ich weiß auch, dass du nicht an den dunklen Lord glaubst. Was du getan hast, das hast du für Lucius getan.“

„Das stimmt nicht.“ Sie hatte es für Draco getan. Allein für Draco.

„Das hoffe ich. In diesem Punkt würde ich mich gerne irren, aber sicher bin ich mir nicht. Lucius ist nicht mehr wie früher. Er glaubt nicht mehr an das, was er sagt. Seine Zunge ist gespalten. Er ist ein Lügner.“

„Das war er schon immer. Das ist keine neue Eigenschaft.“ Zwischen an Brutalität grenzender Ehrlichkeit und gut ausgedachten Lügen kannte Lucius keine Grauzonen. Keine Mittelwege.

„Trotzdem habe ich kein Vertrauen mehr zu ihm. Er ist nur hier, weil du ihn brauchst. Und weil wir dich brauchen.“ Der Plural stieß ihr übel auf und Bella entfuhr ein leises Kichern. „Du warst immer so eine gute, kleine Gastgeberin. Weißt du noch, wie du aufgeblüht bist, wenn unser Vater seine Kollegen eingeladen hat, um mit uns anzugeben – und allen klar zu machen, wie viel er der Welt zu bieten hat? Ich dachte mir, es könnte dir gefallen, wieder in diese Rolle zu schlüpfen. Der dunkle Lord ist ein genügsamer Gast.“

* * *



Sie weiß, dass sie Lucius betrachtet wie man sich ein exotisches Tier im Zoo ansieht, obwohl er nur ganz gewöhnliche Dinge tut. Wenn man ihr vor zwei Jahren gesagt hätte, dass es sie faszinieren würde, ihn vor dem Kleiderschrank oder in der Küche stehen zu sehen, dann hätte sie darüber gelacht.

„Du hast ungeräumt.“ Lucius hat seine Pullover entdeckt, die nicht mehr im oberen Fach bei seinen Hosen liegen, sondern bei ihren Nachthemden.

„Stört es dich?“

„Nein.“ Er greift nach einem grauen Pullover, der vor einem Jahr noch sehr neu gewesen ist und nun bereits ein wenig verwaschen. Ihre Wäschezauber sind nicht perfekt und werden es nie sein. Dafür fehlt ihr die große Vision von nagelneuer Wäsche. Nach kurzem Zögern streift er den Pullover über und sieht sie fragend an. Als würde er mit Einwänden rechnen. „Ist Draco… ist er okay? Bellatrix hat mir ein paar sehr kurze Zusammenfassungen geliefert, aber… was ist passiert?“

„Ich weiß es schon fast nicht mehr. Aber ich… ich bin in den letzten Tagen nicht für ihn da gwesen. Und im Sommer, ich hätte… ich hätte mehr für ihn tun müssen. Ich hätte eine bessere Mutter sein können. Sein müssen.“

„Ich bin sicher, du hast getan, was du konntest.“ Stumm schüttelt sie den Kopf und schon zum zweiten Mal an diesem Tag hat sie das Gefühl, nicht gegen das Schluchzen, das ihre Kehle hinaufklettert, ankommen zu können. „Zissy.“

Sie sitzt auf dem Bett und es sind nur wenige Meter zwischen ihnen, doch es scheint ewig zu dauern, bis er sich neben sie setzt und vorsichtig einen Arm um sie legt. Sie wischt sich mit dem Ärmel ihres Oberteils über die Augen. „Tut mir leid, ich bin hysterisch. Ich war eigentlich… eigentlich habe ich mich ganz gut gehalten.“

„Du musst dich doch nicht entschuldigen.“

„Aber du sollst nicht denken, ich würde mich nicht freuen, dich zu sehen. Auch wenn ich nicht weiß, wann ich das letzte Mal so geheult habe. Ich merke schon, wie ich Kopfschmerzen kriege.“ Ganz sachte küsst er sie auf die Schläfe. „Du hast mir so gefehlt.“

„Du hast mir auch gefehlt.“ Aber das war nicht ganz dasselbe. Ihm hatte alles gefehlt. Sie war hier gewesen, ihr Leben war ganz normal weiterverlaufen – nur eben ohne ihn. Sie war nicht diejenige, die das Recht hatte, sich zu beklagen. „Ich bin sehr froh, dass du noch hier bist.“

„Wo sollte ich denn sein?“

„Weg.“ Er presst die Lippen aufeinander. „Ich weiß, wie Dementoren funktionieren, aber ich habe trotzdem die ganze Zeit gesehen, wie ich in ein leeres Haus zurückkomme und eine Notiz von dir auf dem Tisch finde. Diese Bilder haben sie mir immer wieder gezeigt.“ Dann hatten sie das ganze Jahr über dasselbe gesehen. Ein leeres Haus mit leeren Zimmern und leeren Betten.

„Lucius, dein Vater…“

„Ich weiß. Bella hat es erwähnt.“

„Sie würde eine gute Nachrichtensprecherin abgeben. Die wesentlichen Informationen innerhalb von fünfzehn Minuten.“ Für diese Bemerkung hat Lucius ein schwaches Lächeln übrig. „Sie hat sich nicht anmerken lassen, dass du zurückkommen würdest. Heute Morgen hat sie mir noch die „Hexenwoche“ so verschlagen, dass die Kontaktanzeigen oben lagen.“

„Sie ist und bleibt ein Goldstück.“ Sie hat indirekt auch eine Frage gestellt und sie ist froh, dass er das nicht überhört hat. „Es gab in den letzten Tagen Gerüchte, dass Askaban bald „geöffnet“ würde und die Dementoren haben sich auch anders verhalten, aber es hätte ebenso gut alles ganz anders kommen können. Bestimmt wollte sie dir nur keine falschen Hoffnungen machen… oder dich einfach nur mal wieder daran erinnern, dass du Alternativen hast.“

„Ich liebe dich.“

„Und ich habe dich nicht verdient.“

„Sag das nicht.“ Sie beugt sich zu ihm vor und küsst ihn vorsichtig. Ihr Herz schlägt so schnell, als wäre es ein erster Kuss. Oder ein Kuss, der von tausend Augen beobachtet wird. Eben ein Kuss, der wirklich zählt. Ein Jahr ist vergangen und sie fühlt sich, als würde sie die Lippen eines Fremden berühren, bis er den Kuss erwidert und sie so fest an sich zieht, dass sie nach Luft schnappen muss. Sie kann kaum atmen und doch könnte sie sich nicht besser fühlen.

* * *



Am nächsten Tag macht sie Lucius mit dem Büroapparat seines Vaters vertraut, der in das Gästezimmer im oberen Stockwerk gezogen ist, in dem sowieso noch nie jemand außer Gregory übernachtet hat. In seinem eigenen Büro herrscht ein kleines Chaos und sie erklärt ihm den Gedanken hinter den Schuhkartons voller Briefen, die auf einmal wie eine Dokumentation des Wahnsinns aussehen.

„Du musst das nicht alles lesen. Es war nur… ich musste mir ja irgendwie die Zeit vertreiben. Das sind alles Belanglosigkeiten.“ Ihr Gesicht ist ganz warm geworden. Sie war nie eine passionierte Tagebuchschreiberin und sie weiß schon warum. Die eigenen Gedanken so wichtig zu nehmen, dass sie auf Papier für die Ewigkeit gebannt werden müssen, das ist doch irgendwie egozentrisch. Schamlos.

„Ich möchte es lesen. Ich habe immerhin zwölf Monate aufzuholen.“ Er betrachtet die Schuhkartons, die sie ordentlich nebeneinander aufgereiht hat. „Und es ist ja nicht so, als hätte ich irgendetwas zu tun. Bevor ich mich so richtig unnütz fühle und dich bei der Arbeit störe, würde ich sogar die lyrischen Ergüsse aus der Jugend meines Vaters lesen.“

„Die sind auf dem Dachboden eingemottet. Du hast also die freie Wahl.“ Lucius winkt ab, setzt sich hinter seinen Schreibtisch und versucht ganz offensichtlich, sich dort nicht wie ein Fremdkörper zu fühlen.

Als sie die Tür leise ins Schloss zieht, bemerkt sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Draco ist in der Küche. Sie hat ihn gestern Abend nicht mehr zu Gesicht bekommen. Abends hat sie an seine Tür geklopft, doch er hat ihr keine Antwort gegeben und sie hat sich eingeredet, dass er vielleicht schon schläft und seine Ruhe braucht.

„Soll ich dir etwas kochen?“ Ertappt zuckt er zusammen. Auf seinem Pullover ist ein Fleck, der darauf hinweist, dass seine Schokoladenvorräte ausgedünnt wurden. In der Hand hält er zwei Nektarinen und ein Stück Weißbrot. Es ist ziemlich offensichtlich, dass er nicht vorhat, lange in der Küche zu verweilen. „Setzen wir uns einen Moment hin?“

„Muss das sein?“

„Nur ganz kurz.“ Ohne die Nektarine oder das Brot loszulassen, setzt er sich auf die Kante eines Stuhls. „Ich habe früher auch oft in meinem Zimmer gegessen, weil ich meine Mutter nicht ertragen konnte.“ Draco, der seine Großmütter nie kennengelernt hat, ist eindeutig überrascht. Kein Wunder, sie war auch immer darauf bedacht, nicht schlecht von Druella Black zu sprechen.

„Es liegt nicht an dir. Es ist nur…“ Er verstummt. Sucht nach den passenden Worten, die es vielleicht gar nicht gibt.

„Du musst dich nicht rechtfertigen. Es ist in Ordnung, wenn du für dich sein möchtest. Ich halte dir das nicht vor, dein Vater genauso wenig. Aber bitte wenigstens Elsi, dass sie dir etwas Richtiges bringt. Oder nimm eines meiner Kochbücher zur Hand. Zwischen Mitternacht und Morgengrauen hast du freie Bahn.“

„Kann ich jetzt gehen?“

„Ja. Sicher. Heute Abend ist eine Versammlung. Ich werde zweimal nach dir rufen, nicht öfter. Allerdings kann ich nicht dafür garantieren, dass Bella nicht ausdrücklich nach dir verlangt.“

„Ich werde da sein.“

„Gut. Dann… du bist entlassen.“

„Danke, Mum.“

„Oh, eins noch.“ Er ist schon halb aus dem Zimmer raus, doch er bremst ab und wartet, ohne sich zu ihr umzudrehen. „Wenn du mit jemandem sprechen möchtest – und damit meine ich nicht mich oder deinen Vater, dann kannst du jederzeit jemanden einladen. Oder jemanden besuchen. Gregory vielleicht? Oder Pansy.“ Draco fährt wieder zusammen, als er Pansys Namen hört. Er ist schreckhaft geworden, das ist nicht zu leugnen. „Das war’s.“

Draco sagt nichts mehr und sie ermahnt sich, ihm das wirklich nicht vorzuhalten. Sie hat keine Vorstellung davon, wie er das vergangene Schuljahr überstanden hat. Seine Prüfungen hat er auch ganz passabel hinter sich gebracht. Zumindest hat das Severus Snape in einem knappen Brief an sie verlauten lassen. Trotzdem scheint es im Moment ein Ding der Unmöglichkeit zu sein, dass Draco im September nach Hogwarts zurückkehrt, als wenn nichts gewesen wäre.

Als sie an Lucius' Arbeitszimmer vorbeikommt, kann sie durch das kleine Milchglasfenster in der Tür erkennen, dass er immer noch an seinem Schreibtisch sitzt und den Blick nach unten gerichtet hat. Vor ihm stehen die Kartons und sie beschließt, ihn nicht zu stören. Überhaupt wäre es doch schön, später in dem Wissen einzuschlafen, dass sie heute niemanden übermäßig gestört hat.

Ehe sie den Schreibtisch aufsucht, an dem sie selbst in den letzten Monaten so viele Stunden verbracht hat, geht sie ins Erdgeschoss und sieht nach den Pflanzen, die bei dem vielen Licht und der Wärme ein wenig gewissenhafter gegossen werden müssen. Auf der kleinen Bank unter dem Kirschbaum, der erst in einigen Wochen Früchte tragen wird, sitzt Rodolphus und raucht eine Zigarre. Ihm ist sie bisher, wie eh und je, so gut es eben ging aus dem Weg gegangen. Auch jetzt denkt sie nicht darüber nach, ein Gespräch anzufangen oder sich zu ihm zu setzen, doch er macht eine Handbewegung, die sie zu der Bank locken soll.

„Kann ich dir irgendwie weiterhelfen?“

„Setzt du dich?“ Er bot ihr einen Platz auf ihrer eigenen Bank an. Unfassbar. Gut, die Bank hatte sie nicht von ihrem Geld gekauft, aber es war immer noch ihr Haus und damit ihr Eigentum. Auf einmal kann sie Dracos Unwillen, sich zu setzen und besprechen zu lassen, zu einhundert Prozent nachempfinden.

„Lieber nicht.“

„Wie geht es dir?“

„Seit wann interessiert es dich, wie es mir geht?“ Er verdreht die Augen und bläst einen Rauchring in ihre Richtung. „Es könnte mir schlechter gehen.“

„Es ist sehr großzügig, dass du uns angeboten hast, hier zu wohnen.“ So konnte man das wirklich nicht sagen. An diesem Satz, an dieser schwachen Danksagung, stimmte so vieles nicht. Da waren so viele Fehler. Sie war nicht großzügig. Sie hatte nichts angeboten. Sie war wehrlos.

„Es ist ein großes Haus.“

„Und ein sehr schönes Haus noch dazu. Ist es unterkellert?“

„Wie bitte?“

„Gibt es einen Keller?“

„Ja. Sicher. Nicht unter dem gesamten Grundstück. Besonders schön ist es dort auch nicht. Ganz früher wurde es als Verlies genutzt, dann als Raum für die Angestellten und irgendwann als Ballsaal. Es ist ein altes Gewölbe. Kein Licht, keine gute Luft, Mäuse, kein Ort, an dem man viel Zeit verbringen möchte.“ Er nickte bei jedem Satz gewissenhaft. „Warum fragst du? Gefällt dir das Zimmer nicht, in dem du dich eingerichtet hast?“

„Nein, nein, es ist wunderbar. Ich war bloß neugierig. Alte Häuser sind spannend.“

„Ich wusste nicht, dass Architektur dich interessiert.“

„Warum solltest du das auch wissen? Du hast dich schließlich nie besonders für mich interessiert.“ Diese Bemerkung soll ausschließlich den Effekt haben, dass sie sich genötigt fühlt, ihm zu widersprechen. Sich zu rechtfertigen – sich vielleicht sogar zu entschuldigen.

„Das stimmt. Du entschuldigst mich? Die Blumen warten.“

Chapter 39: Die Gefangenen

Chapter Text

39 – Die Gefangenen



„Willst du nicht mit ihr in den Garten gehen?“ Draco lag auf seinem Bett, starrte an die Zimmerdecke und hatte auf ihr Klopfen an seine Tür nur mit einem Brummen reagiert. Seitdem er für die Weihnachtsfeiertage nach Hause gekommen war, strotzte er nicht unbedingt vor guter Laune. Sie hatte ja schon nicht mehr erwartet, dass es in diesem Jahr besonders festlich zugehen würde, aber sie hatte doch erwartet, dass er mit ihr sprach. Und sich zumindest ein bisschen darüber freute, zuhause sein. Es konnte schließlich unmöglich unangenehmer sein, mit Bella, Rodolphus und Rabastan unter einem Dach zu leben als von Alecto und Amycus Carrow terrorisiert zu werden. Vielleicht war sie voreingenommen, aber sie bildete sich ein, dass die Mitglieder der Familie Lestrange zwar allesamt schwierig waren, aber doch einen gewissen Unterhaltungswert hatten, der den Carrows abging.

„Warum sollte ich in den Garten gehen wollen? Es ist scheißekalt. Und es regnet.“

„Ich dachte, dir ist vielleicht langweilig.“

„Mir ist nicht langweilig.“ Zum ersten Mal, seitdem sie den Raum betreten hatte, löste er seinen Blick von der Decke und sah sie an. „Mir ist wirklich nicht langweilig. Das sieht nur so aus. Ich habe massenweise Hausaufgaben. Ich muss mich konzentrieren.“

„Draco, Schatz, ich weiß, die Situation ist unangenehm und alles andere als optimal, aber du musst es nun auch nicht schlimmer machen als es ist. Luna ist deine Cousine. Ihr seid im selben Alter. Und es täte euch beiden gut, an die frische Luft zu kommen.“

„Loony Lovegood ist eine Mitschülerin. Aus Ravenclaw. Eine Freundin von Potter, Weasley und Longbottom. Ich habe freiwillig noch nie ein Wort mit ihr gewechselt und ich habe nicht vor, das zu ändern.“ Sie setzt sich an das Fußende seines Bettes und er reagiert darauf, indem er seinen Blick wieder nach oben richtet. „Kannst du bitte gehen?“

„Was habe ich dir getan?“

„Du hast nichts getan. Überhaupt nichts.“ Und das war der Vorwurf. Sie wusste es ja selbst. Sie hatte nichts getan. Obwohl sie versprochen hatte, für ihn da zu sein und ihm zu helfen, hatte sie nichts getan. Er war in Hogwarts gewesen, durch die Hölle gegangen, hatte seine erste Freundin verloren, war mit dem Mal gezeichnet worden – und sie war hier gewesen. Und hatte ihm Briefe geschrieben.

„Es tut mir leid.“

„Was tut dir leid?“

„Alles. So solltest du nicht leben müssen. So sollte Weihnachten nicht sein.“

„Ist doch alles nicht deine Schuld.“ Wenn er so kurz angebunden ist, dann erinnert er sie an Lucius. Nicht an den Lucius, den sie kennt, sondern an den Lucius, den die Welt kennt. In der Gegenwart von Bella, Rodolphus, Rabastan und Peter Pettigrew sagt er kein Wort zu viel. Mehrmals hat sie erlebt, wie er sich gibt, wenn er außerhalb des Ministeriums auf Arthur Weasley trifft – oder Personen, auf die er im gleichen Maße herabsieht. Da wird jede Silbe gezählt. Jedes Wort muss sitzen. Und jedes Wort sitzt und ist spitz. Genau wie bei Draco. „Du hättest mir allerdings erlauben können, die Ferien im Schloss zu verbringen.“

„Du hast die Weihnachtsferien immer gerne hier verbracht. Und letztes Jahr… ich bin sicher, es wäre nur halb so schlimm gewesen, wenn wir zusammen gewesen wären.“ Er lacht auf. Es ist ein trockenes, hartes Lachen, das nicht nach einem Siebzehnjährigen klingt, sondern eher nach einem Fünfzigjährigen, der sich nicht mehr viel von der Welt verspricht.

„Du dachtest wirklich, ich würde gerne in einem Salon feiern, unter dem Loony Lovegood wie ein Ghul haust? Zusammen mit Mr. Ollivander? Weil ja zu jedem guten Jahreswechsel ein paar Gefangene im Keller hören?“ Beinahe hätte sie jubiliert. Er hat sich endlich in eine aufrechte Position begeben und funkelt sie böse an. „Ich wäre überall lieber als hier.“

„Ich auch.“ Mit diesem Eingeständnis hat sie ihn überrascht, doch er sammelt sich bemerkenswert schnell. Und geht in die Offensive.

„Warum bist du dann noch hier? Du musst dich doch nicht darum sorgen, dass dir ein Arm abfällt, wenn du das Land verlässt.“ Wie um sie daran zu erinnern, dass er fürs Leben gebrandmarkt ist, streckt er den Arm heraus. „Wenn ich das nicht hätte und nicht nach Hogwarts müsste, dann wäre ich weg.“

„Ich kann deinen Vater nicht im Stich lassen.“

„Wieso nicht? Er hat dich doch auch im Stich gelassen!“ Wie konnte sie so lange übersehen, wie wütend er ist? Ist sie denn in den letzten Tagen blind gewesen? Ihr Kind platzt fast vor Zorn und sie merkt es nicht. Hält ihn für katatonisch. Oder gelangweilt.

„Er hat uns nicht im Stich gelassen. Er ist nur… das ist nicht so leicht zu erklären. Du merkst doch selber, dass es einige Dinge gibt, die man einfach tun muss. Dein Vater hat sich das alles genauso wenig ausgesucht wie du.“ Draco steht die Ungläubigkeit ins Gesicht geschrieben.

„Und wie ist er dann an das dunkle Mal gekommen? Wurde er auch in ein leerstehendes Haus geschleift und daran erinnert, dass er eine Schuld begleichen muss, die sein eigener Vater nicht bezahlen konnte? Hat er etwa nicht gedacht, es wäre eine Ehre?“ Ehre ist ein Wort, das in den letzten Wochen unerträglich oft gefallen ist. Bella verwendet es an besonders schlechten Tagen in jedem dritten Satz. Den Wahn ihrer Schwester kann sie nicht mehr brechen – und den Mund zuhalten kann sie ihr leider auch nicht. Sie ist nur froh, dass Draco sich nicht davon beeinflussen lässt. Im letzten Sommer, das weiß sie noch genau, hat er häufig versucht, sich seinen Auftrag schönzureden. Er hat versucht, es als eine ehrenwerte Aufgabe zu betrachten. Sie hat ihn darin weder bestärkt, noch hat sie probiert, ihn davon abzubringen. Was hätte sie auch sagen können.

„Du solltest vielleicht mit ihm darüber sprechen.“

„Also war es wohl doch kein Versehen, dass er so geworden ist? Also hatte er doch eine Wahl und du willst dich nicht für ihn rechtfertigen?“

„Ich war nicht dabei, Draco.“

„Wie, du warst nicht dabei? Ihr kennt euch doch gefühlt seit immer und ewig?“

„Aber ich war nicht dabei. Ich bin einmal bei einer solchen Versammlung gewesen, wie sie mittlerweile in unserem Salon stattfinden. Es war… ich habe mich nie als ein Teil von all dem gefühlt. Ich habe keine Fragen gestellt. Das war vielleicht ein Fehler, aber ich habe mich immer wie eine Außenstehende gefühlt. Trotz Bella. Trotz deines Vaters.“ Es war nicht leicht, doch sie tat es ihm nicht gleich und sah weder zum Boden, noch zur Decke. Er lag zwar wieder flach auf dem Rücken, doch er hatte den Blick auf sie gerichtet. „Ich hab ihn nie gefragt, wie es abgelaufen ist. Ob es irgendwie zeremoniell war. Ob er einen Eid ablegen musste. Ich weiß nur, dass er in den Tagen danach sehr empfindlich gewesen ist. Der Zauber, durch den das Mal entstanden ist, muss schmerzhaft gewesen sein. Das habe ich beobachtet, das war eindeutig – aber Fragen habe ich keine gestellt.“

„Unglaublich, dass du damit durchgekommen bist.“ Er zieht eine Grimasse. „Meinst du, ich hätte auch so viel Glück gehabt, wenn ich ein Mädchen wäre? Oder wenn ich einen älteren Bruder hätte?“

„Möglicherweise. Das kann man nicht wissen, weil es nicht so ist. Da kann man nur spekulieren.“ Real ist nur die Realität. Und alles andere wird immer unwahrscheinlich oder sogar unmöglich erscheinen. Damit hat Rabastan doch irgendwie Recht. „Wir müssen das Beste aus dem machen, was wir haben.“

„Mache ich doch.“

„Es würde dich wirklich nicht umbringen, mit ihr spazieren zu gehen.“ Sie versucht, ihm ein aufmunterndes Lächeln zu schenken und wertet es als kleinen Erfolg, dass er nicht gleich wieder zur Decke hinsieht.

„Es würde mich aber auch nicht glücklicher machen.“

* * *



Luna Lovegood ist ein merkwürdiges Mädchen. Doch vielleicht sind mittlerweile alle Mädchen so und Narzissa hat bloß keine Ahnung mehr davon, wie man die Welt sieht, wenn man sechzehn Jahre alt ist. Nach den Weihnachtsferien ist Luna zu einer festen Konstante ihres Alltags geworden. Sie versucht, dem Mädchen alles so leicht wie möglich zu machen. Sie fragt nach ihrem Lieblingsessen, nach ihren Lieblingsblumen und kauft Seifen, die danach riechen. Bei den Besuchen im Badezimmer legt sie bunte Handtücher bereit und drängelt nie, auch wenn sie zwei Stunden auf ihrem eigenen Flur verbringt. Sie bringt Bücher in den Keller und fragt jeden Tag, ob Luna oder Mr. Ollivander im Garten spazieren gehen möchten. Doch weder Luna, noch der alte Zauberstabmacher sprechen besonders viel. Dankbarkeit hat sie nicht erwartet, aber absolute Reaktionslosigkeit auch nicht.

Diese Maßnahmen, um das Leben der „Gefangenen“ annehmlicher zu gestalten, werden von allen Seiten belächelt. Doch außer Bella missbilligt niemand ihr Tun. Ihre Schwester ist der Meinung, dass sie Luna ein falsches Bild von ihrer Lage vermittelt. In der Welt ihrer Schwester herrscht Krieg. In Bellas Welt muss Luna Lovegood spüren, dass sie verloren hat.

Lucius meidet den Keller, als wäre dort unten die Pest ausgebrochen. Der Name Xenophilius Lovegood fällt nicht häufiger als notwendig. Den „Klitterer“ haben sie aller Logik zum Trotz nicht abbestellt. Die letzte Ausgabe ist im Dezember erschienen. Seit dem Tag, an dem Luna hätte nach Hause kommen sollen, ist keine neue Auflage des Magazins veröffentlicht worden.

Weil Luna in den letzten Tagen mehr und mehr Zeit im Badezimmer verbracht hat, ist Narzissa dazu übergegangen, sich ein Buch oder eine Zeitschrift mitzunehmen und sich auf einen Stuhl zu setzen. Gewissenhaft arbeitet sie an einem Rätselheft weiter, das noch eine Anschaffung von Abraxas gewesen ist. Während sie sich daran zu erinnern versucht, welche alternativen Bezeichnungen es für Unken gibt, spürt sie einen leichten Windhauch und sieht auf. Rabastan macht ein enttäuschtes Gesicht.

„Ich dachte, du hörst mich nicht.“

„Wolltest du mich erschrecken?“

„Nein, eigentlich nicht. Ich verwende einen Zauber, mit dem man angeblich lautlose Schritte machen kann… die Betonung liegt allerdings auf angeblich… steht unsere hauseigene Blondine immer noch vor dem Spiegel?“ Er wirft einen belustigten Blick in Richtung der Tür, die fest verschlossen ist. Bellatrix wollte darauf bestehen, dass die Badezimmertür immer einen spaltbreit geöffnet ist, doch Narzissa bringt eine derartige Missachtung der Privatsphäre einer Jugendlichen nicht fertig. „Für so eitel hab ich sie gar nicht gehalten. Meinst du, sie will den alten Ollivander beeindrucken?“

„Ich glaube nicht, dass sie irgendjemanden beeindrucken möchte. Ich an ihrer Stelle würde mich auch nicht beeilen. Im Badezimmer ist es nett. Hell. Und sie hat ja alle Zeit der Welt, also warum nicht zwei Stunden baden?“

„Du bist lächerlich verständnisvoll.“ Rabastans Mundwinkel zucken. „Die Kleine weiß gar nicht, was für ein Glück sie hat. Keine Schule. Ein dekadentes Kellergewölbe. Mit etwas Glück vergeht Ollivander da unten noch, dann hat sie die ganze Pracht für sich.“

„Deine Witze sind geschmacklos.“

„Das war kein Witz. Im direkten Vergleich mit Askaban ist das hier der Garten Eden. Jeder, der sich beschwert, sollte eine von diesen schönen, nassen Zellen besichtigen, in denen man keine Türen hat, die man einfach so abschließen kann, sodass man zusehen muss, wie der Typ in der Zelle gegenüber seine eigene Scheiße frisst oder sich einen runterholt?“

„Achte auf deine Ausdrucksweise.“

„Ich bitte dich! Als hätte Lucius keine Schauermärchen zu erzählen gehabt!“

„Er hat erwähnt, dass es keine Türen gibt.“

Als Rabastan schon zu einer mutmaßlich derben Erwiderung ansetzt, vernimmt sie die selten gehörte Stimme von Luna Lovegood. Es ist eine leise, hohe Stimme. Wie ein Glockenspiel, das vom Wind angestoßen wird. „Mrs. Malfoy?“

„Ja?“

„Können Sie mal kurz kommen?“ Sie hört, wie der Schlüssel umgedreht wird und schickt Rabastan fort, der sich nur widerwillig in Bewegung setzt.

Im Badezimmer findet sie Luna Lovegood, die in ein großes Handtuch gewickelt und mit nassen Haaren auf dem Rand der Badewanne sitzt. Die frischen Kleider, die Narzissa ihr mitgegeben hat, liegen unangetastet auf der Fensterbank und in der Badewanne verschwindet gerade das letzte Wasser im Abfluss. Es riecht durchdringend nach Lavendel und Vanille.  

„Ich habe meine Tage bekommen und ich hab auf den ersten Blick nichts gefunden. Ich wollte Ihre Schränke nicht durchwühlen.“ Es war die normalste, unnormalste Unterhaltung, die man nur führen konnte. Sie konnte sich ja nicht einmal vorstellen, dass es die feste Freundin von Draco war, mit der sie sich in dieser Situation wiederfand.

„Oh, bitte entschuldige, ich hätte dir längst Bescheid sagen sollen. Da oben in dem Schrank neben der Dusche. Die linke Seite.“ Luna Lovegood nickte. „In diesem Badezimmer gibt es außerdem nichts, was du nicht sehen oder benutzen dürfest.“

„Okay.“

„Dann lass ich dich mal wieder allein.“

„Er hat übrigens Recht.“ Narzissa war schon wieder halb zur Tür raus gewesen, als noch eine Böe durch das Glockenspiel ging. „Der Mann, der mit ihnen geredet hat. Er hat Recht. Sie sind lächerlich verständnisvoll.“ Dieses Mädchen hatte dieselben Augen wie Lucius. Narzissa konnte nur hoffen, dass man ihr nicht ansehen konnte, wie sehr sie diese Tatsache irritierte. „Es ist nett, dass Sie jeden Tag Stunden damit verbringen, auf mich zu warten, als ob Sie nichts Besseres zu tun hätten.“

„Ich habe nichts Besseres zu tun.“

„Ich brauche auch eigentlich gar nicht so lange. Ich wollte Sie provozieren.“ Das war zugleich kindisch und sehr leicht nachvollziehbar. Sie wollte sich gar nicht ausmalen, wie sie sich verhalten hätte, wenn sie an Luna Lovegoods Stelle gewesen wäre.

„Rechnest du gerne?“

„Ich habe Arithmantik belegt.“

„Und macht es dir Spaß?“

„Ja… schon.“

„Wenn du willst, kannst du mir helfen. Ich stelle jeden Nachmittag Rechnungen und Kalkulationen zusammen. Es ist nicht besonders aufregend, aber wenn du dich beschäftigen möchtest, kannst du mir da gerne zur Hand gehen.“ Luna Lovegood öffnet den Mund und schließt ihn wieder, ohne irgendetwas gesagt zu haben. Narzissa verlässt das Badezimmer und denkt weiter darüber nach, wie Unken genannt wurden, ehe sie Unken waren.

* * *



„Sie hat dir heute geholfen?“ Lucius ist erst kurz nach Mitternacht von einer Patrouille zurückgekehrt. Seitdem das Ministerium und Hogwarts fest in den Händen des dunklen Lords sind, können sich auch ehemals „vom Ministerium gesuchte Personen“ wieder frei bewegen. Bellatrix, die seit über fünfzehn Jahren keinen Schritt mehr in die Winkelgasse getan hat, geht regelmäßig durch die einst viel bevölkerte Straße. Die meisten Geschäfte haben geschlossen, nur Gringotts wird immer noch gut besucht. Die Galleone wurde noch nicht abgeschafft. Sie weiß nicht genau, was Lucius zu tun hat, doch er wirkt gelassen – und nicht wie jemand, der irgendwelche anstrengenden oder lebenswichtigen Missionen zu erfüllen hat. Eher wie jemand, der beschäftigt gehalten werden muss. Einmal hat sie zu fragen gewagt, ob der dunkle Lord nicht auf die naheliegende Idee gekommen wäre, ihn bei der gegenwärtigen „Säuberung“ des Ministeriums miteinzubeziehen, doch er hat nur den Kopf geschüttelt. Darum würden sich andere Leute kümmern. Das wäre nicht sein Job. Sie liegt im Bett und liest einen leicht verständlichen Roman, als er sich neben sie legt – und offenbar entscheidet, dass es noch nicht zu spät für ein Verhör ist.

„Hat Bella schon wieder eine Infoveranstaltung für dich abgehalten?“

„Der Zauber hat sich verändert. Du hast jemanden nach oben gelassen. Und in deinem Arbeitszimmer steht ein zweiter Stuhl. Über dem Stuhl hängt eine orange-rosa-karierte Strickjacke, in der du dich nicht einmal begraben lassen würdest.“

„Einwandfreie Deduktionsarbeit.“

„Also hat sie dir geholfen?“

„Ja. Sie langweilt sich doch dort unten nur.“ Lucius runzelt die Stirn und nimmt ihr das Buch weg, das sie auf ihrer Brust abgelegt hat, um die Seite nicht zu verschlagen.

„Und da lässt du sie in unsere Zimmer? Du verwehrst sogar Bella den Eintritt.“

„Luna ist ein Kind. Sie ist harmlos. Und sehr geschickt im Umgang mit Zahlen.“

„Ich finde das nicht in Ordnung.“

„Ich habe dich nicht um Erlaubnis gebeten.“ Vorwurfsvoll zieht er die Augenbrauen hoch. „Ich brauche deine Erlaubnis nicht. Die Versorgung und Unterhaltung unserer Gäste ist meine Aufgabe. Du erinnerst dich an Bellas Worte. Niemand darf entkommen. Niemand ist entkommen.“

„Hat sie gesprochen? Bella sagt, sie spricht nicht viel.“

„Sie spricht auch nicht viel. Sie hat auch mit mir nicht viel gesprochen.“ Aber sie hatte genickt und gerechnet. Einmal hatte es sogar so ausgesehen, als würde sie lächeln. „Ich habe ihr ein bisschen was über die Apotheken erzählt. Über den Aufbau… die Entstehungsgeschichte… es ist immerhin auch ihre Familiengeschichte.“ Ohne sich irgendeiner Schuld bewusst zu sein, zuckt Narzissa mit den Schultern und rutscht zu ihm herüber. Sie legt eine Hand auf seiner Brust ab und schaut ihn fragend an. „Was ist falsch daran, sie wie einen Menschen zu behandeln? Wofür kritisierst du mich hier?“

„Ich kritisiere dich nicht.“

„Aber du hinterfragst mich. Du tust so, als hätte ich heute einen Fehler gemacht, weil ich sie nicht gleich wieder in den Keller gesperrt habe.“ Lucius hat die Lippen aufeinandergepresst und sagt nichts, sondern legt seine Hand auf ihre. „Sie könnte auch unsere Tochter sein. Die Rollen könnten so leicht vertauscht sein.“

„Ich weiß.“

„Und würdest du wollen, dass Draco von deinem Bruder mit Wasser und trockenem Brot in einem lichtlosen Raum gehalten wird wie ein Schwerverbrecher?“

„Nein. Natürlich würde ich das nicht wollen.“ Lucius seufzt, führt ihre Hand zu seinem Mund und drückt einen Kuss auf ihre Fingerknöchel. „Ich bin nur besorgt. Bella ist schon nicht begeistert, dass du dem Mädchen seine Marotten allesamt durchgehen lässt… was soll sie dann davon halten, dass du mit ihr in unseren Teil des Hauses gehst?“

„Wenn es Bella nicht Recht ist, dann wird sie sich in Zukunft darum kümmern müssen. Aber das wird sie nicht tun. Denn meine Schwester kann Kinder nicht leiden. Sie kann mit Kindern nicht umgehen. Wenn Luna nun plötzlich beschließen sollte, nicht mehr zu essen, nicht mehr zu trinken und sich selbst zu Tode zu hungern – Bella wüsste nicht, was sie dagegen tun sollte. Und Bella braucht eine lebendige, unversehrte Luna Lovegood, wenn sie ihr wertvolles Druckmittel nicht verlieren will.“

„Das mag ja alles stimmen, aber trotzdem könnte sie an dir zweifeln. Was ist, wenn sie dich in Frage stellt? Wenn sie auf die Idee kommt, dass du womöglich nett zu Luna Lovegood bist, um besser dazustehen, wenn Harry Potter sich als unsterblich erweist und der dunkle Lord scheitert und es zu dem Moment kommt, in dem unser aller Verhalten in dieser Situation bewertet wird? Von dem Ministerium, von der anderen Seite. Was ist, wenn sie so eine Idee hat, in sich hineinfrisst und nie vergisst? Hast du darüber mal nachgedacht?“

„Natürlich habe ich darüber nachgedacht.“ Sie beugt sich vor und küsst ihn auf den Mund. „Meine Schwestern haben mich hinterfragt, seitdem ich sprechen kann. Warum ich dies tue. Warum ich jenes Buch lese. Warum meine Haare nicht dunkler werden. Warum ich unseren Vater lieber als unsere Mutter habe. Warum ich kein Marzipan mag. Warum ich mit Lucius Malfoy spreche.“ Sie gibt ihm noch einen Kuss. „Bella hinterfragt mich vielleicht, aber das wird sie so oder so tun. Das ist ihr Tick. Sie hinterfragt alles und jeden. Ständig. Sie ist vielleicht auf ihre Art brillant, aber sie versteht Menschen nicht. Sie versteht ja nicht einmal ihren eigenen Ehemann.“

„Wie kommst du denn jetzt darauf?“

„Sie hat ihn geheiratet, weil sie dachte, er würde sie verstehen. Als er auf einmal davon angefangen hat, dass er gerne Kinder hätte, ist für sie eine Welt zusammengebrochen.“

„Woher weißt du das?“

„Ihr Tagebuch.“

„Du hast ihr Tagebuch gelesen? Bellatrix hat ein Tagebuch geschrieben?“ Obwohl es spät ist, wirklich spät, und er eben bei ihrer Auflistung von Dingen, die ihre Schwestern nicht einfach hingenommen haben, mehrfach gegähnt hat, wirkt er nun hellwach.

„Früher. Nach ihrem Schulabschluss. Und auch nur sehr sporadisch. Ein paar Sachen scheint sie sich aus ausgedacht zu haben, wenigstens konnte ich mich nicht daran erinnern, dass sie passiert sind… ich habe das Haus von Bellatrix und Rodolphus ja einmal aufgesucht, um nachzusehen, ob sie auch keine Lebensmittel oder Tiere oder sonst etwas haben… da habe ich es gefunden.“

„Und das erzählst du mir jetzt?“

„Es war nicht so erwähnenswert. Und ich wollte ja nur deutlich machen, dass Bella blind ist, wenn es um andere Menschen geht. Sie ist darauf angewiesen, immer misstrauisch zu sein. Also bedeutet es noch gar nichts, wenn sie sich darüber wundert, dass ich Luna Lovegood für mich rechnen lasse. Verstehst du, was ich meine?“

„Mein Kopf tut weh. Ich bin müde.“

„Ich auch.“ Sie küsst ihn noch ein letztes Mal, dann löscht sie das Licht im ganzen Zimmer, schmiegt sich an ihn und hofft, dass es irgendeinen Sinn ergibt, was sie gerade von sich gegeben hat.

Chapter 40: Der Wald

Notes:

Dieses Kapitel ist kurz, aber es knallt. Die Dialoge, die aus dem Canon bekannt sind, habe ich aus der deutschen Übersetzung des siebten Bandes wortwörtlich übernommen. Es ist so ziemlich die einzige Szene, die es schon im Canon gibt, in der ich einfach nur eine andere Perspektive eingenommen habe, also erschien mir das eine angemessene Methode. Das hier ist übrigens die Szene, in der Narzissa Malfoy für mich eine der Figuren aus dem HP-Ensemble geworden ist, die ich extrem spannend finde. Vorher fand ich Bellatrix immer einen Ticken faszinierender, aber hier gewinnt Narzissa für mich. Viel Vergnügen - und hoffentlich ein bisschen Gänsehaut... weil sehr viel dramatischer wird es nicht mehr.

Chapter Text

40 – Der Wald



Niemand erwartet von ihr, dass sie kämpft und deswegen tut sie es nicht. Sie steht auf einer Lichtung im Verbotenen Wald, neben ihr kniet Rubeus Hagrid, der Wildhüter von Hogwarts, dessen Gesicht unter einem dunklen Bart verschwunden ist. Er murmelt und schimpft seit Stunden vor sich hin, so scheint es ihr. Zwischenzeitlich schluchzt er, doch sobald er sich daran erinnert, dass sie immer noch da ist, auch wenn alle anderen im Schloss sind, reißt er sich wieder zusammen. Der Verbotene Wald. Es ist doch albern, wie sie an dieser Bezeichnung festhält. Es ist einfach nur ein Wald. Die Schulregeln gelten seit Jahren nicht mehr für sie.

Rabastan ist einer der Ersten, die aus dem Schloss zurückkehren. Schwarzer Nebel begleitet ihn. Es ist Nacht, aber es ist doch beinahe Sommer und sie staunt darüber, wie das Wetter verrücktspielt. Wie sehr sie doch friert. Es muss an den Dementoren liegen, die überall und nirgends sind.

„Wo ist Draco?“ Rabastan zuckt mit den Schultern und sie bemerkt auf den zweiten Blick, dass er humpelt. Seine Hose ist aufgerissen und es sieht so aus, als wäre ihm eine üble Fleischwunde zugefügt worden. Ob mit einem Messer oder einem Zauberstab, das ist kaum zu sagen.

„Im Schloss.“ Das ist gut. Sie versucht, sich zu beruhigen. Es wäre ein Unglück, wenn er hier wäre. Alle, die in dieser Nacht hier sind, machen sich schuldig. Auch sie macht sich schuldig. Sie bewacht einen gefesselten Halbriesen. Sie ist keine Hilfe. Für niemanden. „Der gute, alte Slughorn… hat seine Schäfchen alle ins Trockene gebracht… und sich selbst natürlich auch.“ Rabastan lacht und stöhnt leise auf, als er sich auf einen Baumstamm setzt. Zwischen den dicht gewachsenen Bäumen dringt noch mehr Nebel hervor. Alle kommen zurück. Es gibt eine Pause. Auch sie hat die Stimme des dunklen Lords gehört. Es ist, als wäre er überall. Im Wald, im Schloss, in der Luft, in der Dunkelheit.

„Also ist Draco in Sicherheit? Er kämpft nicht mit?“ Der Blick, den Rabastan ihr zuwirft, erschüttert sie. So herablassend hat er sie in ihrem ganzen Leben noch nie angesehen.

„Nein. Und du solltest dich für ihn schämen. Wenn ich einen Sohn hätte, dann würde ich ihm nicht sagen, dass er sich verstecken soll. Ich würde mir wünschen, dass er sich wie ein Mann verhält – und nicht wie ein ängstliches Kind.“

Sie weiß nicht, was sie getan hätte, wenn sie nicht von zwei kalten Händen gepackt worden wäre. Es ist Bella, die sie zurückhält und sanft ihre Hand umfasst. Sie hat ihre Finger zur Faust geballt. Dabei ist es so sinnlos. Auch einem verwundeten Rabastan wäre sie körperlich unterlegen. Ihren Zauberstab hat sie Draco gegeben. An Ostern schon. Sie war schließlich zuhause und die kleinen, alltäglichen Zaubersprüche, die sie benötigte, um für das Haus und die Pfauen zu sorgen, die konnte sie auch so verrichten. In diesem Augenblick bereute sie es, nicht irgendeinen Zauberstabmacher aufgetrieben zu haben, der sich um Draco kümmerte. Mit ihrem Zauberstab hätte sie Rabastan den Hals umdrehen können. In nur einer einzigen Sekunde.

„Ganz ruhig, Zissy. Draco geht es gut. Ich hab ihn gesehen.“ In Bellas Augen verschwimmen Pupille und Iris miteinander. Es sind schwarze Löcher in der Mitte ihres Gesichts. Schwarze Löcher ohne Boden. „Lucius ist ebenfalls unversehrt.“ Bella rümpft die Nase. „Diese Pause ist ihm zu verdanken. Potter zu erwischen, wenn eine ganze Schule für ihn sterben würde, ist nicht besonders geschickt. Der dunkle Lord glaubt, dass er sich freiwillig stellen wird. Nachdem er gesehen hat, wie viele für ihn sterben wollen.“ Ihre Schwester lacht auf, hält sie aber immer noch sehr fest, sodass sie keinen Schritt vor oder zurück tun kann. Die Umklammerung wird von Rabastan beobachtet, der nebenbei seine Wunde versorgt und Horace Slughorn zur Hölle wünscht.

„Wo ist Lucius?“

„Er hat zu tun.“

„Und was hat er zu tun?“

„Seit wann interessiert es dich, was Lucius tut? Bleib einfach hier. Bleib ganz ruhig, ja?“ Langsam löst Bella ihren Griff und stellt sich vor Narzissa, sodass ihr die Sicht auf Rabastan verwehrt bleibt. Die Hände ihrer Schwester liegen kalt auf ihren Wangen.

„Ich bin ruhig.“

„Gut.“ Die Mundwinkel ihrer Schwester zucken. „Du hättest dabei sein müssen, Zissy. Es ist… es ist wie in einem Traum. Minerva McGonagall auf Knien. Ein Anblick für die Götter. Ich wünschte, Moody wäre noch am Leben, damit er sehen könnte, wie seine hübschen, kleinen Auroren einer nach dem anderen umkippen wie Schießbudenfiguren. Selbst einige von den Kindern sind zäher. Das Konzept von Verteidigung gegen die dunklen Künste muss sich seit unserer Schulzeit deutlich verbessert haben.“ Endlich lässt Bella ihr Gesicht los und ein Versuch von Rubeus Hagrid, sich aufzurichten, endet damit, dass der riesenhafte Mann merklich ins Schwanken gerät und sie beinahe erschlägt.

Als sie Hagrid wieder stabilisiert hat und dafür mit ein paar üblen Ausdrücken beschimpft worden ist, bemerkt sie, dass die meisten Todesser sich auf der Lichtung eingefunden haben. Viele von ihnen wirken geschwächt oder so, als wären sie erst kürzlich von einem Schockzauber gestreift worden. Sie entdeckt kaum ein Paar Augen, das so dunkel und glitzernd ist wie das ihrer Schwester. Die wenigsten hier träumen mit offenen Augen.

Sie wünscht sich, dass Lucius auftaucht und ihr sagt, was er verdammt nochmal die ganze Zeit über getan hatte – und warum niemand mit ihr sprach. Als Rodolphus sich aus einer Gruppe Todesser, deren Gesichtern sie keine Namen zuordnen konnte, löste und zu ihr herüberkam, war sie beinahe dankbar dafür, dass jemand mit ihr sprach. Der Wald war von Schatten bevölkert. Wahrscheinlich waren die meisten von ihnen keine Todesser, sondern gehörten zu der schlichten Anhängerschaft des dunklen Lords, die sich in den letzten Monaten mit rasender Geschwindigkeit verdoppelt und verdreifacht hatte. Neben ihr brabbelte Hagrid ohne Unterbrechung. Sein schwerer Dialekt, den sie schon in ihrer Schulzeit nicht so richtig hatte einordnen können, sorgte dafür, dass seine Worte ineinander verschwammen. Es kam ihr an einigen Stellen sogar so vor, als würde er reimen. Womöglich betete er. Oder er rezitierte irgendwelche Hymnen, die betrunkene Männer sangen, wenn sie unterm Tisch lagen. Sie wusste es nicht, es war auch eigentlich egal, verhexen konnte er sie nicht, doch es war auffallend, wie klar und scharf die Stimme von Rodolphus im Vergleich mit dem beständigen Murmeln war. Kein Poltern oder Donnergrollen, sondern ein Blitz.

„Du zitterst ja. Hat die Angst dich zerfressen? Du bist doch in Sicherheit… unsere geübte Babysitterin.“ Selbst jetzt noch ist der Geruch nach Zigarren unverkennbar. Er steht nur wenige Zentimeter vor ihr und lächelt sie an. Er hat einen Zahn verloren. Früher hatte er schöne Zähne, aber er hat sich nicht darum gekümmert. Ihre Schwester hat Vernunft bewiesen und sich von ihr in eine Zahnarztpraxis bringen lassen. Rodolphus hatte sich geweigert, seine Zähne von Muggeln reparieren zu lassen – oder überhaupt jemanden so nah an sich heranzulassen.

„Mir ist lediglich kalt.“

„Ach, Zissy… du könntest dich freuen.“

„Worüber?“

„Wir werden gewinnen. Vielleicht sogar wegen Lucius. Wenn Potter wirklich so dumm ist und sich selbst ausliefert… sobald der dunkle Lord ihn getötet hat, wird da oben alles zusammenbrechen. Es ist richtiggehend lächerlich, wie sie alle an ein Kind glauben. Einige von ihnen rufen sogar seinen Namen, bevor sie den Zauberstab heben. Für Harry. Oder für Dumbledore. Es ist hinreißend.“

Neben ihr beginnt Hagrid zu wimmern und sie zuckt zusammen. Über das vom Wetter gegerbte, zusätzlich vor Wut gerötete Gesicht des Wildhüters laufen dicken Tränen. Angewidert wendet Rodolphus sich ab und sie hätte vor Erleichterung fast ebenso angefangen zu weinen, als sie Lucius' helles Haar durch den dunklen Nebel aufleuchten sieht.

Er geht nicht direkt zu ihr, sondern spricht zunächst kurz mit Bellatrix und einem Mann, den sie kaum wiedererkennt. Erwin Goyle scheint ihr um Jahre gealtert. Sie weiß, dass auch er nicht im Schloss gewesen ist. Sie hat gehört, wie der dunkle Lord ihn zu einem Außenposten geschickt hat. An die Grenzen, hinter denen die Magie von Hogwarts nicht mehr wirkt. Er soll Nachzüglern den Weg in Richtung des hauptsächlichen Schauplatzes dieses Krieges, der ihr zum ersten Mal wirklich wie ein Krieg vorkommt, weisen. Sie weiß, dass Erwin Goyle nicht der beste Zauberer ist. Seine Talente liegen nicht bei offensiven Zaubern, sondern woanders. Das hat offenbar auch der dunkle Lord erkannt. Oder er wurde darauf hingewiesen. Narzissa weiß immer noch nicht zu sagen, ob der dunkle Lord selbst irgendeiner Person wirklich nahesteht. Die Todesser haben sich um ihn versammelt, doch niemand kommt ihm zu nah. Selbst ihre Schwester läuft in engen, beinahe konzentrischen Kreisen um ihn herum, ohne dabei eine gewisse, unsichtbare Linie zu überschreiten. Als wäre da kein Körper, keine echte Person, die man anfassen könnte, sondern nur eine Fata Morgana. Eine Spiegelung aus Licht, Schatten und Bosheit.

Vorsichtig legt Lucius einen Arm um sie. Seine Haare sind strähnig, seine Wangen zerkratzt und schmutzig, doch er scheint nicht verletzt. Er humpelt nicht oder bewegt sich sonst irgendwie schwerfällig. Er riecht nach Schweiß, aber sie presst ihr Gesicht trotzdem an seine Schulter. Eine Pause. Seine Idee. Sie sollte fragen, sie hat so viele Fragen, sie muss wissen, wo er gewesen ist und doch fällt ihr nur eine einzige Frage ein.

„Wie geht es Draco?“

„Ich weiß es nicht. Ich hab ihn nicht mehr gesehen, seit… ich weiß nicht. Es ist lange her. Oder nur eine Stunde. Ich weiß es nicht.“ Seine Lippen sind ein gerader Strich. „Slughorn hat versucht, alle Slytherins zu evakuieren, aber ich weiß nicht, ob… ich weiß nicht, wo er ist, Zissy, ich weiß es einfach nicht.“

„Bella hat gesagt, sie hat ihn gesehen.“

„Bella war die ganze Zeit in der Großen Halle. Wenn Draco dort gewesen wäre, dann wäre er jetzt hier.“

„Dann hat sie…“

„Sie hat gelogen.“

„Wir müssen ihn finden, Lucius. Wir müssen ihn finden.“ Sie sieht ihn an und wagt es nicht, ihren Gedanken wirklich laut auszusprechen Wenn sie jemand hört, dann kann es leicht passieren, dass sie hier und jetzt sterben. So dicht wie nur möglich presst sie ihre Lippen an sein Ohr. „Wir müssen hier weg. Mit Draco.“ Lucius' Fingernägel bohren sich in ihre Seite. „Egal wie das hier ausgeht, für uns wird es nicht gut ausgehen. Rabastan und Rodolphus, sie sind…“

„Ich weiß.“

„Bella hat gelogen.“ Es war sicher nicht das erste Mal, dass sie von ihrer großen Schwester belogen worden war, doch noch nie hatte es etwas bedeutet. Bisher war sie immer davon ausgegangen, dass Bella ihr im Zweifelsfall keinen reinen Wein einschenkte, um sie zu beschützen. Doch zu behaupten, dass sie Draco gesehen hätte, dass es ihm gut ging, wenn sie ihn doch eigentlich nicht gesehen haben konnte, das war keine schöne, weiße Schwindelei, um Narzissa etwas Gutes zu tun. Es war eine Beschwichtigung, allerhöchstens. Doch eigentlich war es nur ein finaler Beweis dafür, dass Bella nicht verstand, was Draco ihr bedeutete. Dass Bella überhaupt nichts verstand.

Weder Lucius, noch sie sprechen ein Wort. Alles ist gesagt. Er lässt sie nicht los, auch wenn sie immer wieder kopfschüttelnd beäugt werden. Beinahe kann sie die lästerlichen Kommentare hören. Viele der Männer verstehen nicht, warum sie hier ist. Sie ist nicht wie Bella. Sie hat keinen Zauberstab. Sie ist nutzlos – einzig und allein ihr Nachname berechtigt ihre Anwesenheit irgendwie.

Bellas Worte klingen nach. Es ist wie ein Traum. Rabastan hat Unrecht. Nicht nur die Realität ist real. Ihr ist schwindelig und sie weiß nicht, ob sie wirklich wach ist, als Harry Potter den Wald betritt. Hagrid heult auf und es ist ein Traum. Ob es ein guter oder ein schlechter Traum ist, das kann man kaum entscheiden. Zu sehen, wie Harry Potter von einem grünen Blitz getroffen wird, zu Boden fällt und einfach reglos dort liegen bleibt, als wäre er nur irgendein Junge und nicht der Junge, der überlebt hat, kann einfach nicht echt sein.

Doch nicht nur Harry Potter ist zu Boden gegangen, auch der dunkle Lord selbst taumelt. Als würde ihn die Magie, die er selbst verursacht hatte, nicht kalt lassen. Sie sieht, dass ihre Schwester Anstalten macht, ihn zu stützen und abgewimmelt wird wie eine lästige Fliege. Noch nie hat sie ihre Schwester so gekränkt gesehen. Einige Stimmen haben sich erhoben. Sie jubeln. Johlen. Doch sie alle sind ratlos, sie begreifen nicht, was passiert ist. Rubeus Hagrids Weinen ist wie ein Summen in ihrem Ohr.

Der dunkle Lord steht wieder aufrecht und hält seinen Zauberstab fest umklammert. Er wirkt beinahe zornig, als er sich auf der Lichtung umsieht. So viele Zeugen. So viele Zeugen, die gesehen haben, wie seine Beine unter ihm nachgegeben haben. Narzissa glaubt, dass ihr das Herz stehen bleibt, als die zornigen, kalten Augen stehen bleiben und auf ihrem Gesicht ruhen.

„Du.“ Bella entfährt ein leiser Schrei, als sie begreift, dass der dunkle Lord zwar in ihre Richtung gesehen, aber doch an ihr vorbeigeblickt hat. Ihre Augen haben sich geweitet und Narzissa selbst bringt keine Frage hervor. Der dunkle Lord nickt, streckt seine Hand aus und winkt sie zu sich. Lucius gibt sie frei und sie spürt jeden einzelnen Blick, der auf ihr ruht, als sie in die Mitte der Lichtung geht. Die Hand des dunklen Lords deutet auf den zusammengesackten Körper von Harry Potter, der mit dem Gesicht halb auf dem feuchten, moosbewachsenen Waldboden lag. „Untersuch ihn. Sag mir, ob er tot ist.“

Narzissa wusste nicht, warum sie. Warum ausgerechnet sie. Der dunkle Lord selbst war nur wenige Schritte von Harry Potter entfernt. Er hätte ihn ebenso leicht untersuchen können. Aber er wollte es nicht. Er wollte die Leiche nicht berühren.

Ihr Atem ging zu schnell, sie schnappte förmlich nach Luft, als sie sich neben den Körper des Jungen kniete. Vorsichtig berührte sie sein Gesicht. Es war bleich, aber ganz warm. Probehalber öffnete sie eines seiner Augen, die beide zugefallen waren. Eine helle, grüne Iris strahlte ihr entgegen. Er sah sie an. Sie tastete mit ihren Händen über seine Brust. Einen Moment lang war sie nicht sicher, ob es wirklich sein Herzschlag war, den sie fühlte oder er ob ihr eigener Puls so hoch war, dass das Blut in ihren Fingerspitzen pochte. Das Auge, das sie geöffnet hatte, zuckte leicht. Schnell beugte sie sich über ihn, sodass ihre Haare seinen Kopf abschirmten und niemand außer ihr sein Gesicht sehen konnte. Sie legte einen Finger an seinen Hals. Er lebte. Es war unverkennbar.

Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Was sie sagen sollte. Doch es gab seit Stunden nur eine einzige Frage, die sie immer wieder heimgesucht hatte. Die einzige Frage, deren Antwort wirklich noch von Bedeutung war. „Lebt Draco noch? Ist er im Schloss?“ Sie hoffte, dass sie noch flüstern konnte. Der Sauerstoff verließ ihre Lungen so schnell und sie wusste, dass es ganz und gar nicht gesund war, wie ein Fisch nach Luft zu schnappen, doch sie konnte nicht anders.

„Ja.“ Es war mehr ein Hauch als eine Stimme, aber es war eindeutig. Natürlich bestand die Möglichkeit, dass auch Harry Potter ein Lügner war, der sehr genau wusste, dass sein Leben an einem seidenen Faden hing. In ihren Händen lag. In ihren Händen, die sich verkrampft hatten. Ihre Fingernägel hatten sich in seinem Fleisch vergraben. Seinem lebenden, warmen Fleisch.

Draco lebte. Ihre Schwester war vielleicht doch keine Lügnerin. Vielleicht hatte sie ihn doch gesehen. Narzissa legte ihre Hand über den Mund von Harry Potter. Sein warmer Atem schlug gegen ihre Hand. Seine Brust hob und senkte sich kaum. Er sah aus wie tot. Die Realität ist das, was real ist. Die Realität ist das, was gesehen wird. Ihre Schwester war eine Lügnerin. Ihre Schwester war keine Lügnerin. Narzissa war keine Lügnerin, nie gewesen. Vielleicht war sie es doch, vielleicht hatte immer schon eine Lügnerin in ihr gesteckt, die nur auf den richtigen Moment gewartet hatte, um zum Vorschein zu kommen. Draco lebte.

Sie hebt ihren Kopf und sucht nach den leeren Augen des dunklen Lords. Nicht nur sein Blick ist erwartungsvoll auf sie gerichtet, doch sie nimmt weder den wimmernden Rubeus Hagrid war, noch irgendeine andere der Gestalten, deren Namen sie entweder nicht kennt oder nicht kennen will. Draco lebt. Der Junge, der vor ihr legt, lebt ebenso. Vielleicht kann es so bleiben. Vielleicht können sie beide leben und ein schönes Alter erreichen. Nach ihr sterben. Nach Lucius. Nach dem dunklen Lord. So wie es sich gehört.

„Er ist tot.“

Chapter 41: Schlachten und Schlächter

Chapter Text

V  –  What The Thunder Said

Who is the third who walks always beside you?
When I count, there are only you and I together
But when I look ahead up the white road
There is always another one walking beside you



41 – Schlachten und Schlächter



3. Juni 1998



„Mum!“ Dracos Gesichtsfarbe erinnert sie daran, dass sie die Wände im Salon endlich in einer warmen, fröhlichen Farbe streichen wollte, um dem ewigen, kühlen Weiß zu entgehen. Sie ist seit zwei Stunden wach und hat bereits gefrühstückt, doch als sie die ungewohnt hohe Frequenz hört, die Dracos Stimme erreicht hat, kehrt sie in die Küche zurück. Ihr Sohn sitzt vor seinem Toast und umklammert die aktuelle Ausgabe des „Tagespropheten“.

„Alles in Ordnung, mein Schatz?“

„Hast du die Zeitung heute nicht gelesen?“

In den letzten Wochen war ihr das Lesen sämtlicher Tageszeitungen zugleich helle Freude und finstere Qual gewesen. Das Zaubereiministerium erholte sich von der beinahe einjährigen Besetzung durch Lord Voldemort und sie beobachtete zufrieden, wie Kingsley Shacklebolt sich als neuer Zaubereiminister gab. Im Mai waren täglich die Veränderungen von Gesetzen gedruckt worden, die in den letzten zwölf Monaten neu aufgestellt worden waren. Die Abteilungen wurden neu strukturiert, es gab zahlreiche Wiedereinstellungen und Neubesetzungen und es war alles ungeheuer spannend. Noch nie war so deutlich gewesen, dass die Zauberwelt sich in einem Umbruch befand und auch wenn Narzissa natürlich klar war, dass das letzte Wort noch nicht gesprochen war, konnte sie nicht behaupten, dass sie die Zeit zurückdrehen wollte. Es ging voran, die Dinge änderten sich und das war gut. Das große Thema waren die Todesser-Prozesse, die am gestrigen Tag eröffnet worden waren. Zuvor hatte es einen großen Wirbel um die sogenannten „Reformen der Justiz“ gegeben, die von Kingsley Shacklebolt und einer Reihe anderer, politisch relevanter Persönlichkeiten vorgenommen worden waren. Der Zaubergamot war sorgfältig neu strukturiert worden und in Vorbereitung auf den größten Strafprozess der neueren Zaubereigeschichte hatte man entschieden, dass Askaban zwar nach wie vor die Höchststrafe für Zauberer und Hexen sein sollte, die in England, Wales, Schottland und Irland eine Straftat begangen hatten – aber es sollte neue Maßstäbe geben, nach denen der Zaubergamot richten wollte. Eine Hexe oder ein Zauberer sollte nur nach Askaban geschickt werden, insofern er oder sie eine chronische oder akute Gefahr für die magische Gesellschaft darstellte. Es sollte eine Vielzahl alternativer Bestrafungen für jene Angeklagten geben, die als nicht-aktive Todesser eingestuft wurden. Was auch immer die Grenze zwischen Aktivität und Inaktivität sein sollte, war unklar, doch die Ansprache von Kingsley Shacklebolt, die vorgestern vom Magischen Rundfunk übertragen worden war und zusätzlich in jeder Zeitung, die man sich nur vorstellen konnte, abgedruckt worden war, gab ihr Hoffnung, dass sie vielleicht nicht Lucius und Draco an Askaban verlieren würde. Oder selbst dort landete. Allzu genaue Erläuterungen, was die besagten Alternativen zu Askaban waren, hatte es nicht gegeben, doch Kingsley Shacklebolt hatte von persönlichen Einschränkungen magischer Aktivitäten gesprochen und von Kontrollen durch das Ministerium. Es war alles sehr vage, aber es klang doch vielversprechend. Lucius war bereits eine Woche nach dem endgültigen Verschwinden von Lord Voldemort sein Zauberstab entzogen worden. Kingsley Shacklebolt persönlich war bei ihnen erschienen und hatte Lucius' Stab konfisziert. Ihr eigener Stab, den sie an Draco weitergegeben hatte, war bei dem Durcheinander in Hogwarts zerstört worden – und sie war von Kingsley Shacklebolt freundlich darüber unterrichtet worden, dass sie vorläufig davon absehen sollte, sich einen neuen Zauberstab zuzulegen. Man würde sie darüber in Kenntnis setzen, wann es ihr und auch Draco gestattet sein würde, sich wieder „auszurüsten“.

Und nun war der Prozess eröffnet worden und Draco machte ein Gesicht, als müsste er sich übergeben. Sie betrachtete die Titelseite des „Tagespropheten“, doch dort konnte sie nichts lesen, womit sie nicht gerechnet hätte.

„Mum?“

„Ja?“

„Hast du das jetzt gelesen oder nicht?“

„Ich habe es überflogen, als ich gefrühstückt habe. Wieso? Möchtest du darüber sprechen?“ Das wäre eine Neuerung. In den letzten Wochen hatte Draco sich zurückgezogen. Er hatte es geduldet, dass Lucius und sie ihn fast zerquetscht hatten, als sie ihn wohlbehalten im Schloss vorgefunden hatten und auch, als sie in Malfoy Manor angekommen waren, hatte er sich ihr nicht sofort entzogen. Doch nach wenigen Tagen war ihr aufgefallen, dass er sich kaum an Gesprächen beteiligte, die Zeitungen entweder nicht las oder so tat, als läse er sie nicht. Er schrieb keine Briefe an seine Freunde. Er wollte nicht darüber sprechen, was im Schloss passiert war. Er besuchte weder die Beerdigungszeremonie von Vincent Crabbe, noch die Trauerfeier für all jene, die am 1. und 2. Mai gestorben waren. Narzissa wusste nicht, ob er glaubte, dort deplatziert zu sein oder ob er noch weiter ging und meinte, kein Recht zu haben, zu trauern. Sie war besorgt und sie bot ihm bei jeder gemeinsamen Mahlzeit an, dass er jederzeit mit ihr sprechen konnte, bis er ihr irgendwann erklärte, er würde sie schon wissen lassen, wenn er sie brauchte. Er brauchte sie also nicht. Er brauchte scheinbar auch Lucius nicht oder irgendeinen anderen Menschen. Er brauchte nur sein Bett, Nahrung und Sauerstoff.

Doch nun hatte Draco ganz offensichtlich das Bedürfnis, sich mit ihr auszutauschen. Das war schön. Das erleichterte sie. Und doch wusste sie nicht, was er wollte. Er hatte den Finger direkt über die fetten Lettern auf der Titelseite gelegt. DAS SCHLACHTEN NACH DER SCHLACHT – SPEKTAKULÄRER LEICHENFUND IM ZAUBERGAMOT ZUM AUFTAKT DER TODESSER-PROZESSE – WAS SAGT DER ZAUBEREIMINISTER ZU DER BRUTALEN VERSTÜMMELUNG UND ÖFFENTLICHEN AUFBAHRUNG VON RABASTAN UND RODOLPHUS LESTRANGE? Es war eine ziemlich lange Überschrift und dort, wo man normalerweise sicherlich ein Foto gedruckt hätte, war Raum für den Verweis darauf gewesen, dass Kingsley Shacklebolt bereits Stellung genommen hatte.

„Meinst du, das war auch Molly Weasley?“ Beinahe hätte Narzissa aufgelacht. Dabei war es eigentlich gar nicht witzig, es ging schließlich um Leben und Tod – den Tod ihrer eigenen Schwester.

„Ganz bestimmt nicht. Vielleicht war es der Geist von Alastor Moody.“

„Ich dachte, die beiden wären entkommen. Es hieß doch immer wieder, dass es keine Spuren gibt, die zu ihnen führen? Es ist von einer international angelegten Fahndung die Rede gewesen!“

„Stimmt, das habe ich gelesen. Die Plakate mit den chinesischen Schriftzeichen haben sie sogar in der „Hexenwoche“ abgedruckt… scheint so, als hätte es funktioniert.“ Sie streichelt Draco durch die Haare, die nach dem Aufstehen immer noch so zerzaust aussehen wie früher, als er noch ein Baby gewesen ist. „Wenn es dich so aufregt, dann solltest du vielleicht erstmal in Ruhe wach werden und frühstücken. Auf nüchternen Magen solche Brocken lesen, das ist überhaupt nicht gesund.“

„Es regt mich nicht auf! Es ist nur… wir kannten sie. Leute, die wir kannten, wurden ermordet. Findest du das nicht furchtbar? Er war immerhin dein Schwager und du… du kanntest sie doch beide. Sie haben hier gewohnt! Was ist, wenn irgendjemand versucht, dem Ministerium zuvorzukommen und alle Angeklagten schlachtet und im Zaubergamot abliefert!? Was ist, wenn Dad-“

„Jetzt bleib mal ganz ruhig, ja?“ Sie geht hinter ihm in die Knie und schlingt ihre Arme um ihn. Er wehrt sich nicht, aber er hat das Zeitungspapier immer noch fest umklammert. „Wir sind in Sicherheit. Es geht uns gut. Der Prozess deines Vaters beginnt frühestens in zwei Wochen und du wirst nicht vor dem Gamot stehen.“

„Das hat offiziell niemand bestätigt.“ Aber es war auch keine offizielle Anklage vorgelegt worden. Draco war zwar genau wie ihr nahegelegt worden, das Grundstück so wenig wie möglich zu verlassen und nicht zu disapparieren, sondern nur das Flohnetzwerk zu nutzen, sodass das Ministerium ihre Schritte verfolgen konnte, doch im Prinzip war er ein freier Mensch. Freier als in den letzten zwei Jahren wenigstens. „Du hast meine Frage nicht beantwortet.“ Sie schließt die Augen und vergräbt ihre Nase in Dracos Haaren, die weich sind und nach Vanille riechen.

„Welche Frage?“

„Bist du nicht… na ja, traurig oder so?“

„Ich bin nicht traurig.“

* * *



„Warst du es?“ Lucius hat den Tag damit verbracht, Einstellungsgespräche mit Bewerbern für offene Leitungsstellen in mehreren Apotheken zu führen. Da er das Haus nicht verlassen kann, hat er die Bewerber im Salon empfangen. Nach dem Verschwinden von Voldemort und den ersten Schlagzeilen sind zahlreiche Kündigungsschreiben bei ihnen eingetrudelt. Offenbar gibt es etliche Menschen, die kein Problem damit haben, für die Familie Malfoy zu arbeiten, bis der Name Lucius Malfoy auf einer offiziellen Liste aller Angeklagten aufgetaucht ist. Das Ministerium hat, im Sinne der Transparenz, eine „auf Vollständigkeit nicht prüfbare“ Liste mit den Namen aller bekannten Träger des dunklen Mals zusammengestellt. Dracos Name ist wie durch ein Wunder nicht gedruckt worden, doch es hat genügt, dass Lucius genannt wurde. Was in aller Welt sich diese Menschen vor zwei Jahren gedacht haben, als Lucius nach Askaban geschickt wurde, und warum es ihnen da nicht schon eingefallen ist, zu kündigen, das ist ihr ein Rätsel. Vermutlich lag es daran, dass Abraxas zu diesem Zeitpunkt immer noch das Aushängeschild der Apotheken gewesen ist. Oder es war die allgemeine Angst vor den Malfoys gewesen, die sich nun entweder in leisen Hohn, abgrundtiefe Verachtung oder schlichtes Mitleid verwandelt hatte.

Sie war nicht davon ausgegangen, dass Lucius und sie nicht ebenfalls über die Schlagzeile sprechen würden, doch sie hatte angenommen, dass er nicht ganz so unumwunden fragen würde. Er sah ihr dabei zu, wie sie vor dem Kleiderschrank stand und nach einem nicht zu dünnen, aber auch nicht zu dicken Nachthemd suchte. Sie trug ihren Morgenmantel und ihre Haare waren noch nicht ganz trocken. Es war nicht der perfekte Moment, um so eine Unterhaltung zu führen, aber andererseits, welche Situation eignete sich schon dafür, so eine Frage zu stellen?

„War ich was?“

„Du weißt genau, was ich meine, Zissy. Hast du es getan?“

„Du solltest mich das nicht fragen.“ Sie knotet den Morgenmantel auf und schlüpft in das weiche, kühle Nachthemd. „Stell dir einmal vor, du wirst vor dem Zaubergamot befragt und sie entscheiden sich dazu, Veritaserum einzusetzen. Dann wäre es doch wirklich sehr unschön, wenn sich jemand danach erkundigen würde, ob deine Ehefrau eine Mörderin ist. Eine solche Frage wäre nicht undenkbar. Man wird sich wohl auch für Draco und mich interessieren.“

„Ich war mir des Risikos durchaus bewusst, als ich dir diese Frage gestellt habe.“ Er setzt sich auf und stellt sich direkt vor sie. Seine Hände legen sich auf ihren Rücken und sind angenehm warm. „Ich muss dich das fragen.“ Er zieht sie so dicht an sich, dass ihre Münder sich fast berühren. „Sag, dass du es nicht getan hast.“

„Ich habe es nicht getan.“

„Schwör es mir.“

„Das würde ich lieber nicht tun.“

„Verdammt, Zissy. Findest du nicht, es steht schon genug auf dem Spiel? Was soll aus Draco werden, wenn sie mich nach Askaban schicken und dich gleich mit?“

„Draco ist volljährig. Übermorgen wird er achtzehn Jahre alt.“

„Hab ich nicht vergessen.“ Sanft streichen seine Hände über ihren Rücken und doch kann er nicht vor ihr verbergen, dass er wütend ist. Weil er Geheimnisse nicht ausstehen kann. Weil er an ihr zweifelt, seitdem sie eine große Lügnerin ist. Seit der dunkle Lord, Bella und auch er selbst, wie er ihr gestanden hat, auf sie hereingefallen ist. „Ich bin gestern Morgen sehr früh wach geworden. Du warst nicht da. Ich habe nicht nach dir gesucht… ich dachte, du bist vielleicht einfach schon wieder eher als ich auf den Beinen.“ Den ganzen Tag über hatte sie sich alle Mühe gegeben, nicht allzu müde zu wirken, obwohl sie erschöpft gewesen war. „Du weißt, dass wir überwacht werden. Jede Nutzung unseres Kamins, jede Disapparation, alles wird aufgezeichnet. Einzig und allein ein Wachposten auf der Hecke fehlt noch. Und wenn das Ministerium dafür genug Leute hätte, dann säße auch da jemand.“

„Dort saß aber niemand.“

„Wie hast du sie gefunden? Das Ministerium hat jeden einzelnen Mann darauf aufgesetzt, Rabastan, Rodolphus und den verfluchten Yaxley zu finden.“

„Eine Dame muss auch schweigen können.“ Das ist vielleicht die einzige wirklich zeitlose Weisheit, die ihre Tante Walburga jemals von sich gegeben hat. Sie legt ihre Arme um seinen Hals und gibt ihm einen kurzen Kuss auf den Mund. „Ich möchte jetzt schlafen, Lucius.“

„Du kannst einen wirklich in den Wahnsinn treiben, weißt du das?“

„Bisher hast du dich doch ganz tapfer gehalten.“ Sie küsst ihn erneut und diesmal erwidert er den Kuss. Das ist keine Kapitulation und sie weiß das. Er wird wieder fragen. Er wird vielleicht sogar eine ausgeklügelte Offensive planen und versuchen, sie in einem Moment zu erwischen, in dem sie nicht damit rechnet. Aber nicht jetzt sofort.

Als er den Kuss beendet und mit seinen Lippen stattdessen in Richtung ihrer Halsbeuge wandert, entfährt ihr ein überraschtes Stöhnen und blitzschnell erinnert sie sich daran, dass Draco eben ausnahmsweise nicht in seinem Zimmer, sondern im Wohnzimmer gesessen und Löcher in die Luft gestarrt hat. Ehe sie sich den Mund zuhalten kann, hat Lucius seine Zähne bereits mahnend in ihrer nackten Schulter vergraben.

„Nicht. Draco ist unten.“ Sie redete sich gerne ein, dass Draco keinen blassen Schimmer davon hatte, wann und wie häufig Lucius und sie Sex hatten. Sobald er ein Alter erreicht hatte, in dem das menschliche Langzeitgedächtnis voll funktionsfähig war, hatten sie darauf geachtet, dass er in seinem Zimmer war und irgendwelche Zauber verhinderten, dass Geräusche aus dem Schlafzimmer drangen. Doch der Spruch wollte ihr jetzt einfach nicht einfallen und um ihre Konzentration stand es ausgesprochen schlecht, als Lucius' Hände an ihren Seiten nach oben wanderten und ihre Brüste umfassten.

„Dann musst du eben still sein.“ Er lacht leise, als er wieder einen Kuss auf ihrem Hals platziert und ihre Beine wegknicken, sodass sie das Gleichgewicht verliert und gegen die Tür des Kleiderschranks stolpert. Es ist ein dumpfes, aber lautes Geräusch, das ihr Körper erzeugt, der gegen das alte Holz prallt.

„Das geht so nicht.“

„Möchtest du ihn ins Bett schicken? Oder soll ich aufhören?“ Es ist wirklich eine Schande, dass sie sich so lange kennen und sie es immer noch nicht leid geworden ist, von ihm angefasst zu werden. Sie weiß haargenau, wie sich seine Hände anfühlen und doch kann sie ihm nicht widerstehen. Er muss nicht einmal besonders viel machen. Als sein Knie sich sanft zwischen ihre Beine schiebt, zieht sie eine Grenze. Sie stemmt ihre Hände rigoros gegen seine Brust und drückt ihn von sich weg. „Du möchtest also in Ruhe gelassen werden?“

„Du kannst nicht wirklich wollen, dass er uns hört.“ In diesem Punkt waren sie sich immer einig gewesen. Weder sie, noch Lucius hatten irgendwelche exhibitionistischen Tendenzen – und sie konnte sich nicht vorstellen, dass man so etwas urplötzlich entwickelte. Er packt sie an der Hüfte und dirigiert sie nicht in Richtung des Bettes, sondern in den angrenzenden, kleinen Raum, in dem ganz früher Dracos Wiege gestanden hat. So sind sie ein bisschen weiter weg von dem Wohnzimmer und sie bildet sich sogar ein, dass sie hört, wie jemand die Treppe hochgeht.

Während er sie gegen die Fensterbank drängt, auf der die alten, trüb gewordenen Schneekugeln ihrer Schwester stehen, hat er bereits damit begonnen, die Träger ihres Nachthemds über ihre Arme zu ziehen und den Stoff nach unten zu schieben. Das Nachthemd fällt zu Boden und die kalte, steinerne Kante der Fensterbank drückt gegen ihr Kreuz. Als er plötzlich vor ihr auf die Knie geht und anfängt, sich an den Innenseiten ihrer Oberschenkel nach oben zu küssen, beißt sie sich aus lauter Verzweiflung auf ihre eigene Hand. Es ist, als wäre der Spruch, mit dem sie einen tonlosen Raum erschaffen kann, aus ihrem Gedächtnis gestrichen worden. Schweigen, Stille, Silencium. Der Zauber des Schweigens, den man nicht auf sich selbst anwenden kann, weil man dann darauf angewiesen ist, dass jemand anders den Bann bricht. Sie weiß nicht, ob Lucius dazu in der Lage ist, den Spruch ohne einen Zauberstab umzukehren und es wäre undenkbar peinlich, ins Ministerium zu gehen und erklären zu müssen, warum sie sich selbst ihre Stimme genommen hatte.

Es raubte ihr fast den Verstand, als er ihre Beine auseinanderdrückte und sie seine Zunge spürte. Noch immer war sie darauf bedacht, sich so ruhig wie möglich zu verhalten. Umso mehr entsetzte es sie, als er auf einmal einen Kuss auf ihren Hüftknochen drückte, stattdessen mit einem Finger in sie eindrang, mit seinem Daumen zugleich träge über ihren empfindlichsten Punkt streichelte, und die Stimme erhob.  

„Also, wie hast du sie gefunden?“ Sie keuchte halb vor Fassungslosigkeit, halb vor Lust. Hatte sie ihm nicht eben noch zugetraut, dass er sich eine neue Strategie überlegen würde, ehe er sie wieder danach fragte? Warum um Himmels Willen war sie davon ausgegangen, dass er bis zum nächsten Tag brauchen würde, um eine Taktik zu ersinnen? Sein Mund näherte sich wieder ihrer Mitte und sie konnte spüren, wie sein Atem gegen die Stelle schlug, wo eben noch seine Zunge gewesen war.

„Mistkerl.“

„Aber, aber, Zissy. Das war eine ganz einfache Frage. Kein Grund, mich zu beleidigen.“ Er leckte einmal kurz und fest über den Punkt und ließ dann wieder von ihr ab.

„Geh weg!“

„Willst du das wirklich?“

„Ja! Ich kann das auch selbst zu Ende bringen.“ Sie war kein Tier im Käfig, das man mit einem Stück Fleisch reizen oder mit einem Peitschenhieb bestrafen konnte. Sicher, manchmal gefiel es ihr, wenn er seinen Willen durchsetzte, aber überrascht und gequält zu werden, das waren zwei grundverschiedene Dinge.

„Aber das ist doch nicht dasselbe.“ Erneut spürte sie seine Zunge und diesmal machte er sich nicht so schnell von ihr los. Sie spürte, dass es sich nur noch um Sekunden handeln konnte, bis sie kommen würde, doch leider war ihm das ebenfalls klar. Er löste sich wieder von ihr und sah zu ihr auf. „Willst du es mir nicht einfach erzählen?“

„Ich war an einem Ort, den Rabastan mir mal gezeigt hat. Kein richtiger Ort, ein Nicht-Ort, nur ein Fleck in der Landschaft. Noch bevor Shacklebolt bei uns war und sich dagegen ausgesprochen hat, dass wir disapparieren. Rabastan und Rodolphus haben Spuren hinterlassen. Sie waren dort und sind dann weiter disappariert, aber immer in kleinen Schritten… sie waren beide verletzt, du erinnerst dich? Sie hatten wohl Angst zu zersplittern, jedenfalls konnte ich ihrer Strecke ganz leicht folgen. Ich wusste die ganze Zeit über, wo sie sind. Es war gar nicht weit von uns. Ich musste nicht disapparieren, ich konnte fliegen.“ Sie spricht so schnell, die Wörter überschlagen sich fast und sie schnappt immer wieder nach Luft, weil seine Finger angefangen haben, sich kreisend zu bewegen.

„Und wo waren sie?“

„Ein Haus. Ein unbedeutendes Haus in einer Muggelsiedlung. Seit Monaten verlassen. Kurz vor dem Abriss.“

„Und was hast du getan?“

„Das weißt du doch.“ Sie keucht leise. „Du hast den Artikel doch gelesen.“

„Der Teufel liegt im Detail.“

„Du bist der Teufel!“ Er lacht, doch er gibt sich mit dem zufrieden, was sie gesagt hat und bringt zu Ende, was er angefangen hat. Als er sie schließlich nackt und glücklich zitternd in die Arme schließt, ist sie sogar irgendwie erleichtert. Sie wollte es ihm nicht sagen. Aber sie musste es doch irgendwem erzählen – und wem sollte sie sich anvertrauen, wenn nicht ihm? Wenn sie wirklich nach Askaban kommen sollte, dann war es wenigstens für etwas, das sie gerne getan hatte. Aus freien Stücken und mit Herzblut.

* * *



Am nächsten Morgen findet sie Draco erneut in der Küche vor. Er hat den „Tagespropheten“ vor sich ausgebreitet und sie entdeckt einen Marmeladenfleck quer über dem Gesicht von Kingsley Shacklebolt, den nicht sie verschuldet hat – und Lucius höchstwahrscheinlich auch nicht. Nach all den Jahren weiß sie nicht, ob er wirklich nicht gerne Marmelade isst oder ob er es nur lästig findet, etwas zu essen, das einem jedes zweite Hemd versaut.

„Guten Morgen, mein Schatz.“ Er sieht von einem Kommentar über die juristischen Reformen, verfasst von einem schwedischen Gastautor, der die britische Rechtsprechung mit dem skandinavischen Parlament vergleicht, auf. Sie hat den Text nur quergelesen und sich auf halber Strecke schon aufrichtig gelangweilt. Draco brummt und erkennt damit an, dass er sie wahrgenommen hat, ehe er seinen Blick wieder auf die dicht gedruckten Buchstaben richtet. „Es sind nur noch zwei Tage und wir haben noch gar nicht darüber gesprochen, was du an deinem Geburtstag machen möchtest. Oder was du dir wünscht?“

„Kein Geschwisterchen.“ Diese Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen – und wirkt doch eher unbedacht. Sie weiß überhaupt nicht, wie sie damit umgehen soll. Es ist brutal und sie ist erleichtert, als sie merkt, dass Draco bereits schuldbewusst aussieht. Und beschämt. „Sorry. Das ist mir jetzt so rausgerutscht.“

„Ist schon gut.“ Es war nicht gut – es war eine grobe Respektlosigkeit, eine absolute Unverschämtheit und außerdem auch noch über die Maße unangenehm. Sie wollte gar nicht darüber nachdenken, wie Lucius sich an ihrer Stelle verhalten hätte. Sie konnte es sich nicht vorstellen. „Also. Übermorgen. Was würdest du gerne tun?“

„Gar nichts.“

„Du kannst nicht gar nichts wollen.“

„Ich würde gerne mal für einen Tag hier raus. Aber das wird wohl kaum möglich sein.“ Mit einem Mal sieht er nicht nur niedergeschlagen aus, sondern fast schon resigniert. Kein Kind sollte so gucken können.

„Ich bin sicher, wenn wir Mr. Shacklebolt die Situation erklären, dann wird er nichts dagegen einzuwenden haben, wenn du ausnahmsweise das Grundstück verlässt. Wir sind hier ja nicht eingesperrt… du könntest Gregory besuchen! Du bist ewig nicht mehr bei ihm gewesen. Oder du könntest den Tag mit Pansy verbringen.“ Pansy zu erwähnen ist ein Schuss ins Blaue und ihr ist klar gewesen, dass er darauf patzig reagieren könnte, aber sie hat nicht damit gerechnet, dass er so abrupt aufstehen würde, dass der Stuhl mit einem Knall nach hinten umfiel.

„Du könntest mich auch einfach mal in Ruhe lassen! Das wäre ein super Geschenk!“

„Draco-“

„Lass mich!“ Sie hat ihre Hände automatisch nach ihm ausgestreckt, doch er ist von ihr zurückgewichen. Ohne sie wieder zu Wort kommen zu lassen, verlässt er die Küche. Sie hört die Treppenstufen. Nicht nach oben, sondern nach unten. Mit einem leisen Seufzen richtet sie den Stuhl auf und hofft, dass dieser Morgen keine Aussicht auf den Rest des Jahres gewesen ist.

Chapter 42: Vertigo

Chapter Text


42 – Vertigo



Es laugt sie aus, Draco in ihrem eigenen Zuhause aus dem Weg zu gehen. Nur wenige Stunden nach dem unrühmlichen Vorfall, den sie Lucius gegenüber nicht erwähnt hat, als er sich nach Dracos manischem Tun erkundigt hat, sind die ersten Möbel aus Dracos Kinderzimmer ans andere Ende des Hauses gewandert. Den Geräuschen zufolge hat er entschieden, mit seinem gesamten Zimmer umzuziehen. Über den Räumen im Erdgeschoss, in denen Abraxas Malfoy und zuletzt Rodolphus und Bellatrix residiert haben, ist ein Teil des Hauses, der kaum genutzt worden ist, seitdem sie hier lebt. Ganz beiläufig hat Lucius einmal erwähnt, dass seine Mutter sich dort gerne aufgehalten hat und aus diesem Grund hat sie entschieden, ebenda so selten wie möglich zu sein wie sie nur kann – und keine Veränderungen vorzunehmen. Im Gegensatz zu ihr weiß Draco natürlich nicht, was diese Räume Lucius bedeuten – und Lucius macht ihn nicht darauf aufmerksam, sondern lässt ihn tun und machen.

Als Draco Anstalten unternimmt, ein halbes Bücherregal auf einmal zu transportieren, kann sie nicht länger an sich halten und informiert Lucius, der im Wohnzimmer sitzt und ein einzelnes Buch in den Händen hält, über das Umzugsunternehmen. Sie schließt die Tür hinter sich, das Poltern entfernt sich in Richtung des Erdgeschosses.

„Willst du ihm nicht helfen?“

„Ich bezweifle, dass er meine Hilfe möchte.“ Lucius schenkt ihr ein schwaches Lächeln. Anders als sie macht er sich keine Illusionen darüber, dass Draco schon mal mehr von ihnen gehalten hat.

„Wenn es dich stört, dass er die Räumlichkeiten deiner Mutter auseinandernimmt, dann musst du ihm das sagen. Er würde es verstehen.“

„Es stört mich nicht.“ Es ist umwerfend, wie ehrlich er klingt, doch so ganz glauben kann sie ihm nicht. Sie setzt sich auf die Kante des Sofas, gleich neben seine ausgestreckten Beine. Er legt das Buch auf seiner Brust ab, ohne die Seite zu verschlagen. „Zissy, meine Mutter ist seit mehr als 25 Jahren tot. Ich habe sie sehr geliebt, aber wenn es verhindert, dass Draco auszieht, dann soll er von mir aus die Wände schwarz streichen und den Teppichboden herausreißen.“

„Ich bin noch nicht ganz überzeugt. Bist du sicher, dass du es ihm nicht eines Tages übelnehmen wirst? Nur weil du jetzt Verständnis dafür hast, dass er sich so aufführt…“

„Weißt du eigentlich, was früher in diesem Raum hier gewesen ist?“ Er macht eine ausladende Handbewegung, die das gesamte Wohnzimmer umfasst. Stumm schüttelt sie den Kopf. „Mein Großvater hat seinerzeit entschieden, dass er seine Familie nicht den ganzen Tag um sich haben kann und seine beiden Kinder in diesen Teil des Hauses verbannt. Weil mein Vater und seine Schwester ganz vernarrt ineinander waren und sich wunderbar verstanden haben, hat er schließlich aus purer Grausamkeit entschieden, dass mein Vater nur noch im Erdgeschoss sein darf. Damit er nicht auf dumme Gedanken kommt. Er war nicht einmal sieben Jahre alt, als sein Vater diesen Entschluss gefasst hat. Von diesem Tag an war er nie wieder allein mit seiner Schwester. Sie war nur ein Jahr jünger als er und sie haben sich darauf gefreut, zusammen nach Hogwarts gehen zu können. Eine Woche bevor ihr Brief kam, ist sie gestorben. Ein schlimmes Fieber. Das hier war ihr Krankenzimmer.“

„Das ist ja furchtbar.“

„Ja, es ist furchtbar. Und trotzdem hat mein Vater keine Einwände gehabt, als wir den Flügel mit diesem Zimmer für uns beansprucht haben. Er hat ihn uns sogar angeboten, weißt du noch? Xenophilius und ich haben zwar schon früher hier in diesem Teil unsere Kinderzimmer gehabt, aber als ich noch jünger war, ist die Tür zu genau diesem Raum immer verschlossen gewesen. Als du zum ersten Mal den Zauber ausgesprochen hast, der meinen Vater ausgeschlossen hat, bin ich fest davon ausgegangen, dass die Tür sich nicht öffnen lassen würde. Aber er hat sie geöffnet.“

„Und das heißt jetzt im Umkehrschluss, dass du… ich verstehe es nicht ganz.“

„Ich möchte einmal in meinem Leben wie mein Vater sein. Nein, ich möchte es noch ein bisschen besser machen. Es gibt immerhin keine Garantie dafür, dass Draco in dieses Haus zurückkommen wird, wenn er einmal raus ist. Also kann ich es nur befürworten, wenn er sich hier seine Nische sucht. Es ist auch sein Haus. Und das Haus ist groß genug.“ Hatte sie nicht immer geahnt, dass Draco und Lucius einander ein bisschen zu ähnlich waren? Den Beweis dafür, dass Lucius ihrer beider Kind besser verstand als sie, war er ihr immer schuldig geblieben. Doch es überraschte sie nicht im Mindesten, dass er nun besser mit Draco umzugehen wusste als sie.

„Du bist wundervoll.“Auf dem Flur kann sie Draco leise fluchen hören. Wahrscheinlich ist ihm etwas heruntergefallen. „Wir sollten ihm helfen.“ Lucius schüttelt bestimmt den Kopf, breitet seinen Arm aus und liest weiter, sobald sie ihren Kopf an seine Schulter gelehnt hat.

* * *



An seinem Geburtstag scheint Draco mit der Welt versöhnt. Als sie am Morgen in den Salon geht, um nach den Pflanzen zu sehen – und dabei die  heimliche Hoffnung hegt, dass es irgendein Anzeichen dafür gibt, dass Draco sie an seinem Geburtstag nicht wirklich ignorieren will – sitzt er draußen. Die Sonne scheint und er hat die Polster gefunden, die zu den Stühlen gehören, die unter dem Kirschbaum stehen, der seine rosaroten Blüten bereits verloren hat, aber immer noch sehr hübsch aussieht. Auf dem Tisch vor ihm stehen eine Tasse und ein kleiner Stapel Briefe.

Um ihn vorzuwarnen, klopft sie gegen den hölzernen Rahmen der Tür, die vom Salon in den Garten führt. Er sieht auf. Er lächelt. „Darf ich mich zu dir setzen?“

„Ja.“ Sie versucht, ihm nicht gleich den ganzen Arm abzureißen, wenn er ihr den kleinen Finger reicht, aber sie kann nicht einfach an ihm vorbeigehen, ohne ihn ganz kurz, fast schon hastig, an sich zu drücken. Es ist immerhin das erste Mal seit sieben Jahren, dass er an seinem Geburtstag bei ihr ist. In greifbarer Nähe.

„Sind das alles Glückwunschkarten?“ Sie zählt mindestens fünf verschiedene Umschläge. Seine Freunde haben an ihn gedacht.

„Ja… der veilchenfarbene Umschlag ist von deiner Großmutter.“

„Melania?“ Draco nickt und schiebt die Karte herüber. Sie ist auf den 5. Juni 1981 datiert worden. Ungläubig liest sie zweimal den kurzen Text und kann es doch nicht fassen, sodass sie schließlich halblaut vorliest. „Lieber Draco, noch kannst du zwar nicht lesen, aber ich glaube ganz fest daran, dass deine Eltern es dir schon bald beibringen werden. Ich wünsche dir von Herzen alles Glück der Welt zu deinem siebzehnten Geburtstag. Ich hoffe, ich habe bis zum heutigen Tag noch nicht den Verstand verloren, aber ganz sicher bin ich nicht. Seit einigen Tagen juckt mein Hinterkopf so merkwürdig, deswegen verfasse ich zur Sicherheit lieber einen vernünftigen Geburtstagsgruß, ehe ich meine Gedanken nicht mehr beisammen habe. Deine dich sicherlich liebende und schätzende Urgroßmutter Melania Black.“ Narzissa kann nicht anders als zu lauthals zu lachen. „Wo war dieser Brief letztes Jahr?“

„Keine Ahnung. Er steckte in einem größeren Umschlag, der von irgendeinem Notariat in Genf abgestempelt worden ist.“ Das ergab einigermaßen viel Sinn. Ihre Großmutter hatte nach dem Tod ihres Ehemannes vor rund sieben Jahren nichts mehr gehalten. Sie war auf große Wanderschaft gegangen, so hatte sie selbst es genannt, und dabei in den Schweizer Alpen gelandet. Vor vier Jahren war sie mit hellwachem und sauberem Verstand friedlich eingeschlafen. An einem herrlichen Sommertag. Draco hatte seine Urgroßeltern früher eher selten gesehen, doch er dürfte trotzdem die eine oder andere einschlägige Erinnerung an Melania Black haben. „War sie eine irrwitzige Person oder kam mir das nur so vor?“

„Doch… irrwitzig ist schon ein gutes Wort, um sie zu beschreiben. Irrwitzig und witzig noch dazu.“ Auf jeden Fall eine Vorfahrin, für die man sich nicht zu schämen brauchte. Ohne allzu neugierig zu wirken, betrachtete sie die anderen Umschläge. Auf einem schlichten, weißen Untergrund entdeckte sie die Handschrift von Gregory Goyle. „Bist du sicher, dass du heute niemanden besuchen möchtest?“

„Ganz sicher… allerdings kommt später ein Freund von mir her.“ Und da war er wieder. Dieser eisige Unterton, der ihr suggerierte, dass sie sich nicht einmischen sollte.

„Wie schön.“ Der Blick, den er ihr zuwirft, ist nicht als lauernd. Er glaubt nicht daran, dass sie sich zusammenreißen kann, doch da kennt er sie schlecht. Da unterschätzt er ihre Erziehung aber ganz gehörig. Eine Dame hat niemals eine neugierige Nase. „Hast du schon gefrühstückt?“

„Ja.“ Wenn er so perplex ist, dann wird er um Jahre jünger. Als sie die Karte von Melania zurück in den Umschlag steckt und Anstalten macht, aufzustehen, da öffnet er fragend den Mund und schließt ihn wieder.

Ungehindert dreht sie ihre Runde durch den Garten, sieht nach den Blumen, zupft hier und da ein bisschen Unkraut aus und gießt die Pflanzen, die durstig aussehen. Als sie zurück zum Haus geht, hat Draco seinen Platz nicht verlassen und seine Mimik ist wieder sehr kontrolliert. Nur in seinen Augen, da kann sie noch genau erkennen, wie wenig er damit leben kann, dass sie nicht danach gefragt hat, wer ihn später besuchen wird.

Um nicht in Versuchung zu geraten, verbringt sie den ganzen Tag im Haus und verlässt das obere Stockwerk nicht. Außerdem hält sie Lucius, der gegen Mittag vorschlägt, dass sie ja einen Spaziergang machen könnten, ebenfalls davon ab, nach unten zu gehen. Er verdreht die Augen, doch er fügt sich ihrem Wunsch und unterstützt sie sogar bei dem einen oder anderen Kreuzworträtsel, das sie akribisch löst, um ja keine Langeweile aufkommen zu lassen.

Gegen sieben Uhr abends steht Draco dann im Wohnzimmer und sieht skeptisch dabei zu, wie sie sich an einem Zahlenrätsel versucht. Lucius hat sich längst von diesem Wahnsinn verabschiedet und ist in seinem alten Büro verschwunden. Dort wird er sich auch ein wenig langweilen, doch wenigstens haben die Wände eine andere Farbe. Dracos skeptischer Gesichtsausdruck kann nur ein wenig davon ablenken, dass seine Wangen gerötet sind und seine Augen glänzen, als hätte er Fieber. Oder als wäre er gerade erst aus dem siebten Himmel zurückgekehrt.

„Essen wir heute nicht zusammen?“

„Doch, wenn du das willst, dann essen wir zusammen.“

„Astoria war hier.“ Um ihn nicht zu kränken oder ihm das Gefühl zu geben, dass er und sein Nervenkostüm hier eine ernsthafte Niederlage erlitten haben, verkneift sie sich ein Lachen. Sie lächelt nicht einmal, sondern sieht ihn nur aufmerksam an. „Du hättest ja sowieso noch gefragt.“ Das hätte sie nicht getan, aber nun, wo er das forcierte Schweigen zuerst nicht ausgehalten hatte, konnte sie auch ein wenig nachgeben.

„Astoria und weiter?“

„Greengrass.“ Astoria Greengrass. Mit diesem Namen verbindet sie rein gar nichts. Sie ist sich ganz sicher, dass Draco dieses Mädchen noch nie erwähnt hat. Es ist allerdings mehr als nur wahrscheinlich, dass Astoria und Daphne Greengrass miteinander verwandt sind. Schwestern oder mindestens Cousinen.

„Ich wusste gar nicht, dass du einen Freund namens Astoria Greengrass hast.“ Dieser Satz klingt ganz falsch, doch schließlich hat Draco selbst ja auch von „einem Freund“ gesprochen, dementsprechend wird sie diese Ausdrucksweise übernehmen. „Möchte sie mit uns essen?“

„Nein, sie musste nach Hause. Ihre Eltern… erwarten sie zum Abendessen.“

„Sollte sie uns in Zukunft häufiger besuchen, dann stell sie deinem Vater und mir doch kurz vor. Alles andere wäre unhöflich. Ich hatte für mein Leben genug Fremde in diesem Haus.“ Er zuckt zusammen. Vielleicht, weil er nicht erwartet hat, dass sie so streng klingen würde. Oder weil sie darauf verzichtet, ihm weitere Fragen zu stellen.

„Bist du sauer auf mich?“

„Nein, Draco, ich bin nicht sauer auf dich.“ Es fällt ihr seltsam leicht, ganz gelassen zu klingen. So gelassen, so teilnahmslos kennt er sie nicht und er schleicht sich an sie heran und setzt sich schließlich neben sie auf das Sofa.

„Es tut mir leid, dass ich dich so angefahren habe. Ich wollte nicht… ich war einfach wütend. Aber nicht auf dich. Es ist einfach… es ist alles so merkwürdig. Und du tust manchmal so, als wäre alles in bester Ordnung und das regt mich dann auf.“

„Mir ist sehr wohl bewusst, dass nicht alles in bester Ordnung ist. Aber es könnte alles so viel schlimmer sein. Wir hatten sehr viel Glück. Auch wenn deinem Vater ein Prozess gemacht wird und unser Leben ganz sicher nicht wieder so unbeschwert und unkompliziert wie vor vier Jahren sein wird. Wir hatten Glück. Und ich versuche nur, dich daran zu erinnern. Ich will nicht, dass du den Mut verlierst oder denkst, dein Leben wäre vorbei.“

„Das denke ich ja gar nicht.“

„Gut, denn das ist es nicht. Alles wird sich fügen.“ Sie greift nach seiner Hand und drückt sie. Er drückt fest zurück. „Und jetzt sag schon, wann hast du dich mit Astoria angefreundet? Und warum hast du bisher nie von ihr gesprochen?“ Wer ist sie, ihm simple Erlösung zu verwehren? Sie ist die Mutter. Es ist ihre Aufgabe, solche Fragen zu stellen, damit er sagen kann, was er sagen will, ehe er ein Magengeschwür bekommt.

„Also eigentlich sind wir gar nicht so richtig befreundet… das wäre wohl übertrieben. Aber sie hat mir einen Brief geschrieben… wir haben ab und zu mal miteinander gesprochen und sie weiß wahrscheinlich wegen Daphne, wann ich Geburtstag habe.“ Draco macht eine kurze Pause. „Sie ist Daphnes kleine Schwester.“ Daphne Greengrass ist ein Name ohne ein Gesicht. Ab und an hat Draco sie in Nebensätzen erwähnt und sie weiß, dass der Sohn von Gerald Nott seit einigen Jahren sehr vernarrt in dieses Mädchen ist. Das hat sie sich gemerkt, weil sie an Samara, die Verschollene, und Viktor Nott denken musste. Es ist noch nicht einmal zwei Jahre her, dass Viktor verstorben ist. Eine hässliche Begegnung mit Alastor Moody hat ihn ein Bein gekostet, doch Viktor, der Stoiker, war mit einem hölzernen Bein aus dem St. Mungo Hospital zurückgekehrt. Bei einem weiteren Aufeinandertreffen mit dem Auror hatte er die Kontrolle über seinen Besen verloren und war gegen eine Mauer geflogen. Wenigstens war das die schmucklose Version der Ereignisse, die Lucius ihr dargeboten hatte.

„Es ist sehr nett, dass sie heute an dich gedacht hat, wenn ihr euch gar nicht so gut kennt. Das klingt nach einem aufmerksamen Mädchen.“

„Ja… sie ist wirklich sehr klug für ihr Alter.“ Draco biss sich auf die Lippe, als würde er diese Bemerkung am liebsten wieder zurücknehmen.

„Wie alt ist sie denn?“

„Vierzehn. Aber sie wird in drei Wochen fünfzehn… nächstes Jahr macht sie ihre ZAGs.“ Vierzehn. Fast fünfzehn. Das waren drei Jahre – und in Dracos Alter waren drei Jahre doch ganz schön viel. In Hogwarts wäre es für sie in der vierten Klasse undenkbar gewesen, sich mit einem Siebtklässler anzufreunden. Oder mit einem Erstklässler. Da konnte der Volksmund noch so sehr behaupten, dass Mädchen Jungen in diesem Alter drei Jahre voraus waren. Was die körperliche Entwicklung betraf, so mochte das vielleicht irgendwo noch richtig sein, aber es machte doch einen gewaltigen Unterschied, ob man seine ZAG-Prüfungen noch vor sich hatte oder rein theoretisch mit seinem Abschlussjahr durch war. „Guck mich bitte nicht so an.“

„Wie gucke ich denn?“

„Als wäre ich irgendwie pervers oder so.“ Das war ein Wort, das sie in ihrem ganzen Leben wahrscheinlich noch nie gebraucht hatte – nicht einmal besonders häufig gedacht hatte sie es. Und schon gar nicht im Zusammenhang mit Draco. „Wir sind wirklich nur Freunde. Also ich hoffe, dass wir Freunde sein können.“

„Selbst wenn ihr eines Tages mehr als Freunde sein solltet, das wäre keine Tragödie. Drei Jahre sind kein Weltuntergang, auch wenn dir das gerade jetzt viel vorkommt. Und mir auch.“ Und Astoria Greengrass sicherlich auch. „Erinnerst du dich noch an Gregorys Mutter?“

„Diana?“ Er fühlte sich sichtlich seltsam dabei, diesen Namen laut auszusprechen, denn sobald Emma auf der Bildfläche erschienen und Draco nach Hogwarts gekommen ist, waren aus Erwin und Emma nur „Mr. und Mrs. Goyle“ geworden. Vornamenlose Gestalten. Gregory seinerseits vermied jede Anrede, wenn es um Lucius ging, doch irgendwie war es ihm gelungen, sie nicht in „Mrs. Malfoy“ zu verwandeln.

„Genau, Diana. Sie ist dreizehn Jahre jünger gewesen als Erwin. Als er vierzehn gewesen ist, konnte sie vermutlich noch nicht einmal sprechen. Trotzdem kamen mir die beiden immer sehr glücklich vor.“ Auch wenn sie anfangs oft darüber nachgedacht hatte, ob Dianas Leben nicht anders hätte verlaufen sollen. Sie waren zwar im selben Alter zu Müttern geworden, aber sie hatte doch irgendwie immer den Eindruck gehabt, dass Diana schneller erwachsen geworden war. Weniger aus sich gemacht hatte. Doch die andere Seite der Medaille war natürlich Gregory. Wenn Diana sich damals für einen anderen Mann entschieden hätte, dann gäbe es keinen Gregory – und das wäre auch tragisch.

„Danke, Mum.“

„Wofür dankst du mir denn jetzt?“

„Einfach nur so.“

„Okay, dann… gern geschehen.“

* * *



Fünf Tage nach Dracos Geburtstag, am 10. Juni 1998, wurde das erste Urteil über einen Träger des dunklen Mals gefällt. Man hatte mehrere Prozesse gleichzeitig eröffnet, weil man offenbar darauf setzte, dass sich die Angeklagten nur dann authentisch verhalten würden, wenn sie nicht wüssten, wie sich andere Angeklagte verhielten – und wie dieses Verhalten von dem Zaubergamot bewertet wurde. Es war also allgemeinhin damit gerechnet worden, dass die Prozesse noch ein wenig länger parallel verlaufen würden, damit niemand wusste, mit welcher Schärfe die Urteile verhangen wurden, doch im Fall von Fenrir Greyback schien klar zu sein, welches Zeichen man setzen wollte.

Fenrir Greyback, der streng genommen überhaupt kein Todesser, sondern lediglich ein treuer Untergebener von Lord Voldemort gewesen war, wurde zu einer lebenslangen Haftstrafe in Askaban verurteilt. Die Begründung dafür lag auf der Hand und wurde von einer reißerischen Autorin der „Hexenwoche“ in ähnliche Worte gekleidet wie von der Redaktion des höchst seriösen Magazins mit dem Namen „Spektrum Zaubergamot“, das für gewöhnlich nur Juristen oder – so Narzissas bescheidene Meinung – Freaks lasen, die sich für jede noch so kleine Entwicklung der Rechtslage interessierten. Lucius war Abonnent dieses Magazins seit seinem fünfzehnten Lebensjahr und hatte es nicht einmal abbestellt, als er selbst zum ersten Mal vor dem magischen Gericht gestanden hatte. Fenrir Greyback war eine Gefahr für sich selbst und für andere. Nicht nur aufgrund seiner „politischen Gesinnung“ und seiner „Weltanschauung“, sondern auch deshalb, weil er im Laufe seines Lebens so viele unschuldige Kinder gebissen und mit dem Werwolffluch infiziert hatte. Nichts und niemand sprach sich dafür aus, dass Greyback diese Strafe möglicherweise nicht verdient hatte. Das Urteil schien gerecht. Die Begründung schien gut. Und doch blieb Narzissa nervös.

Lucius war zwei Tage vor diesem Urteil zum ersten Mal vor den Zaubergamot gerufen worden. Obwohl sie darum gebeten hatte, der Verhandlung beiwohnen zu dürfen, hatte man sie vor den geschlossenen Türen über eine Stunde warten lassen. Es waren offizielle Schreiben eingegangen, in denen man ihnen mitteilte, dass Draco und sie vorerst nicht als Zeugen befragt werden würden. Man wollte den Fokus zunächst auf Lucius legen, stellvertretend für ihre Familie. Narzissa wusste nicht, was sie von dieser patriarchalisch anmutenden Vorgehensweise halten sollte, doch sie erhob keine Einwände. Um keinen Preis wollte sie es verschulden, dass man Draco am Ende doch vor den Zaubergamot stellen würde. Diese Erfahrung sollte er nicht machen, nur weil sie wissen wollte, wie es bei der Verhandlung zuging.

Am 23. Juni wartete sie über fünf Stunden vor geschlossenen Türen. Sie erlebte sogar einen Wechsel der Sicherheitskräfte des Ministeriums. Man brachte ihr einen Stuhl. Nach drei Stunden bat sie um Stift und Papier. Zum ersten Mal seit 25 Jahren schrieb sie einen Brief an Andromeda und war sich sicher, dass sie ihn auch abschicken würde.

Chapter 43: Ein Vierteljahrhundert später

Chapter Text


43 – Ein Vierteljahrhundert später



Andromeda war dieselbe geblieben und doch war sie eine Fremde. In ihrem Gesicht waren Spuren des Alterns zu erkennen, doch ihre Haare waren immer noch lang und pechschwarz. Auch ihre Haltung war immer noch dieselbe. Beinahe eine Woche lang hatte Narzissa auf eine Antwort gewartet und als schließlich der fremde Kauz in ihrer Küche gelandet war, da kam es ihr doch zu einfach vor. Einfach einen Ort und eine Zeit zu nennen und sich an die vereinbarte Verabredung zu halten und ihre Schwester dann wirklich zu sehen, das schien ihr zu simpel, doch Andromeda war da. Ihre Schwester hatte ihr die Tür eines kleinen, unauffälligen Hauses mit einem großen Garten am Ende einer Straße geöffnet, in der alle Häuser verschieden aussahen und doch nicht besonders auffielen. Es war ein Ort, an dem jeder Zaunpfahl, jeder Rosenbusch, jede Briefkasten nach Normalität schrie. Beinahe vor jedem der Häuser stand ein Auto, auch vor dem Haus mit der Nummer 23, in dem wohl ihre Schwester lebte. Auf dem Briefkasten, der gleich neben einem Gartentörchen angebracht war, das so niedrig war, dass sie einfach so hätte darüber steigen können, stand der Name Tonks.

Es gab kein Protokoll, keine allgemein anerkannte Benimmregel dafür, wie man seiner eigenen Schwester nach einem Vierteljahrhundert des Stillstands begegnete. Sie war froh, dass Andromeda kurzen Prozess machte und sie in eine hastige Umarmung zog. Es war herzlich, aber nicht verlogen, denn Andromeda ließ sie nach wenigen Sekunden los.

„Es ist schön, dich zu sehen.“ Das war eine steile These, doch in ihren eigenen Ohren klang ihre Stimme aufrichtig. Ein winziges, kaum sichtbares Lächeln erschien auf Andromedas Gesicht.

„Ich habe mich über deinen Brief gefreut. Es war unerwartet, von dir zu hören.“ Nach all der Zeit. Es hatte Narzissa nie ganz losgelassen, dass sie sich nicht an die letzten Worte erinnern konnte, die Andromeda und sie miteinander gewechselt hatten. Sie nahm sich vor, diesmal aufmerksamer zu sein. Ein bisschen Ruhe vor dem Sommer, darum hatte Andromeda sie gebeten. Nicht um 25 Sommer des Schweigens. „Bitte, komm rein. Das Wohnzimmer ist geradeaus. Ich habe uns Tee gekocht.“

Andromeda ließ ihr den Vortritt und sie versuchte, sich nicht allzu auffällig umzugucken, während sie den schmalen Flur entlang in Richtung des Wohnzimmers ging. An den Wänden hingen zahlreiche gerahmte Photographien, einige von ihnen waren beweglich, andere starr, mit einer Muggelkamera aufgenommen. Sie erkannte Nymphadora Tonks mit verschiedenen Haarfarben und ausgefallenen Nasen, doch stets mit einem Lächeln auf den Lippen. Vor einem Bild, das Nymphadora Tonks zusammen mit Remus Lupin zeigte, einem Schulfreund von Sirius, der in Dracos drittem Schuljahr der Professor für Verteidigung gegen die dunklen Künste gewesen war, stockte sie. Nymphadora, ihre Nichte, hielt ein strahlendes Baby mit gelben, nicht blonden, sondern gelben Haaren in den Armen. Sie hatte gewusst, dass Nymphadora geheiratet hatte, das war irgendwann bekannt geworden, doch ihr war nicht klar gewesen, dass sie ein Baby bekommen hatte.

Ganz sicher war Andromeda ihre Reaktion auf das Bild nicht entgangen, doch sie sagte nichts, sondern folgte Narzissa wie ein Schatten. Das Wohnzimmer war ein kleiner, geschmackvoll eingerichteter Raum. Es gab ein Sofa und zwei Sessel, die vor einem Kamin standen. Narzissa nahm in einem der Sessel Platz, Andromeda setzte sich ihr gegenüber auf das Sofa.

„Wie geht es Ted?“ Als sie sah, wie das halbwegs freundliche Gesicht ihrer Schwester in sich zusammenfiel, wurde ihr klar, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Einen schrecklichen Fehler, den sie nicht mehr zurücknehmen konnte.

„Er ist verstorben. Anfang des Jahres.“ Es erstaunte sie, wie ruhig Andromeda klang. Schon in ihrer Kindheit hatte Andromeda eine außerordentliche Selbstbeherrschung gehabt. Ein Tobsuchtsanfall von Andromeda war eine Rarität gewesen. Es brauchte viel, damit sie die Stimme hob. Deswegen hatte es nichts zu bedeuten, dass sie Narzissa nicht anbrüllte, sondern ganz normal klang. Sie konnte trotzdem stinksauer sein. „Du musst davon gewusst haben.“

„Nein, ich hätte… ich hätte nie so eine Frage gestellt, wenn ich das gewusst hätte. Es tut mir wirklich sehr leid.“ Ihr war natürlich bewusst gewesen, dass ihre Schwester gerade erst ihre Tochter verloren hatte. Mit einigem Widerwillen hatte Lucius ihr bestätigt, dass Nymphadora nicht einfach nur durch einen der Flüche, die durch die Große Halle gejagt waren, unglücklich getroffen worden, sondern von Bellatrix höchstpersönlich hingerichtet worden war. Gemeinsam mit Remus Lupin. Doch Lucius, dem sie noch nicht erzählt hatte, dass sie sich mit Andromeda traf, hatte nie ein Wort darüber verloren, dass Edward Tonks gestorben war. Es war natürlich denkbar, dass er schwer krank gewesen war, doch ihre Schwester sah nicht aus wie eine Witwe, die ihren Ehemann durch höhere Mächte verloren hatte. „Ich hatte wirklich keine Ahnung.“

„Sie haben ihn gejagt. Diese… Greifer. Im Herbst sind sie in unser Haus eingefallen. Es war mitten in der Nacht, plötzlich waren sie da. Ich dachte erst, es wären gewöhnliche Landstreicher, das kommt ja schließlich vor, aber dann habe ich ihre Zauberstäbe gesehen. Es waren keine besonders guten Zauberer, ich konnte sie abwehren, aber Ted hat entschieden, dass er untertauchen muss. Ich bin geblieben… denn mal ehrlich, was hätten sie mir schon tun können? Außerdem hat Dora mich gebraucht.“ Ihre Schwester schließt die Augen und atmet geräuschvoll ein und aus. „Ich weiß nicht einmal, wann genau er gestorben ist. Nach Neujahr kamen plötzlich keine Briefe mehr. Erst vor wenigen Wochen habe ich dann erfahren, dass sie ihn erwischt haben. Ein Zauberer, mit dem er einige Wochen zusammen unterwegs war, konnte entkommen und war so umsichtig, mich aufzusuchen.“

„Das ist eine furchtbare Geschichte. Ich… ich weiß nicht, was ich sagen soll.“

„Der Tee müsste jetzt soweit abgekühlt sein, dass du ihn trinken kannst.“ Es war so typisch für ihre Schwester, sich nicht von ihr bemitleiden zu lassen, dass sie beinahe darüber hätte lachen können. Wenn die Rahmenbedingungen nicht so traurig gewesen wären. Sie nippt an dem Tee, der wirklich eine gute Temperatur hat und nach Zimt schmeckt. „Wie kann es sein, dass du nichts davon wusstest? Du hast dich doch nie von Lucius getrennt, oder?“

„Nein, wir leben immer noch zusammen.“ Das war keine ganz passende Antwort auf die gestellte Frage und Narzissa erinnerte sich, dass Andromeda solche vagen Auskünfte noch nie zu schätzen gewusst hatte. „Wir sind auch noch immer zusammen, daran hat sich zwischenzeitlich nie etwas geändert. Mir war auch bewusst, dass es Greifer gibt, die seit letztem Jahr Jagd auf Muggelstämmige und Squibs gemacht haben, aber ich habe nie davon gehört, dass Ted auf der Flucht gewesen wäre. Vielleicht habe ich es auch überhört. Ich habe viele Dinge überhört und übersehen.“

„Andernfalls hättest du wohl auch den Verstand verlieren müssen.“ Andromeda presst die Lippen aufeinander. „Ich weiß, dass du nie wie Bellatrix gewesen bist. Zumindest habe ich immer gehofft, dass ihr euch im Alter nicht ähnlicher geworden seid.“

„Das sind wir nicht.“

„Ich weiß auch, was du für Harry Potter getan hast.“ Mit dieser Bemerkung hatte sie nicht gerechnet. „Remus, mein Schwiegersohn, hat Harry sehr nah gestanden. Dora und er haben Harry darum gebeten, der Pate für ihren Sohn zu werden. Du hast ihn auf dem Bild im Flur gesehen. Er ist im April geboren… Dora hat seit November bei mir gelebt, Teddy ist hier zur Welt gekommen. Er schläft im Nebenzimmer… wir wissen nicht, wie es mit ihm weitergehen soll, rein rechtlich gesehen ist Harry sein Vormund, aber er ist selbst fast noch ein Kind. Er ist zwar eine große Hilfe und er kommt oft vorbei, um mich zu unterstützen, aber in seinem Leben gibt es gerade kaum eine ruhige Minute… und mir tut Teddys Gesellschaft gut. So habe ich einen Grund, um jeden Tag aufzustehen und mich nicht gehen zu lassen.“ Es ist vielleicht das erste Mal, dass Andromeda ihr direkt in die Augen sieht. „Wer weiß, wo wir jetzt wären, wenn es dich nicht gäbe. Wenn Bellatrix diejenige gewesen wäre, die nach Harry gesehen hätte.“

„Ich erinnere mich kaum an die Nacht. Es war alles so… es war ein einziges Chaos.“

„Harry erinnert sich. Er weiß, dass du es nicht in erster Linie für ihn getan hast, sondern für dich, für deinen Sohn, aber irgendwann hat er dich trotzdem versehentlich als eine Heldin bezeichnet.“

„Das bin ich ganz bestimmt nicht.“

„Stimmt, bist du nicht. Aber du bist eine gute Mutter.“ Andromeda rutscht auf dem Sofa herum und überschlägt ihre Beine. „Und deswegen möchte ich dich um etwas bitten. Es steht dir absolut frei, dich zu verweigern. Es ist bislang auch eher eine fixe Idee.“

„Ich höre.“

„Minerva McGonagall hat mir einen Brief geschrieben. Nur einen Tag nach dir. Das neue Schuljahr soll in Hogwarts wie eh und je am ersten September beginnen. Natürlich sind, besonders nach dem letzten Jahr, einige radikale Veränderungen notwendig. Eine dieser Veränderungen könnte ich sein. Wie du wahrscheinlich weißt, wurde seit den 1980ern in jedem Jahr eine neue Lehrkraft für Verteidigung gegen die dunklen Künste gesucht. Professor McGonagall zufolge gab es sogar Wetten, ob irgendjemand jemals länger als ein Jahr lang auf dem Posten bleiben würde. Sie hat mir die Stelle angeboten. Außerdem hat sie ausdrücklich betont, dass sie ein richtiges Konzept für den Unterricht möchte. Für alle Jahrgangsstufen, aber besonders für diejenigen, die im letzten Jahr eigentlich ihren Abschluss hätten machen sollen und die in diesem Jahr in die siebte Klasse kommen. Momentan sieht es wohl danach aus, als würde es einen doppelten Jahrgang geben, zumindest hofft Professor McGonagall, dass viele der „alten“ Siebtklässler nach Hogwarts zurückkommen werden.“ Andromeda legt eine kleine Pause ein und Narzissa weiß, dass die nächsten Worte entscheidend sein werden. „Ich würde diese Stelle gerne annehmen. Ich würde gerne etwas dazu beitragen, dass mit den Ereignissen des letzten Jahres, ach was, mit den letzten Jahrzehnten, so umgegangen wird, dass diejenigen, die gerade dabei sind, erwachsen zu werden, eine Chance haben, zu begreifen, was eigentlich passiert ist. Die Ausmaße haben wir alle ignoriert. Wir alle haben immer so getan, als wäre es möglich, ein Leben zu leben und dabei zu ignorieren, was um uns herum passiert. Aber das ist eine Illusion, das weißt du wohl besser als die meisten.“

„Es ist eine Illusion.“ Jedes Wort von Andromeda war so wahr, dass es ihr beinah körperliche Schmerzen bereitete.

„Ich möchte nach Hogwarts gehen, ich möchte unterrichten… du weißt es vermutlich nicht, warum solltest du es wissen, aber ich habe Verteidigung gegen die dunklen Künste studiert. Ich habe auch eine Weile unterrichtet, allerdings nie an einer Schule oder einem College oder so etwas, immer nur im privaten Rahmen. Das würde ich gerne ändern. Aber ich kann es nicht verantworten, dass Teddy in eine Pflegefamilie kommt oder dass Harry sein Leben sortieren und sich dabei um ein Baby kümmern muss. Ich weiß, dass ich viel von dir verlange, aber ich hätte ein gutes Gefühl, wenn Teddy bei dir wäre. Wir haben uns zwar so lange nicht gesprochen und vielleicht sind wir einander fremd geworden, aber du bist immer noch meine Schwester. Und du bist eine gute Mutter.“ Wenn Narzissa eben noch gedacht hat, dass es ihr an Worten fehlen würde, dann fehlt es ihr jetzt nicht nur ihrer Fähigkeit zu sprechen, sondern beinah auch an ihrer Fähigkeit zu atmen. „Es wäre nicht für immer. Womöglich wäre es nur für ein Jahr… vielleicht scheitert das Konzept des Unterrichts auch. Oder Professor McGonagall findet noch jemanden, der geeigneter ist. Aber ich wollte dich gefragt haben.“

„Ja. Die Antwort lautet Ja. Ich… ich will dir helfen. So gut ich kann.“

„Was wird Lucius davon halten?“

„Das werde ich heute Abend herausfinden.“

„Gut, frag ihn erst. Ich möchte nicht, dass Teddy bei jemandem leben muss, der ihn nicht haben möchte, nicht einmal, wenn es nur wenige Tage oder Wochen sind. Aber falls, nur falls Lucius und du das tun würdet, dann würde ich mir wünschen, dass ihr ihn kennenlernt. Bis zum ersten September.“ Zum zweiten Mal geraten die Mundwinkel ihrer Schwester in Bewegung und diesmal ist es fast ein richtiges Lächeln. „Dich würde ich auch gerne kennenlernen. Ich war einige Jahre lang sehr wütend, weil du mir nie geschrieben hast. Aber ich weiß nicht, ob ich mich an deiner Stelle bei mir gemeldet hätte.“

„Du hast mir gefehlt. Und ich habe dir geschrieben. Dutzende Briefe. Aber ich hab sie nie abgeschickt.“ Ihr entfährt ein verlegenes Räuspern. „Hast du mit Harry Potter darüber gesprochen, dass Lucius und ich Teddy aufnehmen sollen?“

„Ja, das habe ich.“

„Und er ist damit einverstanden? Obwohl… also ich weiß nicht, ob er es dir gegenüber einmal erwähnt hat, aber Draco und er hatten ein sehr schwieriges Verhältnis. Ich weiß nicht, ob sie einander wirklich nicht ausstehen können, aber Draco hat kein gutes Haar an ihm gelassen. Und die wenigen Male, die ich Harry Potter gesehen habe, war er auch… eher negativ eingestellt.“ Aber dann hatte Draco für ihn gelogen. Für drei seiner ungeliebten Mitschüler hatte er gelogen, als eine Bande Greifer mit Harry Potter und seinen Freunden in Malfoy Manor gelandet war. Seit dem Osterfest hielt Draco an der Behauptung fest, dass er eine Sehhilfe benötigte und sie hatte den Gang zum Optiker aufgeschoben, weil sie sich doch sehr sicher war, dass es verschwendete Zeit wäre.

„Er ist damit einverstanden. Professor McGonagall hält es auch für eine gute Idee. Und… es ist alles noch nicht spruchreif, aber du könntest auch darüber hinaus eine Hilfe sein. Professor McGonagall und Kingsley, also Mr. Shacklebolt, und ich wollen uns in der nächsten Woche zusammensetzen, um über einen möglichen Aufbau des Unterrichts zu sprechen. Wir waren uns einig, dass es sinnvoll wäre, wenn wir den Schülern echte Quellen bieten könnten. Also nicht nur Zeitungsartikel oder irgendwelche Geschichtsbücher, sondern… Briefe. Tagebücher. All so etwas. Ich weiß, dass du den Nachlass von Bellatrix und den Lestranges verwaltest. Und die Sachen von Regulus und unserer Familie. Ich habe mit Kingsley darüber gesprochen und… nun ja, ich denke, du weißt, worauf ich hinauswill. Es kann nicht der Sinn von so einer Unterrichtsreihe sein, dass die Kinder ihren Abschluss machen und nach wie vor daran glauben, dass jedes gedruckte Wort wahr ist und alle Todesser, am besten gleich alle reinblütigen Zauberer, Monster sind. Es wäre sicher hilfreich, wenn man mehr über Bellatrix wissen würde als das, was in den Zeitungen steht.“

„Du musst sie hassen.“

„Ich hasse sie. Ich habe sehr früh damit angefangen, sie zu hassen und ich habe vielleicht bis heute nicht damit aufgehört. Aber es hat keinen Zweck, sie zu hassen. Sie ist tot. Es ist sinnlos, ihr gegenüber noch irgendwelche Gefühle zu hegen. Aber ihr Leben kann noch einen Zweck haben. Sie kann ein Beispiel sein. Dank ihr könnte irgendjemand verstehen, welche Macht Tom Riddle über Jahrzehnte entwickelt hat.“ Andromedas Lächeln ist verschwunden, sobald sie Bellas Namen in den Mund genommen hat, doch nun wird ihre Miene wieder etwas weicher. „Entschuldige, ich neige neuerdings zum Monologisieren… ich habe wohl zu wenig Gesellschaft. Mir tun die Kinder jetzt schon leid, die mir stundenlang zuhören müssen.“

„Ich höre dir gerne zu. Und ich will dir helfen. Wirklich. Allerdings… ich weiß nicht, ob das wirklich alles so leicht funktionieren kann. Der Prozess von Lucius hat gerade erst angefangen und vorgestern sind Draco und ich zum ersten Mal in den Zeugenstand gerufen worden. Mr. Shacklebolt hat uns zwar versichert, dass es keinen eigenen Prozess gegen Draco oder mich geben wird, aber sehr viel mehr konnte er nicht sagen, ehe es kein endgültiges Urteil gibt. Es kann gut sein, dass wir nicht nur in Lucius' Prozess aussagen müssen, sondern auch für andere… Personen.“

„Andere Todesser, meinst du.“

„Ja, das meine ich. Der dunkle… also Lord Voldemort hat bei uns gelebt. Oder sagen wir, er hat residiert. In den letzten Monaten sind bei uns so viele Todesser ein- und ausgegangen und viele von ihnen werden jetzt vor den Zaubergamot gerufen. Viele von ihnen haben keine Familie und es gibt keine Zeugen, die Auskunft über ihr Leben geben können. Es gab auch viele Versammlungen und all so etwas… in unserem Haus sind Menschen gestorben. Dort waren Menschen gefangen und alles… alles wird besprochen. Diesmal lässt das Ministerium keinen Stein auf dem anderen und das ist ja auch nur richtig so, aber ich weiß nicht, wie es aussehen würde, wenn ich mich außerhalb des Gamotsaals mit Kingsley Shacklebolt treffen würde. Das wäre eine Grenzüberschreitung.“

„Ich werde Kingsley über deine Bedenken in Kenntnis setzen.“

„Du teilst meine Bedenken also nicht?“

„Man kann vielleicht nicht pauschal sagen, dass Grenzen dazu da sind, um überschritten zu werden – ebenso wie Regel nicht gemacht werden, um gebrochen zu werden, aber in diesem Fall… ich weiß nicht, wie der Prozess von Lucius verlaufen wird. Darüber haben Kingsley und ich nicht gesprochen. Aber als ich erwähnt habe, dass ich dich treffe und dass ich dich eventuell darum bitten möchte, Material für den Unterricht beizusteuern und uns möglicherweise auch mit der Planung zu unterstützen, da hat er nicht gesagt, dass es eine schlechte Idee sei. Und Kingsley ist ein Mann, der nicht damit hinterm Berg hält, wenn er etwas für eine schlechte Idee hält.“

„Ihr kennt euch schon lange?“

„Dora wurde von ihm und Alastor Moody ausgebildet. Und durch den Orden des Phönix' habe ich ihn besser kennengelernt… ich habe mich nie so richtig eingemischt. Genau wie du. Und ich bereue nicht, dass ich so zurückgezogen gelebt habe, ich hatte nie das Gefühl, dass da eine Aufgabe auf mich wartet, aber vielleicht hat sich das geändert.“

„Du musst in den letzten Tagen sehr viele Briefe geschrieben haben.“

„Jetzt ist die Zeit dafür.“ Andromeda lächelt und nippt zum ersten Mal an ihrem Tee, der kalt geworden sein muss. Eine Weile sitzen sie einfach nur da und trinken beide stillschweigend aus ihren Tassen. Schließlich ertönt ein leises Wimmern aus dem Nebenzimmer und sie stehen in derselben Sekunde auf. Es ist wie ein Reflex, auch wenn Narzissa natürlich weiß, dass es nicht Draco ist, der nach ihr ruft. Seit seinem Geburtstag hat sie sich oft dabei ertappt, wie erstaunt sie darüber ist, dass er bereits so alt ist. So selbstständig.

Sie folgt Andromeda nicht in das andere Zimmer, sondern wartet geduldig darauf, dass sie zurückkommt. In den Armen hält sie einen jammernden, kleinen Jungen mit bläulichen Locken. Als Andromeda erneut auf dem Sofa Platz nimmt, fasst Narzissa eine schnelle Entscheidung und setzt sich neben ihre Schwester.

Aus der Nähe bemerkt sie erst, dass permanent kleine Veränderungen in dem winzigen Gesicht vor sich gehen. Auch das Blau seiner Haare kommt ihr mal blasser und mal kräftiger vor. Sie muss daran denken, wie die Haare von Nymphadora Tonks sich von Rosa zu Rot verfärbt haben, als Narzissa ihr zum ersten und letzten Mal persönlich begegnet ist. Es würde sie doch sehr interessieren, ob Nymphadora Tonks diese Begegnung Andromeda gegenüber jemals wirklich erwähnt hatte – und ob die Grüße, die Narzissa ihr doch ein wenig ungehalten mit auf den Weg gegeben hatte, ihr Ziel erreicht hatten. Vermutlich nicht. Vielleicht würde sie bald danach fragen.

Teddy Tonks niest und seine Nase verwandelt sich für einen aberwitzigen Moment in den Rüssel eines Elefanten. Überrascht schlägt sie die Hände vor den Mund und Andromeda lacht über ihre Reaktion. „Er ist ein Naturtalent. Noch viel aufgeweckter als Dora…bei ihr hat es immerhin drei Wochen gedauert, bis wir bemerkt haben, dass wir nicht übermüdet sind, sondern ihre Augen wirklich täglich die Farbe wechseln.“

„Es ist faszinierend.“ Es sticht in ihrem Magen. „Es ist wirklich schrecklich, dass seine Mutter nicht sehen kann, wie geschickt er ist. Sie wäre bestimmt stolz auf ihn. Und er könnte so viel von ihr lernen.“ Sie ist sich nicht sicher, ob das nicht ein bisschen zu weit ging, aber Andromeda sieht nicht allzu traurig aus. Als würde sie es sich in Teddys Gegenwart einfach nicht erlauben, traurig oder wütend zu sein.

„Ein paar Kleinigkeiten kann ich ihm vielleicht auch zeigen.“ Teddy greift mit kleinen, unkoordinierten Handbewegungen nach Andromedas Haarspitzen, die plötzlich in einem fröhlichen Himmelblau leuchten. Überrascht rückt Narzissa ein Stück weg, um das Gesamtbild zu erfassen.

„Huch. War er das? Oder warst du das?“ Sie hatte noch nie davon gehört, dass ein Metamorphmagus mit seinen Kräften auch das Aussehen anderer Hexen und Zauberer beeinflussen konnte. Andromeda lächelte verlegen.

„Das war ich.“

„Konntest du das schon immer? Du bist doch nicht… du warst doch nie…“ Sie würde ja wohl wissen, wenn sie mit einer metamorphmagischen Schwester aufgewachsen wäre!

„Ich habe es erst kurz vor meinem fünften Geburtstag entdeckt. Im Vergleich mit Dora oder dem kleinen Künstler hier bin ich sehr schwach oder sagen wir sehr träge… ich habe immer nur geübt, wenn ich wirklich für mich alleine war. Erst habe ich gedacht, Bella und du würdet mich auslachen, wenn ich behaupte, ich bin ein Metamorphmagus und dann gelingt mir gar keine Verwandlung… und später war es irgendwie nett, ein Geheimnis zu haben. Ich habe es auch nur unter Kontrolle, wenn ich nicht zu emotional bin.“

„Also so ungefähr 95 Prozent der Zeit.“

„So ungefähr.“

„Du bist wirklich unmöglich. Eine unmögliche Geheimniskrämerin! Immer noch!“

„Alte Gewohnheiten sind schwer abzulegen.“ Andromeda schmunzelt und nickt in ihre Richtung. „Deine Haare habe ich aber auch anders in Erinnerung. Ist das Zauberei oder-“

„Farbe. Schnöde Farbe ist das.“ Sie kann nicht verhindern, dass sie ein wenig eingeschnappt klingt. Manchmal, öfter als sie zugeben mag, denkt sie daran, wie Lucius vor Ewigkeiten das Märchen von einer Frau erfunden hat, die erst an ihrem 50. Geburtstag merkt, dass sie ein Metamorphmagus ist. Insgeheim hat sie vielleicht immer noch daran geglaubt, dass sie das metamorphmagische Gen ihrer Familie erwischt hat, aber wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass Andromeda und sie diese Begabung geerbt haben, die immerhin nicht gerade für ihr häufiges Auftreten bekannt ist?

„Aber die schnöde Farbe steht dir. Es sieht sogar sehr gut aus.“ Andromeda rückt den kleinen Jungen, dessen Augen müde wieder zugefallen sind, auf ihrem Schoß zurecht. „Du musst mir mehr über dich erzählen. Ich habe so viel über mich selbst geredet und dir gar keine Fragen gestellt…und du musst mir von Draco erzählen. Wie ist er so? Von Harry habe ich natürlich ein bisschen was gehört, aber ich kann ihn mir nicht vorstellen. Ähnelt er dir?“

„Lucius ähnelt er mehr… äußerlich wie innerlich.“

„Schade.“

„Draco ist ein guter Mensch. Er ist… manchmal sehr ängstlich, aber manchmal überrascht er mich auch. Wahrscheinlich ist er sehr verwöhnt, ich glaube, er ist doch recht egozentrisch, aber auch auf eine gute Art. Er nimmt sich selbst nie als außenstehend wahr. Er überlegt immer, was er getan hat, was er gesagt hat, wenn er nicht versteht, warum etwas passiert ist. Ich glaube, er versteht deswegen manchmal Einiges falsch. Ich bin mir zum Beispiel sehr sicher, dass Harry Potter ihm in der ersten Klasse nicht den Krieg erklärt hat, sondern da einfach zwei Elfjährige aneinander vorbeigeredet haben… aber Draco fühlt sich schnell zurückgewiesen. Bedrängt wird er allerdings auch nicht gern.“

„Das klingt nach einem schwierigen Kind… und es hört sich auch wirklich ein wenig nach Lucius an.“

„Ich würde ihn für nichts und niemanden auf der Welt eintauschen wollen. Weder den einen, noch den anderen.“

„Nichts anderes hätte ich von dir erwartet.“ Sanft streicht Andromeda eine blaue Locke aus Teddys Stirn. „Du hattest schon immer eine Schwäche für die schwierigen Charaktere.“

* * *



Nach nicht sehr viel mehr als drei Stunden haben Andromeda und sie sich voneinander verabschiedet. Diesmal hat Andromeda sie ein bisschen weniger hastig umarmt, sodass Narzissa zumindest kurz die Chance hatte, ihre Schwester festzuhalten und sich zu vergewissern, dass sie keine sprechende Luftspiegelung war.

Obwohl sie Lucius gegenüber behauptet hatte, nur einige Einkäufe erledigen zu wollen, sah er sie erwartungsvoll an. Sie stellte die Tüte mit den Lebensmitteln, die sie mitgebracht hatte, auf den Tisch und fragte sich, ob sie unwissentlich einen Hellseher geheiratet hatte.

„Warum siehst du mich so an?“

„Darf ich dich neuerdings nicht mehr ansehen, Zissy?“ Morgen Mittag musste Lucius wieder ins Ministerium. Nicht als Angeklagter, sondern diesmal als ein Zeuge gegen Dolores Umbridge. Sie hatten noch nicht wirklich darüber gesprochen, welche Meinung er zu Dolores Umbridge hatte. Es hatte sie überrascht, dass er diese Frau überhaupt persönlich kannte. „Ich muss dir etwas erzählen.“

„Ach ja? Worauf wartest du dann?“

„Ich würde gerne vorher in Erfahrung bringen, ob du eher schlechte oder eher gute Laune hast. Und da ich dich seit heute Morgen nicht mehr gesehen habe, bin ich mir nicht ganz sicher, in welcher Stimmung du dich jetzt gerade befindest.“

„Ich bin eher gut gelaunt.“

„Ich habe Mae eingeladen.“ Ihre Fingernägel vergruben sich in den Tomaten, die sie gerade aus der Tüte geholt hatte. Mae Wallet. Wann hatten sie das letzte Mal über Mae Wallet gesprochen? Das musste Jahre her sein.

„Wie geht es Mae?“

„Gut. Sie arbeitet immer noch im Ministerium. Nach dem Tod von Barty Crouch hat sie seinen Posten in der Magischen Strafverfolgung übernommen… sie sitzt im Zaubergamot, du dürfest sie auch mal gesehen haben.“

„Ich habe wohl nie auf sie geachtet. In diesen Roben sehen ohnehin alle gleich aus.“

„Zissy, sie sitzt direkt neben Kingsley Shacklebolt. Sie führt die Protokolle.“ Narzissa klappte der Mund ein Stück auf. Die große, leicht übergewichtige Frau mit den silbrigen Haaren und der runden Brille war ihr durchaus aufgefallen – aber sie hatte sie nicht mit der schönen Mae in Verbindung gebracht. Und sie konnte sich auch nicht daran erinnern, ihren Namen gehört zu haben. „Sie ist mit einem Zauberer namens Wilbur Wickers verheiratet. Er hat einen Pub in Dublin und will einen zweiten in London eröffnen. Ich habe sie auch nicht auf Anhieb erkannt, aber sie hat mich gestern nach der Anhörung angesprochen.“

„Und da hast du entschieden, sie zu uns einzuladen?“

„Mehr oder weniger. Wir haben uns nicht lange unterhalten, aber sie hat mehrmals erwähnt, dass das Ministerium massive personelle Probleme hat. Durch die vielen Kündigungen und „Umstrukturierungen“ im letzten Jahr… und aufgrund der vielen Todesfälle und der Emigration einiger Mitarbeiter gibt es kaum noch eine Abteilung, in der genug ausgebildete Kräfte arbeiten. Die Prozesse haben momentan die Priorität, doch alle Mitglieder des Zaubergamots haben ja an sich auch noch andere Aufgaben, denen sie nicht nachgehen können, wenn sie den ganzen Tag im Gericht sitzen. Gleichzeitig gibt es unheimlich viele Bewerbungen, die überall und nirgends eingehen und niemand hat die Zeit, sich um die Sichtung der Bewerber zu kümmern, die Stellenausschreibungen zu aktualisieren und… es ist wohl eher eine inoffizielle Überlegung, aber Mae meint, dass Kingsley Shacklebolt darüber nachdenkt, mir meinen alten Posten wieder anzubieten.“

„Wirklich?“

„Ja… wirklich. Ich war auch überrascht. Mae hat mehrmals betont, dass das keinem Freispruch gleichkommt und es ist auch nicht gesagt, dass Askaban keine Option mehr ist, aber es klang doch irgendwie so, als sei man zumindest sicher, dass ich keine unmittelbare Gefahr für die Gesellschaft darstelle. Meinen Zauberstab werde ich in absehbarer Zeit nicht zurückbekommen, aber den habe ich bei der Arbeit ja sowieso kaum benutzt und… es ist alles noch nicht in Stein gemeißelt, aber der Besuch von Mae wäre keine freundschaftliche Stippvisite, sondern ein geschäftlicher Termin.“ Die Tomaten in ihrer Hand sind reichlich matschig geworden und sie beobachtet Lucius' fahrige Handbewegungen. Er ist aufgeregt. Er freut sich, vielleicht freut er sich zu früh.

„Lucius, das ist großartig.“ Sie legt das malträtierte Gemüse ab und ignoriert die Flecken, die auf der Tischdecke entstehen. „Ich muss dir auch etwas erzählen.“

Chapter 44: Sommerschlaf

Chapter Text

44 – Sommerschlaf



Der Sommer vergeht langsamer und schneller als sie es sich hätte vorstellen können. Es gibt Tage, an denen sitzt sie zuhause, während Lucius im Ministerium ist. Der Prozess scheint kein Ende zu haben, obwohl Draco und auch sie selbst Anfang August die Erlaubnis erhalten haben, sich neue Zauberstäbe zu besorgen. Zwei Wochen später hat Draco zudem einen Brief aus Hogwarts bekommen. Zwei Briefe in zwei Umschlägen, um genau zu sein. In dem ersten Umschlag, der mit dem üblichen Siegel von Hogwarts verschlossen gewesen ist, war die Bücherliste für das kommende Schuljahr. Im zweiten Umschlag war ein Brief von Minerva McGonagall höchstpersönlich, der sich nicht nur an Draco, sondern an alle Schüler richtete, die im Mai eigentlich ihre UTZ-Prüfungen absolviert hätten. Darin steht ausdrücklich, dass alle Siebtklässler herzlich willkommen sind, ihr letztes Schuljahr zu wiederholen und an den UTZ-Prüfungen im Frühling des nächsten Jahres teilzunehmen.

Sie ist sich nicht sicher, ob Draco sich wirklich über den Brief freut. Zwischenzeitlich hat sie das Gefühl gehabt, dass er unter gar keinen Umständen jemals zurück nach Hogwarts gehen möchte, doch nur einen Tag nach der Ankunft des Briefes bittet er sie darum, mit ihm in die Winkelgasse zu apparieren, um die nötigen Bücher zu kaufen.

Seine Zurückgezogenheit hat sie besorgt und sie hat ihn mehrfach gefragt, ob er nicht wenigstens Gregory besuchen möchte. Immerhin ist Gregory sein ältester Freund – und in einer ganz ähnlichen Situation wie Draco selbst. Auch der Prozess von Erwin Goyle hat sich über mehrere Wochen erstreckt und am 10. August, wenige Tage bevor der Brief aus Hogwarts kam, wurde Erwin aus seiner leitenden Position in Gringotts in den vorzeitigen Ruhestand geschickt. Am Tag darauf hat Erwin seinen Zauberstab unter Vorbehalt zurückerhalten und der Prozess wurde offiziell abgeschlossen. Im „Spektrum Zaubergamot“ ist eine kurze Zusammenfassung des Urteils erschienen. Es ist einer der ersten Fälle, der offiziell ad acta gelegt wird. Wenige Tage zuvor wurde Gerald Nott zu einer zauberstablosen Existenz verurteilt. In seinem eigenen Haus. Da weder Gerald Nott, noch Erwin Goyle zu einer Haftstrafe in Askaban verurteilt wurden, hegt Narzissa die Hoffnung, dass mit Lucius ähnlich verfahren wird. Ihr Leben lang von dem Zaubereiministerium überwacht zu werden, ist im direkten Vergleich zu einer lebenslänglichen Überwachung durch die Dementoren eine schöne Aussicht. Lucius ist ebenso vorsichtig optimistisch wie sie selbst, doch Draco lässt sich von diesem Optimismus nicht anstecken. Er kommt ihr ruhig vor, regelrecht müde und sie hofft, dass er sich in Hogwarts fangen wird.

Der einzige menschliche Kontakt außerhalb von Malfoy Manor, an dem Draco etwas zu liegen scheint, trägt den Namen Astoria Greengrass. Um ihr nichts schuldig zu bleiben, hat er Astoria im wahrsten Sinne des Wortes vorgeführt. An einem Nachmittag, den weder sie, noch Lucius außerhalb des Hauses verbracht hatten, war er für zwei Minuten mit Astoria zu ihnen gekommen, es hatte eine sehr förmliche Vorstellungsrunde gegeben und dann hatte er Astoria wieder mit ins Erdgeschoss genommen. Narzissa hatte nicht das Gefühl, dieses Mädchen zu kennen, aber sie übte sich in Geduld. Wenn Astoria nicht nur eine Laune war, dann würde sie früher oder später mehr über dieses Mädchen erfahren.

Zumindest redete sie sich gerne ein, dass sie geduldig war und nicht bloß ein schlechtes Gewissen hatte, weil sie Draco zwar nicht verschwieg, dass sie den Kontakt zu Andromeda wieder aufgenommen hatte, aber sie hat ihm das Ausmaß ihrer Treffen mit Andromeda nicht deutlich gemacht. Ihm war nicht klar, dass er Andromeda in Hogwarts begegnen würde und er hatte keinen Blick auf das Zimmer erhascht, in dem Teddy am 1. September einziehen würde. Als sie diese Gewissensbisse gegenüber ihrer Schwester erwähnt hatte, war sie von Andromeda im großen Stil beschwichtigt worden. Es war immerhin nicht klar, wie sie in Hogwarts aufgenommen werden würde. Oder wie Draco zurechtkommen würde. Die Planungen für den Unterricht waren zwar so weit abgeschlossen und es stand außer Frage, dass seitens des Ministeriums oder von Minerva McGonagall noch mit einem Rückzieher zu rechnen war, aber es blieb eine unsichere Angelegenheit. Je mehr sie ihre Schwester über die einzelnen Themen, die sie ansprechen, und die Fragen, die sie aufwerfen wollte, reden hörte, umso mehr Vertrauen fasste Narzissa. Ihr war gar nicht klar gewesen, wie diplomatisch ihre Schwester schon immer gewesen war. Und wie rhetorisch und messerscharf sie sein konnte, wenn sie es denn wirklich wollte. Vielleicht war ihr das zu einem früheren Zeitpunkt ihres Lebens bewusst gewesen, doch sie war so lange nicht mehr von Andromeda ins Verhör genommen worden, dass es sie fast erschreckte, wie schwer es war, ihrer Schwester auszuweichen.

Die Annäherung zwischen Andromeda und Lucius war… dezent. Lucius begleitete sie mehrmals, um Teddy kennenzulernen und sich ein Bild von ihrer Schwester zu machen. Andromeda ihrerseits zerlegte jede Geste und jedes Wort, das Lucius in ihrer Gegenwart von sich gab. Es war unangenehm für alle Beteiligten, abgesehen von Teddy, der gerne unter Menschen war. Narzissa ertappte sich oft dabei, wie sie sich die erste Begegnung von Andromeda und Draco vorstellte. Einerseits wünschte sie, dass sie dabei sein könnte, doch andererseits wusste sie, dass sie kein Teil dieses Moments sein sollte. Andromeda würde eine Lehrerin sein, Draco ein Siebtklässler. Alles andere musste sich von allein ergeben.

Die Sommerferien neigten sich dem Ende zu, als ein kleines Wunder geschah. Sie saß im Garten, las einen Roman, den sie in ihrer Jugend sehr gemocht hatte und der ihr nun doch nur mittelmäßig unterhaltsam vorkam, als auf einmal ein Mädchen in den Garten trat. Nun ja, streng genommen hielt sie sich an der Tür zum Garten fest.

Die blonden Haare von Astoria Greengrass leuchteten im Sonnenlicht. Hier draußen wirkte sie noch kleiner als in einem geschlossenen Raum. Sie sah verlegen aus und wickelte einen ihrer Finger nervös im Saum ihres Oberteils ein. „Guten Tag, Mrs. Malfoy, ich möchte Sie wirklich nicht stören.“

„Du störst mich nicht, Astoria. Wie kann ich dir weiterhelfen?“

„Ich wollte Draco besuchen und normalerweise wartet er im Salon, gleich beim Kamin, auf mich, wenn er weiß, dass ich vorbeikomme. Allerdings bin ich ein bisschen zu spät… über eine halbe Stunde zu spät, um genau zu sein und jetzt ist er nicht da. Ich möchte nicht einfach so in sein Zimmer laufen. Wir gehen für gewöhnlich eher spazieren und das Haus ist so groß, ich weiß nicht einmal ganz sicher, welche Tür die richtige wäre… haben Sie ihn vielleicht gesehen? Könnten Sie ihm Bescheid sagen, dass ich hier bin?“ Narzissa war sich nicht sicher, ob Astoria sich grundlegend umständlich ausdrückte oder ob es an ihr lag. Hatte Draco so ein bedrohliches Bild von ihr gezeichnet? Oder war Astoria es einfach nicht gewohnt, mit erwachsenen Menschen zu sprechen, deren Namen allzu häufig in der Zeitung standen?

„Draco hat sich hingelegt.“ Vor rund einer halben Stunde war er tatsächlich im Salon gewesen, auf und ab gegangen wie ein Tiger im Käfig und hatte sich so offensichtlich daran gestört, dass sie im Garten saß, dass sie ihn gerne aufgezogen hätte. Schließlich war er kurz auf die Terrasse gekommen und hatte ihr mitgeteilt, dass er einen Mittagsschlaf machen würde und nicht gestört werden wollte. „Er kam mir heute sehr müde vor, es tut ihm sicher gut, wenn er eingenickt ist.“ Noch ehe sie ausgesprochen hatte, nickte Astoria wie wild.

„Ja, natürlich. Dann gehe ich besser wieder.“

„Du kannst auch bleiben und mir ein wenig Gesellschaft leisten. Es ist nicht gesund, tagsüber so lange zu schlafen und allerspätestens in einer Stunde sollten wir ihn wecken, wenn er nicht von selbst wach wird.“ Sie deutete in Richtung des freien Stuhls auf der anderen Seite des Tisches. Abends saßen sie und Lucius manchmal hier, wenn es nicht zu schwül war oder regnete. „Bitte, nimm Platz.“

„Danke.“ Astoria setzt sich und wirkt direkt ein wenig selbstbewusster als stehend. „Ich hoffe, Sie finden es nicht unhöflich, dass ich so oft hier bin und mich kaum vorgestellt habe. Sie müssen glauben, ich wäre sehr schlecht erzogen.“

„Mach dir darum bitte keine Gedanken. Ich weiß, dass es Dracos Entscheidung war, dich niemals zum Abendessen einzuladen. Ich kann nur hoffen, dass er dir zumindest mitgeteilt hat, dass du sehr gerne gemeinsam mit uns essen könntest.“ Man konnte Astoria förmlich ansehen, wie ihr ein Stein vom Herzen fiel und es war Narzissa sehr sympathisch, dass dieses Mädchen scheinbar mehr als nur einen Gedanken daran verschwendet hatte, was sie und Lucius von ihr hielten. „Ich bin sehr froh, dass Draco jemanden gefunden hat, mit dem er sich unterhalten kann. Dieser Sommer ist… es ist eine komplizierte Zeit. Es ist gut, dass du für ihn da bist.“

„Es ist wirklich sehr beruhigend, dass Sie das so sehen und nicht denken, ich wollte… ich wollte mich nicht aufdrängen. Ich wollte ihm einfach nur helfen und… ich habe auch jemanden zum Reden gebraucht. Meine Eltern, sie würden am liebsten so tun, als wäre alles ganz normal. Sogar die Zeitung haben sie abbestellt. Und meine Schwester ist kaum zuhause… und wenn sie da ist, dann ist sie auch nicht sehr gesprächig.“

„Ich hoffe, Draco hat dir unsere Zeitungen angeboten?“ Zu ihrer Überraschung kicherte Astoria. Gleich darauf errötete sie zwar, doch für eine Sekunde lang hatte sie sich wohl genug gefühlt, um zu kichern.

„Oh ja, das hat er! Sie haben wirklich viele Abonnements. Die Berichterstattung im „Klitterer“ ist vielleicht sogar die Beste. Ein bisschen abstrakt, aber dort kommen wirklich interessante Persönlichkeiten zu Wort. Die „Hexenwoche“ schreibt ja eigentlich nur beim „Propheten“ ab… und Rita Kimmkorn gebraucht immer dieselben dreißig Adjektive.“ Rasch schlug Astoria sich die Hand vor den Mund. „Oh, Verzeihung, Sie sind doch kein Fan, oder?“

„Von Rita Kimmkorn? Nein, nicht wirklich. Ich finde ihren Wortschatz auch etwas begrenzt… und ab und zu lese ich auch gerne mal einen Nebensatz.“ Astoria lächelt und das ist der Moment, in dem Narzissa sich nicht mehr ganz sicher ist, ob sie es hier wirklich mit einer unbedarften, naiven Fünfzehnjährigen zu tun hat – oder nicht doch mit einem gerissenen Biest. Sie kann nicht genau sagen, woher auf einmal diese Skepsis kommt, es muss irgendetwas mit diesem Lächeln zu tun haben. Es sieht echt aus. Zu echt. Zu fröhlich. Zu ungezwungen.

„Sie sind nett.“

„Und das überrascht dich?“

„Ein bisschen schon. Ich dachte, es müsste einen Grund dafür geben, dass Draco so darauf bedacht ist, dass ich Ihnen nie über den Weg laufe. Aber Sie sind so freundlich zu mir.“

„Du bist nicht wirklich eine halbe Stunde zu spät, oder?“

„Vor einer halben Stunde habe ich eine Notiz mit dem Flohnetzwerk verschickt und Draco gesagt, dass ich es heute leider doch nicht schaffe. Verabredet waren wir vor einer Stunde.“ Das erklärte auch, warum Draco so unruhig gewesen war. Es war beeindruckend, dass Astoria ihn offenbar gut genug kannte, um zu wissen, dass er sich gerne hinlegte, wenn er pampig war. Oder vom Warten ermüdet.  „Das war etwas gemein von mir.“

„Er wird es dir verzeihen.“

„Wenn ich Sie nicht hier draußen hätte sitzen sehen, dann wäre ich einfach in sein Zimmer gegangen.“

„Den Weg kennst du also doch?“

„Es hat in den letzten Wochen oft geregnet. Und im Regen spazieren zu gehen, das klingt vielleicht ganz malerisch, aber eigentlich ist es doch nur nass und furchtbar anstrengend, wenn man keinen guten Zauber kennt, um trocken zu bleiben.“ Astoria zuckt mit den Schultern. „Es war jedenfalls schön, mal mit Ihnen sprechen zu können.“

„Du möchtest schon wieder gehen?“

„Ich werde mal an seine Zimmertür klopfen und ihn wecken. Er wird es mir noch danken. In seinem Alter Mittagsschlaf zu halten, ist doch irgendwie lächerlich – und in Hogwarts kann er sich auch nicht einfach so tagsüber ins Bett legen.“

Astoria erhebt sich, schenkt ihr ein strahlendes Lächeln und verschwindet im Haus. Noch fünf Minuten später ist Narzissa sich nicht sicher, ob sie über diesen Auftritt lachen oder weinen möchte. Auf jeden Fall hat sie einen ganz neuen Eindruck von Astoria Greengrass. Ein ganz frisches, ungekünsteltes Bild.

* * *



Das Gleis 9 ¾ kommt ihr voller vor als in den vergangenen Jahren. Es mag daran liegen, dass es einen doppelten Jahrgang gibt – oder einfach daran, dass die meisten Schüler nicht nur von einem einzelnen Elternteil, sondern von ihrer gesamten Familie begleitet werden. Es wird viel gesprochen, viel gerufen und der Geräuschpegel ist so hoch, dass sie sich fast darüber wundert, dass Draco und Lucius sie verstehen, obwohl sie die Stimme nicht hebt. Vielleicht nicken sie auch einfach nur an den richtigen Stellen und hören sie eigentlich gar nicht.

Widerstandslos lässt Draco sich von ihr drücken und verspricht ihr, dass er zumindest einmal im Monat schreiben wird. Er wartet nicht lange mit ihnen am Bahngleis, sondern steigt in den Zug, kaum dass er Gregory entdeckt hat, der ihr zuwinkt. Mit diesem Winken ist er nicht allein, sie entdeckt auch Astoria Greengrass, die neben einem zweiten blonden Mädchen steht, das einen halben Kopf größer als sie ist, lebhaft mit seinen Eltern diskutiert und bei dem es sich mit ziemlicher Sicherheit um Daphne Greengrass handelt. Sie trägt einen kurzen Rock und ein leuchtend rotes Oberteil. Neben ihr kann man Astoria beinahe übersehen.

Vielleicht hätte Narzissa sich unglücklich gemacht und Lucius in eine Diskussion darüber verwickelt, ob sie nicht einmal zu der Familie Greengrass herübergehen wollten, doch ehe sie auch nur abwägen konnte, ob es klug wäre, sich so extrovertiert zu geben oder ob sie nicht lieber dankbar dafür sein sollten, dass niemand sie anstarrte oder auf offener Straße beleidigte, erschien Andromeda. Für September war es noch außergewöhnlich warm – nicht warm genug für einen Minirock wie Daphne Greengrass ihn trug, aber doch warm – und es gab eigentlich keinen Grund dafür, dass Teddy eine Mütze tragen müsste.

„Ich habe gesehen, dass Draco schon im Zug ist.“ Es war verabredet gewesen, dass Andromeda den Hogwarts-Express im Zweifelsfall ziehen lassen und anders zur Schule reisen würde, falls Draco erst in der allerletzten Sekunde einsteigen sollte und eine „sichere Übergabe“ von Teddy nicht möglich sein würde. Eine Begegnung zwischen Andromeda und Draco just in diesem Moment, wenn keine Zeit für erklärende Worte war, hatten sie einstimmig als unvernünftig bewertet. „Ich bin euch wirklich dankbar für eure Unterstützung. Wenn Teddy sich nicht wohlfühlt, wenn er krank ist, wenn irgendetwas ist, dann schreibt mir sofort. Ich werde versuchen, euch an den Wochenenden zu entlasten, aber erstmal will ich in Hogwarts präsent sein… ich will den Schülern anbieten, dass sie jederzeit zu mir kommen können, wenn sie ein Anliegen haben und ich kann mir vorstellen, dass das gerade in den ersten Wochen häufiger der Fall sein wird.“

„Mach dir keine Sorgen. Teddy wird sich schon gut im Haushalt einbringen.“ Andromeda lacht und drückt den kleinen Jungen, der jede Woche zu wachsen scheint, fest an sich.

„Ist es wirklich in Ordnung, dass ihr ein Stück mit dem Taxi fahrt, bis ihr bei mir seid und meinen Kamin benutzen könnt? Ich weiß, es ist umständlich, aber er erbricht sich wirklich in neun von zehn Fällen, wenn ich mit ihm appariere… und das wäre vielleicht kein so schöner Einstand.“ Andromeda weiß, dass ihre Faszination für die Fortbewegungsmittel von Muggeln ungebrochen ist. Eine Stunde in einem Taxi zu sitzen, ist für sie keine Strafe, sondern die Erfüllung eines ganz heimlichen Kindheitstraums. Sie hofft, dass Lucius bald merkt, dass Andromeda eigentlich ihn angesprochen hat. Nicht besonders unauffällig lehnt sie sich an ihn – nur für den Fall, dass er irgendwie geistig abwesend war, weil die Beine von Daphne Greengrass so lang sind.

„Natürlich ist das in Ordnung. Wir sind auch nicht mit Draco appariert, ehe er fünf oder sechs gewesen ist.“ Lucius lächelt und Andromeda erwidert das Lächeln verhalten. Es ist immer noch ungewohnt zu sehen, wie bemüht Lucius in der Gegenwart ihrer Schwester ist. Und wie wenig ihre Schwester mit diesen Bemühungen anzufangen weiß.

„Ich sollte wohl einsteigen, wenn ich mir kein Abteil mit einer Bande Erstklässler oder, Gott bewahre, Horace Slughorn teilen will.“ Erst in diesem Sommer hatte Narzissa erfahren, dass auch ihre Schwester häufig an den Abendessen von Horace Slughorn teilgenommen hatte. Um die Weihnachtsfeiern, bei denen Narzissa immerhin dreimal anwesend gewesen war, hatte sie sich immer erfolgreich gedrückt. Es war ihr ein Rätsel, wie die Gerüchte, dass Horace Slughorn ein Auge auf ihre Schwester geworfen hatte, nicht bei ihr hatten ankommen können. Zugleich war es irgendwie ein sinnstiftendes Puzzleteil. Slughorns Ärger darüber, dass Andromeda in Nacht und Nebel verschwunden war; die starke Meinung, die ihre Schwester nicht per se zu Lucius, sondern eigentlich zu allen Malfoys gehabt hatte und dann noch dieser Hauch einer Freundschaft zwischen Rabastan und ihr, das alles erschien ihr weniger zusammenhangslos als damals. Zugleich zeigte es ihr einmal mehr, dass sie ihre Hogwartsjahre in einer Blase verbracht hatte. Eine Blase, in der es Lucius, ihre Schwestern und schlussendlich Diana und Samara gegeben hatte. Aber keine bösen, nicht-jugendfreien Gerüchte.

Andromeda beweist diplomatisches Geschick, indem sie Teddy an Lucius übergibt und Narzissa in eine feste Umarmung zieht. So ergibt sich keine Notwendigkeit, dass Lucius und Andromeda sich die Hand geben oder sich einander sonst wie annähern müssten.

Die Beschreibung, wo das Taxi auf sie wartet, ist sehr akkurat gewesen und der Fahrer scheint das Baby mit der Strickmütze wiederzuerkennen. Es ist ein Muggel mit einem schwarzen Vollbart, der mit einem fremdartigen Einschlag spricht und ihnen im ersten Satz erklärt, dass er immer ein paar CDs mit klassischer Musik im Wagen hat, für seine jüngsten Fahrgäste. Denn Mozart und Beethoven, darauf schwört er, diese beiden Herren haben bisher noch jedes Kind in den Schlaf geschaukelt, Schlaglöcher, Hupkonzerte, Bauarbeiten, da kann kommen was will, gegen Mozart und Beethoven hat keiner eine Chance.

Lucius und sie nehmen beide auf der Rückbank Platz. Teddy ist wach und dreht sich immer wieder um, als würde er jemanden suchen. Als würde er bereits wissen, dass Andromeda sich in einem Zug befindet, der sie meilenweit weg von ihm trägt.

„Willst du ihn nehmen?“ Bei Lucius klingt es so, als wäre es irgendwie verkehrt, dass er Teddy auf dem Schoß hat, doch eigentlich sieht es goldrichtig aus. Und sie bezweifelt, dass Teddy sich bei ihr wohler fühlt, nur weil er sie vielleicht schon ein bisschen öfter gesehen hat. Weder Lucius, noch sie sind Andromeda. Oder Dora. Oder Harry Potter. Harry Potter, der ja immerhin der Pate dieses Kindes ist, haben sie bislang noch nicht gesehen. Sie schreibt es der logistischen Pedanz ihrer Schwester zu, dass sich ihre Wege nicht gekreuzt haben. Narzissa hat darauf bestanden, dass Harry Potter weiß, dass er Teddy besuchen kann, wann immer er das möchte.

„Willst du ihn nicht halten?“ Lucius schüttelt verneinend den Kopf und sie verschränkt demonstrativ die Arme vor ihrem Bauch. Was der Fahrer von ihnen denken muss? Hat Andromeda irgendwie eine Erklärung dafür geliefert, warum sie ihr Baby einer fremden Frau und einem fremden Mann gibt, die wieder zurück zu dem Haus gefahren werden, in dem sie selbst abgeholt wurde? Ist es in den Augen eines Muggels nicht irgendwie verdächtig, ein Baby an einem Bahnhof zu übergeben? Sieht das am Ende nach einer Straftat aus? Und was muss er davon halten, dass sie dem Baby eine viel zu dicke Mütze aufgesetzt haben? Narzissa unterdrückt den Drang, Smalltalk zu betreiben, sich irgendwie zu rechtfertigen oder unverfängliche Fragen nach der klassischen Musik zu stellen, um irgendwie wie eine respektable Person zu wirken.

„So richtig leiden kann Andromeda mich immer noch nicht.“

„So würde ich das nicht sagen.“ Am liebsten hätte sie behauptet, dass Andromeda den ganzen Sommer lang kein schlechtes Wort über ihn verloren hatte, doch das wäre eine Lüge gewesen. Ihre Schwester war immer noch kritisch. Sie stellte viele Fragen über Lucius. Nicht unbedingt über den Prozess oder die Gegenwart, sondern über die letzten achtundzwanzig Jahre. Wie Lucius als Ehemann war. Ob er sie mal betrogen hatte. Ob er immer viel gearbeitet hatte. Ob sie immer zusammen gewohnt hatten. Ob sie auch mal mit einem anderen Mann geschlafen hatte. Sie wusste, dass ihre Schwester nur so forsch war, weil sie sich einen echten Eindruck von Lucius machen wollte. Und vor ihr. Von ihrem Leben. Narzissa beantwortete jede Frage so ehrlich sie konnte und, wenn es passte, dann stellte sie eine Rückfrage. So erfuhr sie, dass Ted und ihre Schwester zwar immer zusammen geblieben waren, aber doch auch schlechte Phasen gehabt hatten. Als Nymphadora in Hogwarts gewesen war, hatte ihre Schwester sich einige Jahre lang mit anderen Männern getroffen, aber über eine Scheidung war nie gesprochen worden. Es gab keinen Zweifel daran, dass Andromeda Ted über alles geliebt hatte.

„Und wie würdest du es sagen?“

„Sie kennt dich eben nicht so gut.“ Lucius lacht auf und Teddy quietscht zufrieden. Das ist ein neues Geräusch, das ihm zu gefallen scheint. „Ich meine das ernst, Lucius. Wenn sie dich wirklich nicht leiden könnte, dann säßen wir nicht hier.“ Das Taxi bremst ab, respektiert eine rote Ampel und der Halt erinnert Narzissa daran, dass sie nicht alleine sind. Dieses Verkehrsmittel ist ein öffentlicher Ort. Und eine Dame offenbart ihre Gefühle nicht in aller Öffentlichkeit.

* * *



Spektrum Zaubergamot. Ausgabe 9/1998

Lucius Malfoy ist 1981 nicht vor den Zaubergamot gerufen worden, da er bei einer vorhergehenden Befragung durch einen Vertreter der Aurorenzentrale glaubhaft vermitteln konnte, dass er unter dem Einfluss des Imperiusfluchs gestanden hat. Das Zaubereiministerium hat seine Nachlässigkeit in dem Fall Malfoy bereits 1996 nach dem Einbruch in die Mysterienabteilung eingeräumt, die laut anderen Beteiligten von Malfoy geleitet worden war. Es ist anzunehmen, dass Malfoy bereits vor 1996 Träger des dunklen Mals gewesen ist, das Mal wurde jedoch erst im Juni 1996 von dem Zaubergamot gesichtet. Zwischen 1985 und 1995 hat der Angeklagte selbst einen Sitz im Zaubergamot gehabt, den er jedoch 1995 freiwillig aufgegeben hat. Ein Zusammenhang mit der Rückkehr Lord Voldemorts wurde zu diesem Zeitpunkt nicht gesehen und konnte im Rückblick nicht eindeutig verifiziert werden.

Es wurde von mehreren Angeklagten ausgesagt, dass sich Voldemort 1997 und 1998 regelmäßig auf dem Grundstück von Malfoy aufgehalten und dort gewissermaßen seinen Wohnsitz gehabt hat. Zwischen 1996 und 1997 ist Malfoy zu einer Haftstrafe in Askaban verurteilt worden, die im Prozess vom 23. Juli 1998 nicht erneuert wurde. Mehrere andere Angeklagte sagten für den Angeklagten Malfoy aus und bestätigten, dass dieser seit dem Ausbruch aus Askaban keinerlei Enthusiasmus für Voldemorts Pläne gezeigt habe. Durch die Wohnsituation war die Familie (Anmerkung der Redaktion: Eine Ehefrau, ein Sohn) von Malfoy unmittelbar in Voldemorts Leben eingebunden und wurde dazu vom Zaubergamot befragt. Der Zauberstab von Malfoy wurde vorübergehend konfisziert und auf die Verwendung von Unverzeihlichen Flüchen hin geprüft. Bis zum heutigen Stand (Anmerkung der Redaktion: 25. August 1998) hat Malfoy seinen Stab nicht zurückerhalten. Der Prozess ist nicht abgeschlossen, es ist jedoch wahrscheinlich, dass der Angeklagte in Kürze dazu aufgefordert wird, beim Wiederaufbau des Zaubereiministeriums zu helfen, da es sich um einen hohen Angestellten der Ministeriumsverwaltung handelt, in welcher es zurzeit an Personal mangelt.

Chapter 45: Viel Lärm und Nichts

Chapter Text


45 – Viel Lärm und Nichts



Ursprünglich war es Andromedas Plan gewesen, an dem Wochenende nach Narzissas Geburtstag auf einen Besuch nach Malfoy Manor zu kommen, doch dieses Vorhaben verzögerte sich um eine weitere Woche, sodass Narzissa ihre Schwester beinahe drei Monate lang nicht mehr gesehen hatte. Dank der regelmäßigen Berichterstattung von Draco hatte sie allerdings einen ganz guten Eindruck von der praktischen Umsetzung der Unterrichtsideen bekommen, die im Sommer nichts als hoffnungsvolle Konzepte gewesen waren. Insgesamt hatte Draco den Schock einigermaßen gut verwunden und sie meinte aus seinen Briefen herauszuhören, dass er nicht allzu wütend auf sie, ihre Heimlichkeiten oder den Rest der Welt war.

In diesem Glauben hieß sie auch Andromeda willkommen und bekam einen gewaltigen Schreck, als Andromeda sie auf einmal mit einem sehr vorwurfsvollen Blick bedachte. „Also was Draco angeht, hast du mich nach Strich und Faden belogen.“ Teddy jammerte leise, weil sie ihn auf einmal ein bisschen zu fest drückte, bis sie das Funkeln in Andromedas Augen bemerkte. Ihre Schwester unterdrückte ein Lächeln. „Er ist dir weitaus ähnlicher als Lucius.“

„Also kommt ihr gut miteinander aus?“

„Sehr gut sogar. Am letzten Mittwoch habe ich mit den siebten Klassen über eure Familie gesprochen. Schon bei der Vorbereitung war Draco mir eine große Hilfe, aber er hat sich sogar bereit erklärt, Fragen zu dem ausgewählten Material zu beantworten. Und Fragen zu dem dunklen Mal.“ Im Oktober war Andromeda noch unsicher gewesen, ob sie wirklich eine Aussage verwenden wollte, die Lucius im Sommer vor dem Zaubergamot getroffen hatte, um Draco und sie zu entlasten. Aus dieser Aussage ging hervor, dass Draco genau wie sein Vater das dunkle Mal trug. Abgesehen von den anderen Slytherins, deren Eltern ebenfalls mit dem Mal gezeichnet waren, wusste in Hogwarts kaum jemand darüber Bescheid. Zumindest nicht unter den Schülern. Narzissa hatte befürchtet, dass es zu einem Eklat kommen könnte, wenn Draco so offen mit dem Thema umgehen würde, doch Andromeda und er hatten entschieden, dass es nicht unterschlagen werden sollte. „Es lief gut, Zissy. Wirklich, du musst dir um Draco keine Sorgen machen. Er ist… er macht sich. Am Anfang des Jahres hatte ich noch Sorge, weil er doch sehr verschlossen gewesen ist, aber das sind sie alle. Man hat das Gefühl, sie haben in den letzten Jahren so viel in sich hereingefressen und geschluckt, dass man ihnen am liebsten den Finger in den Hals stecken will, damit alles rauskommt.“

„Was für ein appetitliches Bild.“ Andromeda lächelt und breitet die Arme aus, um Teddy daran zu erinnern, dass er eine Großmutter hat, die ihn auch noch ein bisschen zerdrücken will.

„Und wie macht er sich?“

„Er brabbelt. Tag und Nacht. Und er hat seine Leidenschaft für Pfauen entdeckt.“

„Um Gottes Willen.“

„Lucius hat irgendwann keines seiner Bilderbücher gefunden und deswegen einen Bildband über Pfauenzucht zur Hand genommen, um ihn mit irgendetwas zu belustigen… ich kann nichts dafür, ich habe nur einen Moment nicht aufgepasst und schon haben sie das fachsimpeln angefangen.“ Ungläubig schüttelt Andromeda den Kopf und lässt sich in den Sessel sinken, der dem Kamin am nächsten ist. „Stundenlang kann er sich angucken, wie die Vögel über die Hecken spazieren und durch den Garten stolzieren. Es ist irre. Draco hat sich früher immer ein bisschen gefürchtet, aber Teddy scheint überhaupt keine Angst zu haben. Er ist furchtlos. Bestimmt kommt er nach Gryffindor.“

„Unsere Mutter würde sich im Grab umdrehen, wenn sie hören könnte, wie fröhlich du das jetzt dahingesagt hast. Wie stolz du klingst.“

„Ich bin stolz auf alles, was er tut. Ich habe ganz vergessen, wie das ist, wenn Kinder in einem Alter sind, in dem sie wirklich unbedingt alles lernen wollen. Ich habe das Gefühl, ich achte sogar mehr auf meine Aussprache.“ Andromeda schmunzelt und zieht ganz leicht an Teddys Nase, die augenblicklich die Farbe und Form wechselt. Ein Baby mit einem Pfauenschnabel.

„Ach du lieber Himmel… das werde ich ihm aber ganz schnell wieder abgewöhnen.“

„Die Passion für Pfauen kannst du nicht aufhalten. Da sind höhere Mächte am Werk.“

„Wann genau hat Lucius dir diesen Abgrund eigentlich offenbart? Fünfter Hochzeitstag?“ Es ist eine Szene, an die Narzissa gerne zurückdenkt. Wenn Lucius ihr damals gesagt hätte, dass sie über zwei Jahrzehnte später zusammen mit ihm und zwei Dutzend Pfauen in Malfoy Manor leben würde, sie hätte es sich nicht einmal vorstellen wollen.

„Oh, das hat er mir schon verraten, als wir noch gar nicht zusammen waren.“ Andromeda sieht sie stirnrunzelnd, aber auch sehr belustigt an. „Ich habe die Sache nicht zu Ende gedacht. Es hätte ja auch ein temporäres Hobby sein können… deshalb sag ich ja, du musst aufpassen bei Teddy. Noch prägt sich nichts so richtig in sein Gedächtnis ein.“

„Das sind die guten Jahre.“ Andromeda seufzt und schaukelt Teddy ein bisschen hin und her. „Schwer bist du geworden! So kann ich dich nicht mehr den ganzen Tag durch die Gegend schleppen, da müssen wir uns eine neue Taktik überlegen… ich lasse euch dann mal allein.“ Der letzte Teil des Satzes geht wieder an sie.

„Bist du sicher, dass du nicht hier bleiben willst? Wir haben genug Platz.“

„Quatsch. Ich vermisse mein Haus… und ich habe dort seit über einem Jahr nicht mehr richtig für Ordnung gesorgt. Es wird höchste Zeit, dass ich mal ein bisschen sortiere. Außerdem habt ihr euch einen freien Abend verdient. Wann seid ihr das letzte Mal so richtig aus dem Haus gekommen? Ohne irgendeinen Termin und ohne, dass ihr vorher irgendwie ins Ministerium musstet?“ Narzissa versucht, sich an einen Abend zu erinnern, den Lucius und sie miteinander, aber doch nicht zuhause verbracht haben und sie scheitert. „Siehst du, es fällt dir schon nicht mehr ein. Also sag Lucius schon Bescheid. Ich bring euch das Schwergewicht am Sonntag wieder.“

„Dann musst du aber auch mal ein bisschen bleiben. Komm schon nachmittags, dann trinken wir zusammen Tee, Lucius backt Kuchen und du erzählst mir all deine pädagogischen Erfolgsgeschichten!“

„Abgesehen von dem Teil mit dem Kuchen, den Lucius Malfoy backen soll, klingt das nach einem sehr soliden Plan.“

„Du wirst staunen.“

„Ich staune unaufhörlich, Zissy.“ Andromeda lächelt, nimmt eine von Teddys Händen und winkt ihr damit zu. „Macht euch ein schönes Wochenende.“

„Sonntag. Um Punkt drei!“

„Ich werde pünktlich sein.“

Sobald Andromeda und Teddy im Kamin verschwunden sind, geht sie nach oben in Lucius' Arbeitszimmer. Obwohl er schon seit über zwei Monaten regelmäßig ins Ministerium geht und seine Arbeit wiederaufgenommen hat, nimmt er sich häufig irgendwelche Personalakten und Bewerbungsschreiben mit nach Hause und sammelt dort seine Überstunden. Narzissa bringt es selten übers Herz, ihn zu stören, weil sie weiß, wie viel es ihm bedeutet, sich nützlich zu fühlen, doch an diesem Abend muss sie eine Ausnahme machen.

Sie geht um seinen Schreibtisch herum und legt ihre Hand auf dem Ordner ab, den er gerade bearbeitet. Er macht ein unwilliges Geräusch, doch dann sieht er auf. „Wie spät ist es? Kommt Andromeda gleich?“

„Sie und Teddy sind schon weg.“

„Du hättest mir Bescheid sagen sollen.“

„Sie war nicht einmal fünf Minuten da. Am Sonntag kommt sie zu uns, ich habe ihr einen Kuchen versprochen. Die Erwartungen sind hoch gesteckt.“ Sie schiebt den Ordner bei Seite und lehnt sich gegen die Kante des Tisches. „Gehen wir aus?“

„Wohin willst du denn gehen?“

„Hauptsache raus. Wir sind ewig nicht mehr einfach so weggegangen. Wir könnten gucken, ob wir Karten fürs Theater bekommen. Oder für ein Musical. Oder für die Oper!“ Lucius erbleicht. „Wir können auch ganz langweilig einfach irgendwo zu Abend essen.“

„Ich mache alles mit, solange ich mich dafür nicht großartig umziehen muss.“ Also scheidet die Oper aus. „Theater vielleicht? Das geht wenigstens nicht so ewig lang.“

„Wenn du keine Lust hast, können wir auch hier bleiben, ein Brot essen und schlafen gehen.“ Ihr Tonfall scheint ihn zu alarmieren und er ist unerwartet schnell aufgestanden. Beschwichtigend hat er seine Arme um sie gelegt und sie dabei sehr unauffällig von dem Ordner weggeschoben. Die heilige Ordnung vor ihr in Sicherheit gebracht.

„Wir gehen, wohin du willst.“

„Wohin ich will? Ohne Einschränkungen?“

„Es war schon mein Ernst, dass ich mich nicht umziehen möchte.“ Sie betrachtete seine Kleidung. Wie an den meisten Tagen, an denen er ins Ministerium ging, trug er eine schlichte Hose und ein helles Hemd. Als er nach Hause gekommen war, hatte er einen Pullover übergezogen. „Du guckst so, als wüsstest du genau, wohin du mich verschleppen willst.“

„Weiß ich auch.“ Sie beugte sich vor und drückte ihm einen kleinen Kuss auf den Mund. Es war typisch für ihn, dass er darin eine Chance sah, das Unvermeidliche hinauszuzögern, aber sie war doch überrascht, wie heftig er den Kuss erwiderte und wie bestimmt er sie auf die Kante des Schreibtischs hob. Was seinen Arbeitsplatz anging, hatte er noch nie besonders viel Spaß verstanden und deswegen schob sie ihn nicht von sich, sondern wartete ab, was es werden sollte, wenn es fertig war. Als er allerdings Anstalten machte, ihre Bluse zu öffnen, umfasste sie seine Handgelenke und machte sich von ihm los. „Ich dachte, aufwändige Veränderungen der Garderobe wären unerwünscht?“

„Einen Versuch war es Wert.“ Er zog sie an sich und küsst sie noch einmal, dieses Mal mit erheblich weniger Überzeugungskraft. „Einen Versuch ist es immer Wert.“

* * *



Als sie das Theater verließen, in dem eine mit opulenter Streichmusik untermalte und reichlich in die Länge gezogene Inszenierung von „Viel Lärm um Nichts“ dargeboten worden war, machte Lucius den Eindruck, als sei er um zehn Jahre gealtert. Er lief wie ein alter Mann, seine Hände zitterten und sein linkes Auge zuckte immer wieder nervös. Komödien waren nichts, was er leicht ertragen konnte, doch wenn es dann auch noch romantisch wurde und die Kostüme groß und aufgebauscht waren, dann war es aus und vorbei mit ihm.

„Du guckst, als hätte man dich persönlich auf die Bühne gebeten. So schlimm war es doch nicht.“

„Zumindest hat nicht alle fünf Minuten jemand gesungen.“ Er schloss die Augen und verzog gequält das Gesicht, als würde er noch einmal das gesamte Stück an seinem inneren Auge vorbeiziehen sehen. „Ich höre immer noch den Applaus. Wieso applaudieren im Theater immer alle doppelt und dreifach? Man hat Geld dafür bezahlt. Das ist der Lohn für diese „Künstler“, das Geld, nicht das Geräusch, das Menschen machen, wenn sie ihre Extremitäten aufeinanderhauen.“

„Mein armer Schatz.“ Sie hakt sich bei ihm ein und küsst ihn auf die Wange, doch er reagiert kaum, sondern geht stur weiter geradeaus. Als müsste er in einer bestimmten Zeit so viele Meilen wie möglich zwischen sich und das Theater bringen.

„Können wir bitte etwas essen? Oder darf ich mich betrinken? Ich muss die Erinnerungen an die letzten drei Stunden meines Lebens, die ich übrigens nie zurückkriegen werde, irgendwie abmildern.“

„Fragst du mich gerade wirklich um Erlaubnis, ob du Alkohol trinken darfst? Lucius, wie alt bist du?“

„Es macht nur dann wirklich Spaß, wenn ich deinen Segen habe und du mir morgen nicht vorhältst, dass ich mich schrecklich aufgeführt habe.“

„Du willst dich also schrecklich aufführen?“

„Ich will ein Glas Feuerwhiskey.“

In der Hoffnung, dass sich die Öffnungszeiten seit ihrem letzten Besuch nicht massiv verändert haben, apparieren sie in die Winkelgasse. Das Lokal „Zur Goldenen Chimäre“ ist wie eh und je nicht besonders stark besucht, aber es ist hell erleuchtet und durch das Fenster kann sie mindestens drei Tische sehen, an denen in aller Seelenruhe gegessen wird.

Obwohl sie weder besonders regelmäßig, noch besonders oft da gewesen sind, scheint der Wirt sie wiederzuerkennen und sie sitzen kaum, als schon eine Kellnerin vor ihnen steht und sie nach ihrer Bestellung fragt. Narzissa bittet um ein wenig Bedenkzeit, Lucius bittet um zwei Gläser Feuerwhiskey, von denen keins für sie gedacht ist.

„Du tust so, als hätte ich dich auf ein Rad gespannt – oder auf eine Streckbank.“ Die Erwähnung von mittelalterlichen Folterinstrumenten entlockt ihm ein schwaches Grinsen, aber so richtig erhellt sich sein Gemüt erst, als die Kellnerin zwei Gläser vor ihnen abstellt und die vollständige Bestellung entgegennimmt.

Nachdem das erste Glas geleert ist, landet Lucius' Hand auf ihrem Oberschenkel und während er sich am zweiten Glas in kleinen Schlucken abarbeitet, sind seine Finger unter den Saum ihres Rocks gerutscht und er hat sie auf der Sitzbank so weit an sich gezogen, dass neben ihr problemlos eine weitere, sehr korpulente Person Platz finden würde.

„Lucius, wir sind in der Öffentlichkeit.“

„Öffentlichkeit nennst du das?“ Es ist ihrer Konzentration nicht zuträglich, dass Lucius angefangen hat, kleine Kreise auf die Innenseite ihres Oberschenkels zu malen. Sie trägt zwar eine Strumpfhose, doch das ändert nichts daran, dass es eine Ablenkung ist.

„Ich nenne das Öffentlichkeit.“

„Wir kennen hier niemanden. Wir haben hier absolut noch niemals irgendwen getroffen, den wir kennen.“ Das war durchaus richtig, aber mehr auch nicht. Sanft nahm sie seine Hand und verschränkte ihre Finger in seinen. Er hebt ihre ineinander verschlungenen Hände an und küsst ihren Handrücken. „Ich liebe dich.“

„Trink vielleicht ein Glas Wasser, bevor du weitermachst.“ Als das Essen serviert wird, ordert Narzissa zusätzlich zu dem Wein, den Lucius für sich bestellt hat, und ihrem eigenen Saft ein Glas Wasser. Lucius bestellt zwei weitere Gläser Whiskey und allmählich scheint die Bedienung zu begreifen, dass sie es hier mit zwei sehr gegensätzlichen Bestellansätzen zu tun hat.

Sie aßen schweigend, denn auch Narzissa war hungrig und mit vollem Mund sprechen, das fehlte ihr gerade noch, um auf die schwarze Liste des Wirts zu kommen, der ihr immer wie ein Mensch erschienen war, der vom alten Schlag ist. Als sie ihr Besteck auf den Teller legte, leerte Lucius sein Glas Wein. Die Kellnerin räumte die leeren Teller – und die erste Ladung Whiskeygläser – ab und ging kopfschüttelnd in Richtung der Theke.

„Es wird dir morgen furchtbar gehen. Du wirst Kopfschmerzen haben.“

„Ich werde so oder so Kopfschmerzen haben. Das stand ab dem zweiten Akt fest.“

„Also mir hat es gefallen.“

„Und das ist die Hauptsache.“ Er küsste sie und verfehlte ihren Mund dabei nur um wenige Zentimeter.

„Öffentlichkeit!“

„Jetzt stell dich nicht an, Zissy. Kein Mensch achtet auf uns.“

„Wir sind keine Teenager mehr.“ Und obendrein bemerkte sie immer wieder, wie sie erkannt wurde, wenn sie durch die Winkelgasse ging. Sie dachte ernsthaft darüber nach, brünett zu werden und sich so ein bisschen zu tarnen. Besonders die „Hexenwoche“ hatte auf eine bildhafte Berichterstattung gesetzt und als Rita Kimmkorn ihr Hochzeitsbild veröffentlicht hatte – wusste der Teufel, wie sie es in die Finger bekommen hatte –,  da hatte Narzissa der selbsternannten Star-Reporterin einen eindringlichen Besuch abgestattet. Seitdem verzichtete Rita wenigstens auf private Photographien und kopierte stattdessen irgendwelche offiziellen Stellungnahmen von „alten Bekannten der Familie Malfoy“, deren Namen Narzissa noch nie zuvor gehört hatte.

Die Bedienung räusperte sich verschämt und stellte die neuen Getränke ab. Als Lucius nach dem Whiskey griff, packte sie sein Handgelenk. „Versprich mir, dass du gleich noch alleine apparieren kannst.“

„Ich kann es versuchen.“ Er lächelte und diesmal landete ein Kuss mitten auf ihrem Mund. „Aber ich verspreche dir gar nichts mehr. Wer weiß, ob mir nicht diesmal ein grünes Horn wächst, passend zu den Furunkeln.“

„Einen schönen Mann kann nichts entstellen.“ Sie ließ seine Hand los. „Außer einem Glas zu viel.“

„Ich dachte, ich habe heute deinen Segen?“

„Wirst du noch eine Runde bestellen, wenn ich das vierte Glas trinke?“ Solange sie einander kannten, hatte er sie noch nie betrunken erlebt. Es gab vielleicht drei Abende in ihrem ganzen Leben, an denen sie die Kontrolle verloren hatte und dabei war sie stets in der Gesellschaft von Samara und Diana gewesen. Lucius hatte es zwar nie genau so gesagt, aber sie wusste, dass er vermutlich für immer und ewig darauf warten würde, sie einmal richtig beschwipst zu erleben.

„Aller guten Dinge sind bekanntlich drei… aber nur, wenn du mir ein bisschen hilfst. Ich trage dich auch nach Hause.“ Er beugte sich zu ihr vor und wanderte mit seinen Lippen über ihre Wange in Richtung ihres Ohrs. „Ich wollte schon immer mal wissen, was passiert, wenn deine Zunge sich lockert.“

„Du führst dich wirklich schrecklich auf.“

„Und ich musste eine wirklich schreckliche Aufführung mitansehen. Das war der Deal, oder?“ Mit einem eindeutigen Zeichen bat er die Kellnerin um die dritte Runde, während er ihr ein volles Glas in die Hand drückte und sie dazu ermunterte, anständig mit ihm anzustoßen. Narzissa bildete sich ein, dass die Bedienung schmunzelte, als sie an ihren Tisch zurückkehrte.

* * *



Am Samstagmorgen war ihr weniger schlecht gewesen, als sie es befürchtet hatte. Die nachhaltigste Folge des Abends war Lucius, der lange nicht mehr so anhänglich gewesen war. Er ließ sie keine Minute in Ruhe und sie war beinahe ein bisschen erleichtert, als er sich am Sonntagmittag in die Küche begab, um einen Kuchen zu fabrizieren, der Andromeda endgültig beweisen musste, dass sie ihn unterschätzt hatte.

Obwohl sie es sich eigentlich im Wohnzimmer mit einem Buch gemütlich gemacht hat, kann sie nicht widerstehen und geht immer wieder in die Küche, um sich die Zwischenstufen von Lucius' Projekt anzusehen. Als sie das fünfte Mal das Sofa verlässt, findet sie ihn vor, wie er vor dem Backofen kniet und hochzufrieden aussieht.

„Es ist wirklich süß, dass du dir für Andromeda so viel Mühe gibst.“ Er steht auf und sieht sie bestürzt an.

„Hast du mich gerade wirklich süß genannt?“ Er rümpft die Nase. „Das ist eine Premiere.“

„Wenn du dich zu alt und männlich fühlst, um süß genannt zu werden, dann sage ich eben, dass es freundlich von dir ist.“

„Das klingt noch schlimmer.“

„Na also.“

Eigentlich hat sie vorgehabt, ihn nur ganz kurz zu küssen, aber er zieht sie an sich und sie findet sich innerhalb von Sekunden zwischen ihm und der Anrichte wieder. Noch immer weiß sie nicht so genau, was sich am Freitagabend eigentlich geändert hat, was da eigentlich passiert ist, aber sie wird sich nicht darüber beschweren, dass er zum ersten Mal seit September ein ganzes Wochenende lang nicht in seinem Arbeitszimmer gewesen ist.

Ihr Bauchgefühl sagt ihr, dass es mit dem Zauber schon am nächsten Tag vorbei sein wird, wenn er wieder im Ministerium gewesen und die nüchterne Realität nicht zu leugnen ist, aber bis dahin kann sie es ja genießen, dass er sie küsst, wann immer sie ihn nicht daran hindert. Gerade als sie ihre Arme um ihn geschlungen hat und seine Hände in Richtung ihrer Brüste wandern, hört sie ein Räuspern. Lucius weicht von ihr zurück, gerade noch schnell genug, damit sie sieht, wie Andromeda sich gegen den Türrahmen lehnt und sich ein Grinsen verbeißt.

„Entschuldigung. Ich bin ein bisschen früh dran, aber Teddy ist gerade eingeschlafen und ich dachte, das wäre ein schöner Moment, um ganz in Ruhe den Kamin zu wechseln.“ Narzissa ist sich sicher, dass ihre Gesichtsfarbe lange nicht mehr so gesund gewesen ist und sie streicht automatisch über ihre Kleidung, um den Stoff zu glätten. Lucius fokussiert sich auf den Kuchen, ohne dabei besonders peinlich berührt zu wirken, aber sie kann ihm ansehen, dass er hofft, nicht als Erstes etwas sagen zu müssen. „Na ja, macht ja nichts. Minerva hat vergessen, bei der Stellenbeschreibung zu erwähnen, dass es offenbar ein wesentlicher Teil des Lehrer-Daseins ist, jeden Tag über irgendwelche Pärchen zu stolpern. Vielleicht liegt mein Büro auch in einem ungünstigen Korridor, ich weiß es nicht. Aber man gewöhnt sich an alles.“

„Welchen Tee hättest du gern?“ Nun lacht Andromeda wirklich auf und Narzissa zuckt ratlos die Schultern.

„Wir hätten diesen unbehaglichen Moment irgendwann in den Siebzigern hinter uns bringen sollen.“ Dieser Satz war an und für sich absurd, aber da war etwas dran. Es war verrückt, wenn man daran dachte, wie lange Lucius und sie einander schon kannten. Und wie wenig Andromeda doch eigentlich verpasst hatte, obwohl sie so lange nicht wirklich ein Teil ihres Lebens gewesen war. Kein präsenter Teil zumindest. „Früchtetee wäre schön. Was immer du da hast.“

„Granatapfel? Waldfrucht… Himbeere?“

„Granatapfel, wenn du so fragst. Dieser Kuchen riecht dekadent.“

Chapter 46: Kavaliersdelikte

Chapter Text

46 – Kavaliersdelikte



Gestern Abend hatte Draco ihr mitgeteilt, dass Gregory über Nacht in Malfoy Manor bleiben würde. Zum ersten Mal, seitdem Draco aus dem Hogwarts-Express gestiegen war, hatte er keine miserable Laune. Die Weihnachtstage waren ein wenig anstrengend gewesen, auch wenn Draco sich in der Gegenwart von Andromeda und Teddy merklich zusammenriss. Überhaupt war er nicht mehr ganz so in sich gekehrt wie im Sommer und sie war beinahe versucht, ihn zu fragen, ob Astoria Greengrass sie mit ihrer Anwesenheit beehren würde, doch auf einen Hinweis von Andromeda hin tat sie es nicht. Ihre Schwester hatte entweder einen bemerkenswerten Blick für Zwischenmenschliches oder sie selbst war einfach auf beiden Augen blind.

Es war beruhigend zu wissen, dass Draco den Jahreswechsel nicht allein verbracht hatte und sie war enttäuscht, als sie am Vormittag an seine Zimmertür klopfte und Gregory nicht mehr zu sehen war. Bevor Lucius und sie am Abend nach London appariert waren, hatte sie vielleicht zehn Minuten gehabt, in denen Gregory sich ein bisschen von ihr ausfragen ließ. Er gab zwar in der Regel kürzere Antworten als Draco, aber dafür wehrte er sich nicht so. Als er ihr von einem Projekt aus dem Unterricht von Rubeus Hagrid berichtete, da blühte er richtig auf und Narzissa nahm sich vor, sobald wie möglich herauszufinden, was Pennyfeathers waren.

„Frohes, neues Jahr, mein Schatz.“

„Frohes, neues Jahr, Mum.“ Draco lächelte. Und er war bereits geduscht und vollständig angezogen, dabei war es noch gar nicht so spät und wenn sie nicht mit Gregory gerechnet hätte, dann wäre es ihr im Leben nicht eingefallen, ihren Morgenmantel gegen richtige Kleider einzutauschen.

„Ist Gregory schon wieder nach Hause gegangen?“

„Vor ein paar Minuten. Sein Vater und er haben wohl ausgemacht, dass sie miteinander frühstücken wollen, deswegen hat er sich einen Wecker gestellt.“

„Und du bist aus Solidarität gleich mit aufgestanden?“ Er sieht ertappt aus und sie entscheidet sich dafür, keine bohrenden Fragen zu stellen, sondern abzuwarten, was als Nächstes kommt. Vielleicht ist es fehlgeleitete mütterliche Intuition, aber sie ist sich sicher, dass Draco ihr diesmal keine Märchen erzählen oder sie abweisen wird. Dafür ist seine Laune zu gut.

„Dad schenkt dir doch manchmal Blumen, oder?“ Interessante Frage. Es ist nicht ganz klar, worauf genau diese Frage abzielt, auch wenn sie eine Vermutung hat.

„Ja, manchmal.“

„Was für Blumen sind das so?“

„Ach, ganz verschieden. Du musst dich nur mal im Haus umgucken. Ich glaube, abgesehen von ein paar Kräutern habe ich noch nie selbst etwas ausgesucht.“ Diese Antwort scheint in Dracos Augen absolut unbrauchbar zu sein, doch er will sie seine Frustration darüber nicht spüren lassen. „Brauchst du Hilfe bei einer Hausaufgabe für Professor Sprout?“

„Nein, ich… über welche Blumen hast du dich am meisten gefreut?“ Nun muss sie wegschauen, um ihn nicht zu belächeln. Ein besonders unauffälliges Manöver ist das hier nun wirklich nicht. „Ich will mich bei jemandem entschuldigen. Und ich dachte, Blumen wären vielleicht ein guter Ansatz.“

„Blumen sind ganz sicher ein guter Ansatz.“ Auf einmal sieht sie das Meer aus gelben Rosen vor sich, das an einem anderen Neujahrsmorgen neben ihrem Bett gestanden hat. Das waren die ersten Blumen, mit denen Lucius sich bei ihr hatte entschuldigen wollen. „Rosen sind immer eine sichere Sache… aber es kommt natürlich ganz auf das Mädchen an.“

„Ich habe nicht gesagt, dass die Blumen für ein Mädchen sind.“

„Möchtest du mir also erklären, dass du dich bei einem deiner männlichen Freunde mit einem Strauß Blumen entschuldigen willst?“ Draco sagt nichts und sie beschließt, gnädig zu sein. „Im Garten blühen die Schneerosen. Du kannst ein paar abschneiden und zu einem hübschen Strauß binden. Oder du gehst zu einem Floristen… aber da musst du deinen Vater fragen, wer dir da an diesem Datum und um diese Uhrzeit nicht die Tür vor der Nase zuschlägt.“

„Schneerosen… wie sehen die aus?“

„Aus der Ferne fast wie normale Rosen. Nur nicht so zimperlich.“

„Okay. Danke.“

„Soll ich dir beim Schneiden helfen?“

„Nein, das geht schon.“ Draco macht den Eindruck, als würde er am liebsten gleich zur Tat schreiten und sie gibt den Türrahmen frei. Als er an ihr vorbeigeht, bemerkt sie, dass er ein Hemd trägt und sich offenbar an einem Bügelzauber versucht hat.

„Verrätst du mir, wen du mit meinen Blumen beglücken möchtest?“

„Kommt drauf an.“

„Worauf kommt es an?“

„Auf ihre Reaktion.“ Ehe sie die nächste Frage formulieren konnte, war er in Richtung des Gartens verschwunden.

* * *



Die Zeit bis zu Dracos Rückkehr vertrieben Lucius und sie sich mit Spekulationen darüber, für wen die Blumen bestimmt waren. Lucius setzte auf Astoria Greengrass, doch Narzissa war sich da nicht ganz so sicher. Ihr war nicht entgangen, dass Draco in einem seiner Briefe Pansy erwähnt hatte. Eher in einem Nebensatz, aber trotzdem. Außerdem hatte sie nicht vergessen, dass Andromeda ihr davon abgeraten hatte, nach Astoria zu fragen – und dafür würde es ja wohl einen Grund geben.

„Was glaubst du, wofür er sich entschuldigen will?“ Es war gut möglich, dass Lucius das Thema bereits leid geworden war, doch er blätterte träge in der Feiertagsausgabe des „Tagespropheten“ und wirkte nicht so, als würde es ihn sehr stören, dass sie ihn unterbrach.

„Was weiß ich denn schon. Aber wenn er Blumen verschenkt, dann wird es wohl eine ernste Angelegenheit sein.“ Ihm war wohl gar nicht klar, wie viel er damit von sich selbst preisgab und er schnappte überrascht nach Luft, als sie sich an ihn schmiegte und einen Kuss auf seinem Hals platzierte.

„Hast du also wirklich nie einer anderen Frau Blumen geschenkt?“

„Doch.“ Gemächlich faltete er die Zeitung zusammen und schien kaum wahrzunehmen, dass sie ihre Zähne in seinen Hals bohrte. „Meiner Mutter. Sie hat sich nichts aus selbstgebastelten Geschenken gemacht, deswegen hat mein Vater Xenophilius und mich immer mit zu einem Floristen genommen, damit wir etwas für sie aussuchen. Zum Muttertag, zu ihrem Geburtstag – zu Weihnachten haben wir gebacken.“

„Das hast du mir noch nie erzählt.“ Sie wollte nicht schmollen. Eigentlich müsste sie sich darüber freuen, dass sie nicht all seine Geschichten kannte, aber diese Erinnerung kam ihr so essentiell vor, dass es sie doch irgendwie kränkte, nie zuvor davon gehört zu haben.

„Warum hätte ich das erwähnen sollen?“ Er schlingt einen Arm um sie und sie legt ihr Bein über sein Knie.

„Einfach so. Weil du sowieso schon selten von deiner Mutter sprichst. Ich weiß so wenig über sie.“

„Was willst du denn über sie wissen?“

„Kann ich nicht sagen. Ich habe ja keine Ahnung, was es zu wissen gäbe.“

„Sie hat gerne gesungen. Französische Chansons, obwohl sie überhaupt kein Französisch sprechen konnte, sie fand nur, es klang so schön. Jeden Sonntag hat sie darauf bestanden, dass wir spazieren gehen, egal bei welchem Wetter, überhaupt mochte sie Regen, zumindest hat sie nie darüber gemeckert, sondern immer behauptet, es gäbe kein schlechtes Wetter. Sie war unheimlich klug… und sie wollte immer, dass ich Pianist werde. Sie meinte, ich hätte die richtigen Hände dazu.“

Das Klavier. Das Klavier, das schon in der Londoner Wohnung gestanden und als Ablage für Akten und Jacken gedient hatte. Sie drehte sich um und da stand es natürlich immer noch. In der Ecke, in die sie es nach dem Umzug gerückt hatten. Die Tasten waren unter dem Deckel verborgen und oben auf dem Klavier stand eine Lampe, die sie selten anmachten.

„Und kannst du spielen?“

„Mittlerweile bestimmt nicht mehr. Ich war auch nie gut, durchschnittlich, wenn überhaupt. Es hat mir auch keinen besonderen Spaß gemacht, aber meiner Mutter zuliebe habe ich nicht aufgehört, bis ich nach Hogwarts gegangen bin. Und es war irgendwie auch schön, dass sie so getan hat, als könnte ich das wirklich gut. Das konnte sie sowieso sehr gut, sie hat es irgendwie geschafft, dass ich mir neben Xenophilius nicht allzu beschränkt vorkam.“ Er lächelt. „Sie war immer auf meiner Seite. Genau wie du.“ Er streicht mit seiner Hand über ihr Bein. „Überhaupt bin ich mir sicher, sie hätte dich sehr gemocht.“

„Ich hätte sie bestimmt auch gemocht.“

„Bestimmt. Aber du hast ja irgendwie sogar meinen Vater ins Herz geschlossen.“

„Abraxas hat sich ja auch sehr um mich bemüht.“ Lucius verzog das Gesicht und gab ihr einen Kuss, der vielleicht einzig und allein den Zweck hatte, dass sie nicht ins Schwärmen über den formvollendeten Charakter von Abraxas Malfoy geriet.

* * *



Wenn sie am Morgen noch gedacht hat, dass Dracos Laune sich im Vergleich zu den letzten Tagen um hundert Prozent verbessert hat, dann weiß sie nicht, wie sie seinen Zustand beschreiben soll, als er – pünktlich zum Abendessen – am Esstisch erscheint. Lucius und sie wechseln einen vielsagenden Blick, denn ihr Sohn sieht nicht wie jemand aus, dem Dornen ins Gesicht geschleudert worden sind.

„Und? Wurde deine Entschuldigung anerkannt?“ Die leichte Veränderung von Dracos Gesichtsfarbe war eigentlich Antwort genug, doch vielleicht war es ihm auch peinlich, dass sie das Thema vor Lucius anschnitt. Es war nicht ausgeschlossen, dass er sich vielleicht noch Illusionen darüber machte, dass sie und Lucius nicht über ihn sprachen.

„Ich denke schon.“

„Dann erfahren wir jetzt, wer die Glückliche ist?“

„Zissy, jetzt lass ihn doch in Ruhe essen. Er hat sich ja gerade erst hingesetzt.“ Draco wirkte überrascht, dass Lucius ihr in die Parade fuhr und ihm selbst so wertvolle Sekunden verschaffte, in denen er sich sammeln konnte. „Nicht, dass mich nicht auch interessieren würde, wo du den ganzen Tag gewesen bist.“

„Bei Pansy.“ Der triumphierende Blick, den sie Lucius zuwarf, entging Draco nicht – und da wurden dann die allerletzten Illusionen zu Grabe getragen. „Ihr seid furchtbar. Ihr ward schon immer furchtbar, wenn es um Pansy ging. Woran liegt das? Im Sommer seid ihr doch auch nicht hinter mir her gewesen, weil Astoria mich ein paar Mal besucht hat.“ Ein paar Mal. Das war die Untertreibung des Jahres, aber wenn Draco sich nun entschlossen hatte, sich auf Pansy zu konzentrieren, dann war es nur natürlich, dass er den Sommer mit Astoria ein wenig herunterspielte.

„Wir haben uns zusammengerissen.“

„Aber da hast du auch keine Blumen verschenkt.“ Mahnend tritt sie Lucius unterm Tisch auf den Fuß, doch es ist schon zu spät. Draco stöhnt gequält auf und sieht sie vorwurfsvoll an.

„Du kannst echt nichts für dich behalten, oder?“

„Du hast mich nicht darum gebeten, es für mich zu behalten.“

„Kommt nicht wieder vor.“ Sein eigener Anfängerfehler scheint Draco zu wurmen, aber noch immer ist er nicht so richtig verstimmt.

„Lernen wir Pansy dann jetzt vielleicht endlich mal kennen?“

„Wir sind nicht zusammen oder so.“ Noch nicht. Diese zwei kleinen Worte lagen so eindeutig in der Luft, dass Lucius sich ungläubig räusperte. „Sie hat mir lediglich zugehört. Ich habe mich vor den Ferien ein bisschen doof verhalten, weil… ist ja auch egal wieso, jedenfalls habe ich mich entschuldigt. Und wir haben uns unterhalten.“

„Und du hast ihre Eltern kennengelernt. Oder hast du sie nicht bei sich zuhause besucht?“

„Doch, schon.“

„Dann könntest du sie ja im Gegenzug auch einladen. Die Ferien sind ja noch nicht vorbei.“ Dieser Einwurf kommt von Lucius, der die Unterhaltung zwischen ihr und Draco sehr aufmerksam verfolgt.

„Ich glaube nicht, dass ich das möchte. Andromeda und Teddy kommen morgen doch wieder vorbei, ist das nicht so? Und das Ministerium schickt am Monatsanfang doch auch immer jemanden, der das Haus und eure Zauberstäbe überprüft, oder?“

„Meinen Zauberstab, dein Vater hat seinen Zauberstab im Ministerium.“

„Das meine ich doch. So eine Inspektion und die Anwesenheit von einer Lehrerin und einem Kleinkind sind vielleicht ein bisschen viel. Außerdem hab ich noch eine Tonne Hausaufgaben und vielleicht wollte ich Gregory auch nochmal besuchen und überhaupt.“

„Na gut, ich verstehe schon. Aber versprich mir eine Sache, ja?“

„Was denn?“

„Wenn ihr im Sommer zusammen seid, dann wird sie mit uns wenigstens einmal zu Abend essen. Versprochen?“

„Versprochen, Mum.“ Augenblicklich zuckt Draco zusammen. Seine Gabel fällt mit einem Klirren auf den Teller und Lucius lacht auf.

„Das war ein böser Fehler, Draco.“ Entgeistert sieht Draco erst seinen Vater an und dann wieder sie.

„Hast du mich gerade verhext?!“ Angesichts von Dracos empörtem Tonfall fängt Lucius nun an, richtig zu lachen. Seinen Vater dabei zu sehen, wie er vor Freude keine Luft mehr bekommt, scheint Draco nur noch mehr aus dem Konzept zu bringen. „Mum! Ich bin dein Kind! Hast du gerade dein Kind verhext?!“

„Möglicherweise.“

„Mum!“

„Es wird dich nicht deinen kleinen Finger kosten… aber es wird dir eine Lehre sein. Man bricht nicht einfach so seine Versprechen. Ganz besonders nicht seiner Mutter gegenüber.“

„Meinst du nicht, eine Lehrerin, die mit dem Holzhammer vorgeht, in der näheren Verwandtschaft wäre irgendwie genug?“

„Würdest du den Spruch gerne lernen?“

„Bitte.“ Resigniert dreht Draco sich zu Lucius um, der wieder normal atmet, aber immer noch sehr heiter ist. „Wie oft ist dir das schon passiert?“

„Einmal und nie wieder.“ Diese Antwort scheint Draco nicht zu besänftigen. Seine Gabel liegt noch immer quer auf seinem Teller. Der Griff ist bereits im Kartoffelpüree versunken. „Bring das Mädchen einfach mit. Oder trag die Konsequenzen. Aber das kann es unmöglich Wert sein – und Pansy ist bestimmt ganz hinreißend.“

„Willst du mich gerade irgendwie trösten?“

„Klappt es?“

„Nein. Fühlt sich merkwürdig an.“ Draco rümpft die Nase und wendet sich wieder ihr zu. „Könnte aber auch sein, dass ich mich merkwürdig fühle, weil ich gerade verhext wurde. Von meiner eigenen Mutter.“

„Du musst das nicht ständig wiederholen, Schatz. Ich hab nicht vergessen, dass ich deine Mutter bin.“

* * *



Es braucht die eine oder andere ereignislose, gemeinsame Mahlzeit, bis Draco ihr vergibt und aufhört, sich innerlich zu ducken, aber am Abend, bevor es nach Hogwarts zurückgeht, steht er auf einmal ganz redebedürftig vor ihr. Lucius ist im Ministerium und sie hat sich der Post angenommen, die an die Apotheken noch vor der Mitte des Monats rausgehen muss. Am besten in Verbindung mit dem einen oder anderen persönlichen Besuch.

Betont gelassen lässt Draco sich in den Sessel auf der anderen Seite des Schreibtischs fallen. Er nimmt einen gläsernen Briefbeschwerer, der seinem Urgroßvater gehört hat und lässt in von einer Hand in die andere rollen.

„Ich wollte mit dir über noch was reden.“

„Nur zu.“  

„Aber erzähl es bitte nicht Dad. Das geht ihn wirklich nichts an.“ Nun wird sie hellhörig und legt die Feder zur Seite. Sogar das Tintenfass schraubt sie zu. „Eigentlich geht es dich auch nichts an, aber ich glaube, du hast da eher Verständnis für und… sag es ihm nicht, ja?“

„Einverstanden.“ Jetzt ist sie wirklich gespannt. Am liebsten hätte sie auch etwas gehabt, das sie durch ihre Finger wandern lassen konnte. Seine offensichtliche Anspannung war ansteckend.

„Hattest du schon mal das Gefühl, dass du jemanden vielleicht überhaupt nicht kennst, obwohl du eigentlich dachtest, dass du denjenigen wirklich gut kennst?“

„Ja, das Gefühl hatte ich schonmal.“

„Bei wem?“

„Bei deinem Vater. Mehrmals. Manchmal auch bei Freundinnen, die vielleicht doch eher Bekannte waren. Bei Andromeda auch einmal, aber das ist ewig her.“ Die von ihr gewählten Beispiele schienen ihn zu beruhigen. „Manchmal denkt man, man hätte sich in jemandem getäuscht, aber es kann auch sein, dass man sich nur besser kennenlernt. Jemanden so gut zu kennen wie sich selbst, das ist unmöglich. Wenn man nicht gerade zu Legilmentik greift.“

Einen Moment lang sagt er überhaupt nichts, aber dann stellt er den Briefbeschwerer zurück auf den Tisch und holt entschlossen Luft. „Gregory hat mir an Silvester erzählt, dass er schwul ist.“

„Und das findest du schlimm?“

„Nein, überhaupt nicht. Aber ich habe es so gar nicht kommen sehen. Ich habe noch nie darüber nachgedacht, dass es sein könnte, wirklich noch nie – und deswegen komme ich mir irgendwie blöd vor. Und wie ein ziemlich schlechter Freund. Ich meine, ich kenne ihn mein ganzes Leben lang, niemand kennt ihn länger, außer seinem Vater vielleicht, und trotzdem wusste ich es nicht. Hab es nicht mal vermutet. Bin ich so unaufmerksam? War es irgendwie offensichtlich und nur ich hab es nicht mitbekommen?“ Draco spricht so schnell, dass er einzelne Silben verschluckt und hat den Briefbeschwerer wieder in die Hände genommen. „Pansy hat es gewusst. Astoria auch. Beide kennen ihn eigentlich gar nicht. Wieso hab ich es nicht gewusst? Oder wenigstens geahnt?“

„Das kann ich dir auch nicht sagen… vielleicht sind Pansy und Astoria sehr empathische Menschen? Vielleicht hat Gregory sich auch wohler dabei gefühlt, es ihnen zu sagen, gerade weil sie ihn nicht so gut oder so lange kennen wie du? Oder er hat die Reaktion von einem Mädchen weniger gefürchtet?“

„Kann alles sein. Ich weiß gar nicht, wie Astoria es herausbekommen hat. Sie hat wohl… keine Ahnung, sie hat ihn wohl gesehen. Mit Vincent.“

„Vincent?“

„Crabbe.“

„Ich weiß, wer Vincent ist. Jetzt war ich bloß überrascht.“

„Ja, ich auch. Ich meine, ich hab Vincent gar nicht so gut gekannt, so richtig unterhalten haben wir uns nie, aber… wie kann mir das entgangen sein?“

„Also falls es dich irgendwie tröstet, ich habe es auch nicht gewusst. Ich habe Gregory in den letzten Jahren aber leider auch nicht allzu oft gesehen. Allerdings hat er sich immer sehr viel Mühe bei meinen Geburtstagskarten gegeben. Einmal habe ich sogar eine glitzernde Karte bekommen. Vielleicht war das ein Hinweis?“ Draco lacht, aber er wirkt erleichtert darüber, dass sie ein bisschen albern ist und ihm nicht vorhält, ein schlechter und blinder Freund zu sein. „Vermutlich war es kein Hinweis, er wollte sicher mir eine Freude machen. Vielleicht gab es gar keine Hinweise. Du musst dich nicht blöd fühlen, weil du nicht damit gerechnet hast.“ Auf einmal beschleicht sie ein furchtbarer Verdacht. „Gregory ist an Neujahr doch nicht deswegen so früh verschwunden, oder? Ihr habt doch nicht gestritten?“

„Nein! Natürlich nicht! Er hat es mir eigentlich gleich erzählt, als er hergekommen ist, also schon nachmittags… wollte es wohl unbedingt loswerden. Wir haben… wir haben noch ein bisschen darüber geredet, aber ich wollte ihn auch nicht drängeln. Ich hab… oh Gott, das klingt jetzt wirklich bescheuert, aber ich dachte das ganze Halbjahr über, zwischen ihm und Pansy würde was laufen. Plötzlich haben die beiden sich total gut verstanden und Pansy ist ihm kaum von der Seite gewichen. Kurz vor Weihnachten gab es einen Abend, da hat sie ihn im Gemeinschaftsraum geküsst. Danach konnte ich irgendwie gar nicht mehr mit ihm umgehen. Ich hab mich ziemlich beschissen benommen.“

„Du warst eifersüchtig. Da ist es normal, dass man sich beschissen benimmt.“ Er lächelt zerknirscht. „Hast du dich dafür bei Pansy entschuldigt?“

„Unter anderem. Nachdem Gregory mir dann eröffnet hat, dass Pansy über ihn Bescheid weiß und dass sie sich eigentlich nur so anhänglich verhalten hat, um mich zu provozieren… das konnte ich ja nicht einfach so stehen lassen! Ich hab mich zwar vor den Ferien schon für eine ganze Menge Sachen entschuldigt, aber sie vertraut mir nicht. Gregory vertraut sie, aber mir nicht. Da kann ich sagen, was ich will. Daran ändern auch Blumen nichts.“

„Gib nicht auf. Und gib ihr Zeit. Solche Sachen brauchen Zeit.“ Sie lächelt. „Und danke.“

„Danke?“

„Du lässt mich an deinem Leben teilhaben. Das ist nicht selbstverständlich und ich bin froh darüber. Deinen Vater schließt du oft aus. Im Sommer hast du mich auch ausgeschlossen.“ Draco öffnet den Mund, doch sie unterbricht ihn. Sie war noch nicht fertig. „Du musst dich dafür nicht entschuldigen. Ich bin nur froh, wenn wir wieder richtig miteinander sprechen können.“

„Du hast mich auch ausgeschlossen. Von Andromeda hast du nur das Nötigste erzählt – und nur die irrelevanten Sachen. Ich meine, ich wusste, dass Teddy existiert, aber du hast mir nicht gesagt, dass du dich um ihn kümmerst. Und Andromeda war diejenige, die erwähnt hat, dass Potter sein Pate ist.“ Dieses Detail scheint ihn zu fuchsen und eigentlich kann sie erraten, was er sie als Nächstes fragen wird. „War er hier?“

„Nein, war er nicht. Im November hat Andromeda sich ein Wochenende lang um Teddy gekümmert, da hat sie Harry auch zu sich eingeladen. Nach Weihnachten war sie ja auch nicht immer hier, da hat sie ihn auch gesehen.“ Draco verzieht das Gesicht zu einer Grimasse.

„Es klingt so seltsam, wenn du ihn Harry nennst.“

„So heißt er nun einmal.“

„Ich weiß.“

„Es ist doch nicht für immer. Wir haben schon darüber gesprochen… im Sommer wird Andromeda sich überlegen, ob sie in Hogwarts bleibt. Und vielleicht nimmt sie Teddy dann zu sich. Für sie ist die Situation ja auch vollkommen neu, aber nach einem Jahr fühlt sie sich in Hogwarts auch nicht mehr wie eine Fremde und dann wird sich das alles wie von selbst lösen.“

„Sie ist eine ziemlich gute Lehrerin. Aber auch ziemlich gruselig… manchmal erinnert sie mich an Bellatrix. Also an Bellatrix an ihren guten Tagen.“

„Mich auch.“ An die guten, an die in sehr weiter Ferne liegenden Tage. An die Bellatrix, die irgendwann verschwunden war, ohne dass Narzissa es gleich bemerkt hatte. Verschwunden in schwarzem Nebel und einer Wolke aus Rodolphus' Zigarrenrauch.

„Du wirst Dad nichts von Gregory und Pansy erzählen, oder?“

„Nein, das werde ich nicht. Aber dein Vater würde weder dich, noch Gregory verurteilen.“ Zum ersten Mal seit über einem Jahr bereitete ihr die Erinnerung an Rabastan Lestrange nicht ausschließlich Bauchschmerzen. „Er würde dich verstehen. Viel besser als du glaubst.“

Chapter 47: Alma Mater

Chapter Text


47 – Alma Mater



Pansy Parkinson trägt ein Sommerkleid in der Farbe von Apfelsinen und wirkt auch darüber hinaus sehr bemüht. Neben Pansys authentischer, gut kaschierter Nervosität erscheint ihr Astoria Greengrass wie eine schlechte Schauspielerin. Rückblickend hat sie wirklich viel zu dick aufgetragen und Narzissa kann gar nicht glauben, dass sie auf ein kleines Mädchen so hereingefallen ist. Das muss an den Engelshaaren und der Winzigkeit dieser Person gelegen haben. Pansy ist nicht winzig, sondern in etwa so groß wie Narzissa selbst.

Es ist Pansys Anspannung nicht zuträglich, dass Narzissa ihr direkt anbietet, sie doch beim Vornamen zu nennen. Diesem Entgegenkommen scheint Pansy instinktiv zu misstrauen und sie nimmt sich vor, Draco später danach zu fragen, was um alles in der Welt er diesem Mädchen über Lucius und sie erzählt hat. Natürlich, sie haben auf dieses Abendessen bestanden, aber besonders formell sollte es eigentlich nicht sein. Ein netter, unverfänglicher Abend, der Pansy signalisiert, dass sie jederzeit in Malfoy Manor willkommen ist.

Draco hält sich sehr zurück, springt für niemanden in die Bresche und überlässt es Pansy und ihr, miteinander ins Gespräch zu kommen. Ganz ähnlich geht Lucius vor und es kommt ihr wie ein taktischer Fehler vor, als Draco sich kurz vor dem Essen entschuldigt, um ins Badezimmer zu gehen und sie selbst in der Küche verschwindet, um das Essen aufzutragen.

Als Draco und sie etwa zeitgleich in das Esszimmer zurückkehren, in dem sie nur dann sitzen, wenn sie Besuch haben und es irgendwie merkwürdig wäre, gleich in der Küche zu essen, herrscht Schweigen. Lucius und Pansy wirken gleichermaßen verzweifelt darüber und der Blick, den sie von Lucius abbekommt, ähnelt dem Blick, den Draco kassiert. Niemand wirft irgendjemandem etwas vor und der Abend wäre ab diesem Punkt eventuell besser verlaufen, wenn Narzissa nicht ganz selbstverständlich den Auflauf abgestellt hätte. Plötzlich guckte Draco wie jemand, der mitten in der Nacht aufwachte und sich an einen kapitalen Fehler erinnerte, den er während seiner UTZ-Prüfung gemacht hatte.

„Oh verdammt.“ Es war nicht so, als hätte sie Draco noch nie fluchen gehört, aber für gewöhnlich brauchte es dafür mehr als ein Gericht.

„Ist etwas nicht in Ordnung?“ Sie sah Draco an, der sich offensichtlich unwohl fühlte und in diesem Moment räusperte sich Pansy.

„Ich esse eigentlich kein Fleisch. Also uneigentlich auch nicht. Ich esse kein Fleisch und ich… ich würde ungern eine Ausnahme machen.“

„Oh. Das hab ich leider nicht gewusst.“ Und es erklärte Dracos Gesichtsausdruck.

„Ich hab es vollkommen vergessen. Entschuldige, Mum… und entschuldige, Pansy.“

„Ja, entschuldige, Pansy.“ Narzissa versuchte, tapfer zu lächeln und nicht wie eine gekränkte Köchin zu wirken. Denn das war sie nicht. Elsi und sie waren an diesem Abendessen gleichermaßen beteiligt – und im Zweifelsfall hatte sie Elsi die Arbeit überlassen, denn sie wollte nichts verschmoren oder versalzen. „Es gibt auch noch Salat. Und Dessert. Tut mir wirklich leid, ich hätte selbst auf die Idee kommen können, Draco danach zu fragen, ob du irgendetwas nicht magst oder irgendwelche Allergien hast.“

„Salat klingt wunderbar.“

„Wenn du am Ende nicht satt wirst, dann musst du aber Bescheid sagen.“

Pansy machte eine abwehrende Geste. Nur keine Umstände. Es war offensichtlich, dass sie sich wegen ihrer Essgewohnheiten wie ein schlechter Gast vorkam und während Narzissa ihr dabei zusah, wie sie den Salat aß und von Draco verlegen seinen Pudding annahm, entwickelte Narzissa so etwas wie Respekt für Pansy Parkinson. Andere Mädchen hätten zweifelsohne einfach das gegessen, was auf den Tisch kam, um niemanden zu kränken, doch Pansy schien ihre Prinzipien zu haben, an denen ihr mehr lag als an einem Abendessen ohne Unannehmlichkeiten.

Nach dem Essen wurde Pansy ein bisschen gesprächiger und als Lucius sie danach fragte, was ihre Pläne für den Herbst waren, da zuckte sie nicht zurück oder verstummte vor Schreck, sondern kam richtig ins Erzählen.

„Ich möchte unbedingt studieren. Aber ich bin noch nicht ganz sicher, was das Fach anbelangt. In Oxford gibt es einen Studiengang, Magische Kulturen aus dem Geist der Antike, das klingt wirklich sehr spannend. Allerdings braucht man ein Nebenfach und da ist die Auswahl unheimlich groß, es gibt so viele Fächer, von denen man in Hogwarts noch nie etwas gehört hat… und das Vorlesungsverzeichnis ist dicker als jedes Buch, das ich jemals für die Schule gekauft habe. In Cambridge und Manchester habe ich mich auch beworben, aber dort wird sehr viel mehr Wert auf praktische Arbeit gelegt und ich fühle mich immer wohler, wenn ich eine Menge zu lesen und zu diskutieren habe.“ Lucius öffnet den Mund, um die naheliegende Frage zu stellen, was man mit so einem Studium dann am Ende anfangen kann, doch Pansy lässt es nicht dazu kommen und spricht einfach weiter. Mit einem charmanten, entschuldigenden Lächeln, weil es sich nicht gehört, jemandem das Wort abzuschneiden. „Und ich weiß noch nicht genau, was ich mit einem solchen Studium machen kann, aber ich weiß ja noch nicht einmal, ob es mir überhaupt gefällt, deswegen mache ich mir darüber noch keine großen Sorgen. Eine Ausbildung kann ich ja schließlich immer noch anfangen, wenn ich merke, dass ich an der Universität nicht zurechtkomme… oder es auf nichts hinausläuft.“ Lucius schmunzelt und versucht gar nicht erst, so zu tun, als hätte er danach nicht fragen wollen, also ergreift Narzissa das Wort.

„Es ist wirklich schön, dass du schon so klare Vorstellungen davon hast, was du machen möchtest. Die UTZ-Ergebnisse sind ja erst vor ein paar Tagen eingetrudelt.“ Lucius und sie haben sich geschworen, Pansy nicht nach ihren Noten auszufragen, sondern allerhöchstens nach ihren Interessen. Und nach ihrem Stundenplan.

„Ja… na ja, für den Studiengang in Oxford braucht man keine bestimmten UTZs… es ist eigentlich nur wichtig, dass man überhaupt einen Abschluss von Hogwarts oder einer anderen Schule hat und ich habe nicht damit gerechnet, dass ich überall durchfalle… deshalb habe ich meine Bewerbungsunterlagen schon vorbereitet und eigentlich nur auf das Zeugnis gewartet.“ Pansy lächelt. Es scheint sie wirklich zu entspannen, über etwas reden zu können, das sie interessiert. Im Gegensatz zu Draco scheint es sie nicht zu stören, nach Hogwarts gefragt zu werden und Narzissa beneidet Pansys Eltern unwillkürlich um ihre Tochter, der man nicht alles aus der Nase ziehen musste.

„Darf ich fragen, welche Fächer du belegt hast? Hattest du ein Lieblingsfach?“ Draco sieht sie mahnend an, aber das war eine ganz normale Nachfrage.

„Na ja, kein richtiges Lieblingsfach… ich mochte Zaubereigeschichte, auch wenn Professor Binns wirklich kein besonders guter Lehrer gewesen ist. Muggelkunde fand ich auch immer sehr spannend und wir hatten im letzten Jahr wirklich großartigen Unterricht! Ich weiß nicht, ob Draco davon erzählt hat… oder Professor Tonks, aber Professor Figg, die den Unterricht übernommen hat, ist selbst nie in Hogwarts gewesen. Sie ist ein Squib und hat zwei Brüder, die nach Hogwarts gegangen sind, während sie selbst eine ganz normale Schule besucht hat. Dadurch wusste sie zwar sehr genau Bescheid über Hogwarts, aber sie hatte auch einen Vergleich. Sie hat sehr viel erzählt… sie hat sogar ein Denkarium! Professor McGonagall und Professor Dumbledore haben ihr dabei geholfen, es einzurichten und wir haben ihre Erinnerungen besuchen dürfen. Das war wirklich etwas ganz Besonderes.“ Pansy redet wie ein Wasserfall, doch ein Seitenblick zu Lucius verrät ihr, dass auch er alles andere als gelangweilt ist. Sie haben eine gute und vor allem willige Erzählerin zu Gast. „Ansonsten habe ich Verwandlung, Kräuterkunde und Astronomie belegt. Verteidigung gegen die dunklen Künste war ja auch ein Muss… Zaubertränke hätte ich gerne weitergemacht, aber ich war zu schlecht.“

„Sechs UTZ-Kurse sind ja auch mehr als genug Aufwand.“ Narzissa ist bereit, das Thema fallen zu lassen, doch Lucius scheint seine sadistische Ader zu entdecken und stellt eine Falle.

„Was ist mit Zauberkunst? Ein UTZ in Zauberkunst wäre sicher auch nicht verkehrt gewesen.“

„Oh… ja… ja, sicher, verkehrt wäre es nicht gewesen, aber Zauberkunst war immer mein schwaches Hauptfach. Es wäre zwar möglich gewesen, in den UTZ-Kurs von Professor Flitwick zu kommen, aber ich wäre immer eine der Schlechtesten gewesen und… so furchtbar wichtig war es mir dann auch nicht. Die meisten Sprüche, die wir bei ihm gelernt haben, sind ja doch eher in Ausnahmesituationen gebräuchlich.“ Lucius beobachtet Narzissas Reaktion auf diese Schmähung und auch Draco wirkt ein wenig alarmiert, doch sie lässt sich nicht anmerken, dass sie Pansy nun doch gerne widersprechen würde. Vermutlich würde Draco ihr später mitteilen, dass er es offenbar bislang versäumt hatte, zu erwähnen, dass Narzissa sehr viel von Zauberkunst hielt. „Habe ich etwas Falsches gesagt?“

„Aber nicht doch.“ Narzissa lächelt. „Wir wollten dich auch nicht den ganzen Abend beanspruchen.“ Noch immer lächelt sie. „Ich werde in der Küche für Ordnung sorgen… ihr müsst nicht sitzen bleiben. Draco sollte dir unbedingt noch den Garten zeigen, ehe es dunkel wird.“

Leicht verunsichert steht Pansy auf und Draco nimmt ihre Hand, als er sie raus in den Garten führt. Lucius wirkt belustigt und folgt ihr inmitten der schwebenden Teller in die Küche. „Ich habe dich noch nie so viel Potenzial verschenken sehen, Liebling.“ Lucius schlingt einen Arm um sie und beobachtet, wie das Geschirr sich in die Spüle begibt und die Schwämme ihre Arbeit beginnen. Er zieht sie an sich, sodass ihr Rücken an seiner Brust landet. „Du hättest sie vernichten können. Sie stand mit beiden Füßen im Fettnapf.“

„Das ist mir nicht entgangen. Aber sie ist ein liebenswertes Mädchen. Und nur weil es mich enttäuscht hat, dass Draco kein Ohnegleichen in Zauberkunst geschafft hat, obwohl er sogar zwei Jahre Zeit für den Stoff hatte, bedeutet das nicht, dass ich Pansy nur deshalb nicht leiden könnte.“

„Also fandest du sie sympathisch?“

„Schon. Sehr geradlinig. Sie kann sich gut ausdrücken. Sie weiß, was sie will und was sie nicht will. Das sind wunderbare Eigenschaften für ein neunzehnjähriges Mädchen.“ Noch immer hält Lucius sie fest. Die ersten Teller haben ihren Weg bereits zurück in den Schrank gefunden. Lucius streicht ihre Haare zur Seite und drückt einen Kuss in ihre Halsbeuge. „Fandest du sie nicht nett?“

„Doch, nett fand ich sie.“

„Aber?“

„Findest du, sie passt zu Draco?“

„Warum sollte sie denn nicht zu ihm passen?“ Sie dreht sich zu ihm um. „Was hat dich an ihr gestört?“

„Nichts. Es ist nur so ein Gefühl… er war irgendwie angespannt. Er hat kaum ein Wort gesprochen. Normalerweise spricht er beim Essen mehr, wenn er nicht gerade seine schlechte Laune vor sich herträgt wie einen Schild.“ So wie er es üblicherweise tat, wenn er schlecht gelaunt war.

„Ich denke nicht, dass das an ihr lag. Du vergisst, dass wir dieses Abendessen forciert haben.“

„Na und? Warum ist es ihm so unangenehm, uns seine Freundin vorzustellen? Wir haben im Vorfeld nichts getan, was dazu führt, dass er stumm wie ein Fisch dort sitzt, oder? Wir haben kein schlechtes Wort über die Parkinsons verloren – wie sollte man das auch, man weiß ja quasi nichts über diese Familie. Und Muggelkunde, ich bitte dich, wir haben sie von Muggelkunde schwärmen lassen. Ich habe keine Miene verzogen.“

„Nein, hast du nicht, aber… ich will ja nicht behaupten, dass du senil wirst, aber erinnerst du dich nicht daran, wie ich deinen Vater kennengelernt habe? Ich habe euch zum ersten Mal an dem Tag, an dem Draco geboren wurde, halbwegs normal miteinander reden sehen. In seiner Gegenwart hast du den Mund kaum aufgemacht.“ Sie kann ihm ansehen, dass er den Abend unter diesem Gesichtspunkt noch nicht betrachtet hat.

„Aber ich bin doch nicht wie mein Vater, oder? Ich hatte das Gefühl… also so schlecht kommen Draco und ich in letzter Zeit gar nicht miteinander aus. Letzte Woche hat er mich sogar ins Ministerium begleitet, weil er mal gucken wollte, was ich eigentlich bei der Arbeit so mache. Freiwillig. Ich habe ihn nicht dazu gezwungen, der Vorschlag kam von ihm!“

„Ich weiß. Aber die Situation mit Pansy… meine Güte, vielleicht war es ihm einfach unangenehm. Vielleicht wegen der Sache mit dem Fleisch, das hätte er mir sagen müssen und er kam sich dumm vor, weil er nicht daran gedacht hat. Das hast du ihm doch angesehen.“

„Aber das war doch kein Drama.“

„Für ihn vielleicht schon.“

* * *



Begegnungen mit Pansy werden nicht zu einer Regelmäßigkeit, doch Draco versichert ihr, dass sie sich „schon okay“ verhalten hat. Was auch immer das genau zu sagen hat. Lucius und sie debattieren nicht mehr darüber, was für wen große oder kleine Dramen sind und als sie an einem schönen, unbelasteten Donnerstag im Juli den „Tagespropheten“ öffnet, da rechnet sie mit nichts Bösem. Auf der Titelseite des Panorama-Teils ist das gealterte, aber immer noch vertraute Gesicht von Constantin Chamberlain abgedruckt. Der Professor für Zauberkunst ist am vergangenen Sonntag im Alter von 87 Jahren friedlich entschlafen. Die Trauerfeier wurde im engsten Familienkreis abgehalten, die Hochschule für Praktische Hexerei zu Cambridge wird ihm zu Ehren einen historischen Hörsaal benennen, der im kommenden Herbst restauriert und somit endlich wieder nutzbar gemacht werden soll und Narzissa ist am Boden zerstört.

Es sind mehr als neunzehn Jahre vergangen, seitdem sie ihre Abschlussprüfung vor Professor Chamberlain und seiner Jury abgelegt hat. Neunzehn Jahre, in denen sie immer wieder an ihn zurückgedacht hat, aber nie wieder in Cambridge gewesen ist. Neunzehn Jahre, in denen sie immer wieder daran denken musste, dass sie Constantin Chamberlain „solche Bauchschmerzen“ bereitet hatte.

Draco ist zuhause, doch mit ihm kann sie nicht sprechen. Ihm kann sie nicht erklären, was Professor Chamberlain ihr bedeutet hat. Lucius würde es vielleicht verstehen, er würde nicht vergessen haben, wie gern sie studiert hatte und wie ungeheuer wichtig es ihr gewesen, dass Constantin Chamberlain eine gute Meinung von ihr hatte, doch Lucius war im Ministerium. Er würde den ganzen Tag dort sein und sie wollte ihn nicht im Büro stören. Es war ja kein Notfall. Es war einfach nur ein 87 Jahre alter Mann, der verstorben war.

Ehe sie anfängt, in der Küche im Kreis zu laufen oder die Zeitung in tausend Stücke zu reißen, verhält sie sich ähnlich irrational und disappariert nach Cambridge. Der Campus und das Hauptgebäude haben sich kaum verändert. Die Bäume sind höher, der Rasen kommt ihr ein wenig gelber und fleckiger vor als früher, aber es gibt keine massiven Unterschiede. Die Semesterferien haben bereits vor einigen Wochen angefangen und dementsprechend wenige Studenten kreuzen ihren Weg zum Hauptgebäude. Sie weiß gar nicht, was sie dort will. Dort gibt es nichts für sie außer ein bisschen Nostalgie. Oder noch mehr alten Studenten, die beim Aufschlagen des „Tagespropheten“ sentimental geworden sind. Ihre Füße erinnern sich an die Wege und es kommt ihr so vor, als wären es nur wenige Schritte gewesen, die von ihrer Küche zu dem Hörsaal geführt hätten, in dem sie ihre Abschlussprüfung abgelegt hat.

Neben der Tür hängt noch der Stundenplan des gerade erst vergangenen Sommersemesters und sie entdeckt einen oder zwei vertraute Namen, denen sie allerdings keine Gesichter mehr zuordnen kann. Offenbar hat sich in Cambridge nicht besonders viel getan, anders als in Hogwarts. Sogar Professor Chamberlain hat noch seine Vorlesung gehalten. Einführung in die Theorie und Praxis der Zauberkunst I. Der Schrecken aller Erstsemester.

Als sie ein wenig über die Korridore schlendert, entdeckt sie an den Wänden einige gerahmte Porträts und Zeitungsausschnitte, die ihr unbekannt sind. Häufig wird Constantin Chamberlain erwähnt, der anscheinend doch irgendwie in den Ruhestand versetzt wurde… und auch als Emeritierter nicht einfach zuhause geblieben ist, sodass er die beiden Vorlesungen zurückerhalten hat, die ihm von jeher besonders am Herzen lagen. Die erste und die letzte Vorlesung für Studenten der Zauberkunst. Die Ouvertüre und das große Finale. Narzissa schmunzelt, als sie sich durch ein Interview liest, in dem Rita Kimmkorn von Professor Chamberlain in jedem zweiten Satz subtil beleidigt wird, ohne sich dagegen wehren zu können. Es ist herrlich, es versöhnt sie mit dem knappen Nachruf, den sie mit klappernden Zähnen und auf nüchternen Magen gelesen hat.

„Er war ein echter Komiker, wenn er sonst keine Möglichkeit gesehen hat, eine Unterhaltung zu ertragen.“ Narzissa hat nicht bemerkt, dass sie nicht länger alleine ist und dreht sich zu dem Mann um, der aus dem Büro getreten ist, neben dem ein Schild verkündet, dass es sich hier um den Lehrstuhl für Angewandte Zauberkunstlehre handelt. Professor Chamberlains Lehrstuhl, den er vor wenigen Jahren erst aufgegeben hat. Sie liest den Namen, der in das Schild eingraviert wurde. Prof. Jonathan Attlee. Auch dieser Name rührt etwas in ihr, doch sie ist nicht schnell genug. Professor Jonathan Attlee ist schneller. „Mrs. Black! Das ist ja eine Überraschung.“ Der begeisterte Tonfall sorgt dafür, dass der Groschen auch bei ihr fällt. Vor ihr steht der Mann, der ihr ausschließlich als eifriger Schüler von Flitwick im Gedächtnis geblieben ist und ihrer Abschlussprüfung beigewohnt hat.

„Guten Tag, Professor.“ Höflich streckt sie ihre Hand aus und er schüttelt sie enthusiastisch. „Ich habe nicht damit gerechnet, dass Sie sich an meinen Namen erinnern würden.“ Jonathan Attlee lacht auf.

„Wie könnte ich diesen Namen vergessen? Constantin hat Ihnen nachgetrauert bis zuletzt… Sie waren ein fester Bestandteil der Vorlesung für die Studienanfänger.“ Sie hoffte wirklich, dass es sich bei diesem Mann um jemanden handelte, der gerne übertrieb. Ansonsten würde ihr schlechtes Gewissen sie bis zum Abend aufgefressen haben.

„Sie machen doch Witze.“

„Oh, bedauerlicherweise nicht. Bei den Feierlichkeiten angesichts der Übergabe des Lehrstuhls an meine Wenigkeit habe ich die gesamte Rede über gebangt, dass Constantin einen Rückzieher machen würde, weil ich ja nur die zweite Wahl sein kann… der Mann hatte ein Gedächtnis wie ein Drache.“

„Und ich bin ihm eine große Enttäuschung gewesen.“

„Ich auch… jeder Mensch ist ihm auf seine Weise nichts als eine Enttäuschung gewesen.“ Jonathan Attlee seufzt. „Was führt Sie her?“

„Der Nachruf… im „Tagespropheten“, ich…“ Sie spürte, wie ihr Hals sich zusammenzog und sie sprach zu ihrer eigenen Sicherheit nicht weiter. Ihre Augen fingen an zu brennen und sie wandte sich von ihm ab. Ein hilfloses Schluchzen kam aus ihrem Mund.

„Hier.“ Jonathan Attlee hielt ihr ein fein säuberlich gefaltetes Stofftaschentuch entgegen. Dankbar nahm sie es an und wischte sich damit über die Augen. Den fremden Gegenstand einer mehr oder weniger ebenfalls fremden Person zu halten, half ihr dabei, ihre Fassung wiederzugewinnen. Es war wie ein Anker, der sie daran erinnerte, dass sie nicht alleine war. In dieser seltsam anmutenden Realität. „Bitte entschuldigen Sie, ich wollte Ihnen bei Gott kein schlechtes Gewissen machen. Der Professor hat sehr gut von Ihnen gedacht und… er hätte sich darüber gefreut, dass Sie hier sind.“

„Ich hätte eher kommen sollen.“

„Nun ja, aber wozu denn? Sie haben doch sicher eine Familie?“

„Ja, aber… ich weiß auch nicht. Sie müssen entschuldigen, ich bin gerade wirklich nicht ganz ich selbst.“

„Ach, entschuldigen müssen Sie sich nun wirklich nicht! Er wird uns allen fehlen… und die Nostalgie ist ein gemeiner Hund. Als ich nach zwanzig Jahren zum ersten Mal wieder in Hogsmeade gewesen bin, um mit einem alten Freund ein Glas Butterbier zu trinken, hab ich Rotz und Wasser geheult. Dabei hab ich es gar nicht vermisst. Dachte ich wenigstens… wollen Sie sich vielleicht hinsetzen und einen Schluck trinken? In meinem Büro habe ich eine Flasche Kürbissaft. Oder Feuerwhiskey, ganz wie Sie mögen.“

„Kürbissaft klingt ganz wunderbar.“

Nachdem sie in einem bequemen, mit rotem Plüsch ausgekleideten Lehnstuhl Platz genommen hat und ein Glas Kürbissaft in den Händen hält, fühlt sie sich bereits wesentlich besser und beginnt, sich für ihren hysterischen Auftritt zu schämen. Jonathan Attlee macht einen gelassenen Eindruck und hat sich selbst ebenfalls ein Glas eingeschenkt.

„Leisten Sie regelmäßig Erste Hilfe für gealterte Studentinnen, die vor Ihrer Tür zusammenbrechen?“

„Bislang sind Sie die Erste. Das hier ist also nur ein Testlauf. Könnte ich mich noch verbessern? Sollte ich besser ein paar Schokofrösche oder Zuckermäuse in der Schublade haben? Um die Nerven zu beruhigen?“

„Ach, es geht auch so.“ Sie lächelt und hofft, dass sie nicht allzu verweint aussieht. Er lächelt freundlich zurück.

„Vielen Dank für die Rückmeldung, Mrs. Black.“

„Malfoy. Ich heiße eigentlich Narzissa Malfoy. Black ist mein Mädchenname… Professor Chamberlain hat ihn sich nie abgewöhnen können, dabei habe ich geheiratet, als ich gerade einmal in meinem dritten Semester gewesen bin.“

„Malfoy! Dann sind Sie sicher mit Lucius Malfoy bekannt?“

„Das ist mein Ehemann.“ Jonathan Attlee nickt verständig und hat sein Lächeln dabei nicht verloren. Auf einmal ärgert sie sich über sich selbst, dass sie ihn korrigiert hat. Es ist eigentlich eine angenehme Abwechslung gewesen, ausnahmsweise einmal nicht mit Lucius und den Schlagzeilen des vergangenen Jahres in Verbindung gebracht zu werden.

„Ich verstehe.“

„Sie können aber gern Narzissa zu mir sagen.“ Ihm diese vertrauliche Anrede anzubieten, ist eigentlich vollkommen überflüssig, denn sie möchte ja nicht in seinem Büro einziehen. Oder ihren kleinen Zusammenbruch noch ein Dutzend Mal wiederholen.

„Dann muss ich darauf bestehen, dass Sie den Professor weglassen und mich Jonathan nennen.“

„Einverstanden.“

„Und werden Sie dem guten, alten Cambridge von nun an häufiger einen Besuch abstatten?“

„Vermutlich eher nicht.“

„Schade. Ich suche noch jemanden, den ich im September auf die Erstsemester loslassen kann.“ Sie wünschte, sie würde Jonathan Attlee besser kennen und eine Vorstellung davon haben, wie feinsinnig sein Sinn für Humor war, denn so konnte sie ihn nur anstarren und hilflos auflachen. „Und bevor Sie wieder fragen, ob ich Witze mache: Ich mache keine Witze. Generell eher selten, aber niemals über Theorie und Praxis der Zauberkunst I.“

„Sie fragen mich also, ob ich eine Vorlesung halten möchte?“

„Ganz richtig. Sie sind ja hier reingeschneit, als hätte Sie der Himmel geschickt. Oder der gute, alte Constantin persönlich, der den lieben Gott schon um den Finger gewickelt hat.“

„Ich habe noch nie eine Vorlesung gehalten.“

„Irgendwann ist immer das erste Mal.“

„Ich habe überhaupt noch nie irgendwen unterrichtet. Und ich… ich habe seit fast zwanzig Jahren keine Universität mehr betreten. Ich habe keine Ahnung, wie man heute studiert, was in der Forschungsliteratur passiert ist und… ich habe keine Ahnung von irgendwas.“

„So furchtbar viel hat sich da gar nicht getan. Erstsemester sind immer noch Erstsemester. Und die Grundlagen der Zauberkunst werden nicht mal eben in zwanzig Jahren neu erfunden. Was die Forschungsliteratur und den Zeitgeist unserer Studenten angeht… das Semester beginnt ja nicht gleich morgen und das Kollegium würde Sie natürlich tatkräftig bei sämtlichen Vorbereitungen unterstützen… die eigentliche Frage ist, ob Sie es wollen würden.“

„Ich weiß nicht, ob ich mir das zutraue.“

„Ich traue es Ihnen zu.“ Er lächelt und wirkt dabei zum ersten Mal ein wenig verschlagen. „Wenn ich gemein wäre, würde ich jetzt behaupten, dass Sie es Constantin schuldig sind, aber Erpressung sollte nicht das Mittel der Wahl sein. Denken Sie darüber nach, Narzissa. Ich brauche nicht jetzt gleich eine Antwort… sagen wir, wir essen nächste Woche gemeinsam zu Mittag. Ich lade Sie ein und Sie teilen mir mit, wie Sie sich entschieden haben. Wie passt es Ihnen dienstags? Das sind fünf Tage, fast eine ganze Woche.“

„Dienstags passt es mir.“

„Zauberhaft, einfach zauberhaft… wollen Sie jetzt einen Schluck Whiskey?“

„Danke… also nein, danke, aber nein danke. Ich sollte nach Hause gehen, ich… Dienstag. Dienstag passt es gut.“

„Dann sehen wir uns am Dienstag.“ Jonathan Attlee schenkt sich selbst behände ein Glas Whiskey ein, prostet ihr zu und sieht mit zuckenden Mundwinkeln dabei zu, wie sie aus seinem Büro stolpert.

Chapter 48: Wundertiere

Chapter Text

48 –  Wundertiere



„Oh, er wird mir fehlen. Man gewöhnt sich so schnell daran, ein Baby im Haus zu haben.“ Andromeda belächelt sie und packt Teddys Kleider in einen großen Koffer, der auf dem Fußboden ausgebreitet liegt. Morgen ist der 1. September, Andromeda wird nach Hogwarts zurückkehren und dieses Mal wird sie Teddy mitnehmen. Mit Hilfe der Hauselfen von Hogwarts, glaubt sie, dass es kein Problem sein wird, sich neben dem Unterricht um Teddy zu kümmern. Oder Teddy aufzuziehen und nebenbei zu unterrichten.

„Du kannst ihn doch jederzeit sehen. Komm nach Hogwarts, wann immer du willst.“ Narzissa weiß, dass sie niemand daran hindern wird, Teddy zu sehen. Es wäre nicht einmal merkwürdig, wenn sie in der Schule auftauchen würde, schließlich hatte sie kein Kind mehr, das nach Hogwarts ging. Sie wäre lediglich die Angehörige einer Lehrerin.

„Das ist nicht dasselbe.“ Sehnsüchtig drückt sie Teddy fester an sich und freut sich, dass er an ihren Haarspitzen zieht. Sie hat gehofft, dass er seinen Mittagsschlaf noch nicht hält und ist deshalb extra ein bisschen früher gekommen, als es mit Andromeda ausgemacht war. Mit Andromeda und Kingsley Shacklebolt, der kurz vor der „zweiten Runde“ noch eine Lagebesprechung gewünscht hat. Mit ihr und mit Andromeda.

Es war immer noch ein seltsames Gefühl, mit dem Zaubereiminister im selben Raum zu sein. In einem Raum, der nicht öffentlich war und in dem er zwar in der Rolle als Zaubereiminister war, dabei jedoch Kekse aß, Tee trank und sich von ihrer Schwester beim Vornamen nennen ließ. Narzissa vermutete, dass es auch für Kingsley seltsam war. Er war schließlich nicht nur einmal im Manor gewesen, um es zu durchsuchen. Er war der Vorsitzende des Prozesses gegen Lucius gewesen. Er hatte Draco und sie mehrfach befragt. Es war einfach nicht richtig, dass sie nun miteinander bei Tee und Keksen saßen und über Lehrpläne sprachen. Es war absurd, aber wenn Narzissa zwischen einem absurden Nachmittag und drei Stunden, in denen sie Teddy nicht sah, entscheiden musste, dann wählte sie das Absurde. Und mit Teddy auf ihrem Schoß war es eigentlich halb so schlimm.

Eigentlich war es sogar ganz erfreulich, über das Konzept für das nächste Schuljahr zu sprechen und gegen Kekse, die mit Schokolade überzogen und noch warm waren, würde Narzissa auch nie etwas sagen, aber ihr war trotzdem ganz komisch zumute, als Andromeda irgendwann aufstand, ihr ein entschuldigendes Lächeln zuwarf und den Raum mit Teddy auf dem Arm verließ, um ihn ins Bett zu bringen. Schläfrig war er schon die ganze Zeit über gewesen, doch Narzissa hatte ihn wachgehalten, um genau diesen Moment herauszuzögern. Alleine in Andromedas Wohnzimmer. Ohne Teddy. Mit Kingsley.

„Andromeda hat erzählt, du wirst auch bald unterrichten?“

„Nur übergangsweise. In Cambridge ist mein ehemaliger Professor verstorben und die Fakultät hat noch keine langfristige Lösung gefunden, deswegen werde ich zwei Vorlesungen übernehmen. Es ist keine große Sache. Und nur temporär.“ In den letzten Wochen hatte sie es perfektioniert, die Chance, die Jonathan Attlee ihr da bot, so weit wie möglich herunterzuspielen.

„Ob temporär oder nicht, es klingt nach einer großartigen Gelegenheit.“

„Das ist es, ich freue mich sehr darauf.“ Ihr Lächeln war unverbindlich und sie hoffte inständig, dass Andromeda keine Schlaflieder singen, sondern schnellstmöglich zurückkommen würde. „Teddy wird mir trotzdem fehlen.“ Es war eine Heidenarbeit, sich rund um die Uhr um einen Einjährigen zu kümmern, aber es war eine schöne Arbeit. Es fühlte sich so viel echter an, als eine Vorlesung vorzubereiten, ein Inhaltsverzeichnis zu schreiben und sich durch die Namenslisten von Erstsemestern zu lesen.

„Das kann ich mir vorstellen.“ Kingsley Shacklebolt lächelt und obwohl er immer eine erstaunliche Ruhe ausstrahlt, bleibt ihre Grundnervosität und sie greift nach einem Keks. „Ich wollte mit dir noch über ein oder zwei Dinge sprechen, aber ich fürchte, Andromeda wird uns unterbrechen, wenn ich jetzt davon anfange. Hast du gleich noch ein wenig Zeit?“

„Natürlich.“ Sie nickt stumm. Es fühlt sich an, als würde der Keks auf ewig in ihrem Hals stecken bleiben wollen.

* * *



Es war noch nie vorgekommen, dass Kingsley Shacklebolt und sie gemeinsam das Haus verließen, doch ihre Schwester kommentierte diese Gegebenheit nicht. Zum Abschied drückte sie Narzissa fest, wünschte ihr Hals- und Beinbruch für den Beginn des Semesters und überließ sie dann ihrem Schicksal.

„Worüber wolltest du mit mir sprechen?“ Am liebsten würde sie den Zaubereiminister immer noch Siezen, doch Kingsley Shacklebolt hatte ihr bereits im vergangenen Sommer das „Du“ angeboten. Außerhalb des Zaubergamots natürlich nur. Im privaten Umgang.

„Zweierlei… Lucius hat in den letzten Monaten gute Arbeit geleistet und wirklich sehr viel Zeit in die Umstrukturierung investiert. Er ist… nicht unentbehrlich, aber so schnell kann ihn niemand ersetzen. Allerdings habe ich zwei, drei Kandidaten vorgesehen, die in absehbarer Zeit in der Verwaltung die Zügel in die Hand nehmen können. Lucius wird sich darüber im Klaren sein, dass er seine Nachfolger ausbildet, aber ich wollte es dir gegenüber nicht ungesagt lassen. Es hat nichts mit seiner Arbeit per se zu tun… aber ein Träger des dunklen Mals als Leiter der Ministeriumsverwaltung, das geht nicht. Solange wir uns im Umbruch befinden und es keine anderen Optionen gibt, ist es eine akzeptable Lösung… aber nichts für die Ewigkeit. Das verstehst du, oder?“

„Natürlich verstehe ich das.“ Und es war nicht so, als hätte sie es nicht geahnt. Lucius hatte es zwar nie explizit gesagt, doch er hatte ihr auch die Namen derer genannt, die seine Aufgaben erlernen sollten. Es waren zwei junge Männer und eine Hexe, die seit zehn Jahren in der Verwaltung arbeitete und im letzten Jahr vorübergehend entlassen worden war. „Wird er gekündigt oder wie wird sich das nennen?“

„Er wird vorzeitig pensioniert werden. Eher nicht dieses Jahr… vielleicht auch noch nicht im nächsten Jahr, aber eigentlich soll es mit dem neuen Jahrtausend auch ein neues Ministerium geben. Länger als bis 2001 wird die derzeitige Situation nicht tragbar sein.“ Sie nickt und entdeckt eine träge gähnende Katze, die in einer Einfahrt liegt und sie misstrauisch beäugt. Bislang ist sie noch nie durch die Straße gelaufen, in der Andromeda lebt. Es ist ein beschaulicher Ort. Mit hohen Hecken und großen Gärten. „Das ist die eine Sache.“

„Und die andere Sache?“

„Wie du weißt, ist das Ministerium nicht aktiv geworden, als es darum ging, den Tod von Rabastan und Rodolphus Lestrange zu untersuchen.“ Sie nickt verständig und hofft, dass die Unterhaltung sich in eine harmlose Richtung entwickeln wird. Vielleicht möchte Kingsley mit ihr darüber sprechen, dass es keinen offiziellen Erben gibt und weder ihre Schwester, noch Rodolphus oder Rabastan ein Testament hinterlassen haben. Ganz selbstverständlich hat Narzissa sich darum gekümmert, dass das Grundstück auf den Markt kam und die Verliese in Gringotts aufgelöst wurden. Das Vermögen hat sie in Absprache mit Andromeda an Teddy überschreiben lassen. Sogar einigen entfernten Angehörigen der Lestranges hat sie Briefe nach Frankreich geschrieben – und kaum je eine Antwort erhalten. Ein Großonkel von Rabastan und Rodolphus, der in der Bretagne lebte, hatte ihr einen Einzeiler zurückgeschickt, in dem er mehr oder weniger stellvertretend für seine gesamte Familie sprach. Damit wollen wir nichts zu tun haben. „Das Interesse an dem Fall ist auch nicht allzu groß… die Akte ist dünn, aber sie liegt immer noch auf meinem Schreibtisch. Ich habe nicht die Absicht, ihn wieder aufzurollen, aber ich wollte doch immer mal gefragt haben, ob du etwas dazu zu sagen hast.“

„Ich habe dazu nichts zu sagen.“ Ihr Herz ist verräterisch. Es schlägt viel zu schnell und sie ist um jedes vorbeifahrende Auto, jedes lachende Kind und jedes Vogelzwitschern dankbar, das lauter ist als das Klopfen in ihrer Brust.

„Beide wären ohne Zweifel nach Askaban gekommen, wenn man sie lebend gefunden hätte. Lebenslänglich.“

„Falls man sie gefunden hätte.“

„Ja. Falls. Die Aurorenzentrale hatte eine vielversprechende Spur, die dann doch ins Nichts geführt hat. Ein Ort, in dem überwiegend Muggel leben. Unten in Sussex, an der Grenze zu Kent. Eine ältere Dame, die dort lebt, hat zwei Männer beschrieben, die wie Bettler durch die Straßen zogen. Immer vor Einbruch der Nacht. Der Ort war so klein, dass es dort eigentlich keine Landstreicher oder Wohnungslosen gab… wenigstens keine, die nicht stadtbekannt gewesen wären. Die fremden Männer sind aufgefallen, doch irgendwann auch wieder verschwunden. Allerdings hat eine andere, noch etwas ältere Dame Bewegungen im Garten des Nachbarhauses wahrgenommen. Ein verlassenes Haus, eigentlich mehr eine Ruine am Rande des Ortes. An sich keine so besonderen Vorkommnisse, aber die Aurorenzentrale hat sich mit der Exekutive der Muggel in Verbindung gesetzt und genau nach solchen Meldungen Ausschau gehalten, um sie zu finden. Mehrere Zeugen haben am 2. Mai bemerkt, dass sowohl Rabastan, als auch Rodolphus Lestrange schwer verletzt waren. Horace Slughorn schwört sogar darauf, dass er Rabastan sein linkes Bein für immer versaut hat… wie klingt das für dich?“

„Nach zwei sehr aufmerksamen, älteren Menschen – und nach Horace Slughorn wie er leibt und lebt.“ Sie versucht, gelassen zu sein – ein bisschen witzig. Kingsley schmunzelt und nickt.

„Ja… auf die alten Damen und ihre guten Augen und Ohren ist überall Verlass.“ Das Schmunzeln verschwindet und ihr geht ein kalter Schauer über den Rücken, als Kingsley stehen bleibt und ihr direkt in die Augen sieht. Sie kann nicht weitergehen. Ihre Füße schaffen es nicht, sich von der Stelle zu bewegen. „Warst du schon mal in Sussex?“

„Mehrmals. Es ist ja nicht weit von uns… und wie du weißt, kümmere ich mich um die Büroarbeit der Apotheken. Ich reise nicht so häufig wie ich müsste, viel lässt sich mit Eulen erledigen, aber ich bin deswegen doch einige Male in Sussex gewesen. Und in jeder anderen Grafschaft.“

„Hattest du eine Vermutung, wo Rabastan und Rodolphus sich aufhalten könnten?“

„Ich habe darüber nicht besonders häufig nachgedacht.“

„Weil du es wusstest und es dementsprechend nicht nötig war, häufig darüber nachzudenken?“ Kingsley hat seinen Blick noch immer nicht von ihr abgewandt und es ist ihr unmöglich zu sagen, ob sie gerade mit einem Bein in Askaban steht oder ob sie bloß ein wenig aneinander vorbeireden. „Ich habe nach ihrem Verschwinden oft darüber nachgedacht, wo sie sein könnten. Tag und Nacht habe ich darüber nachgedacht, es hat mir den Schlaf geraubt. Ich wollte nicht, dass irgendjemand ungeschoren davonkommt. Der verdammte Yaxley ist mir in Hogwarts persönlich wie ein nasser Fisch aus den Händen geglitten. Er hat ´81 schon bewiesen, dass er unauffindbar ist, aber die Lestranges… die waren immer zu laut, zu offensiv und vielleicht auch zu wahnsinnig, um sich zu verstecken. Was sie damals bei den Longbottoms angerichtet haben… es war grauenvoll, aber das Ministerium konnte sie leicht finden. Sie haben mit einem Schrei auf sich aufmerksam gemacht. Diesmal haben sie sich ganz anders verhalten. Weniger impulsiv. Das hat mir zu schaffen gemacht. Ich habe sogar angefangen, Alastors Stimme zu hören, ich war wohl selbst auf dem besten Weg in den Wahnsinn. Und dann der Prozessauftakt, die ganzen offiziellen Reden und Stellungnahmen, ich dachte, das schafft mich, ich schaufel hier mein eigenes Grab, werde nie wieder eine Nacht durchschlafen und dann lagen sie da. Direkt vor meiner Nase. Im Ministerium. Hingerichtet auf einem Präsentierteller. Gott sei Dank, das war mein erster Gedanke. Ich war so erleichtert. Es ist mir wie ein Wunder erschienen. Es war Mord, ganz offensichtlich, es war blutig, aber es kam mir doch wie ein Geschenk des Himmels vor.“ Kingsley legt eine kleine Pause ein, wartet auf ihren Einsatz, doch sie wird nichts sagen. Kein Wort wird sie sagen. „Und dann habe ich wieder angefangen, nachzudenken… diesmal konnte ich mir ganz ohne jede Not, ohne Eile den Kopf zerbrechen. Und mir wollten nur eine Handvoll Personen einfallen, die sowohl einen Grund, als auch die Fähigkeiten dazu gehabt hätten, um zwei Männer wie Rodolphus und Rabastan Lestrange niederzustrecken. Und mir wollte nur eine Person einfallen, die sie nicht gefesselt und geknebelt dem Ministerium vorsetzen oder sich damit brüsten, sondern in aller Stille zerstückeln würde, ohne dabei irgendeine Spur zu hinterlassen.“

Kingsley macht eine Pause, doch er hört nicht auf, sie anzusehen. Jeder Muskel ihres Körpers hat sich angespannt. Wenn er sie berühren würde, vielleicht würde er einen elektrischen Schlag bekommen. Doch er nähert sich ihr nicht. Er rührt sich selbst kaum.

„Ich will kein Geständnis von dir. Ich wollte dich nur wissen lassen, dass ich weiß, dass du es gewesen bist. Du kannst sagen, was du willst, du kannst auch gar nichts sagen, aber ich werde nicht daran zweifeln. Ich weiß es so sicher wie ich meinen eigenen Namen kenne und weiß, dass eins und eins zwei ergeben und sonst nichts.“

„Und was soll das hier? Wenn ich gar nichts sagen soll, warum müssen wir dann so dringend miteinander sprechen?“

„Ich will, dass du weißt, dass ich dich sehen kann. Natürlich kenne ich deine genauen Gründe nicht, aber ich kann mir eine Vorstellung davon machen, was dich dazu gebracht hat. Ich muss deine Gründe auch nicht so genau kennen, denn ich halte dich nicht für eine Wiederholungstäterin. Ich denke, das war eine Ausnahme. Aber wenn ich mich in diesem Punkt irren sollte und es irgendwann, irgendwo zu einem weiteren „ungeklärten“ Fall kommt und ich noch am Leben und bei klarem Verstand bin, dann werde ich dich vor ein Gericht stellen.“

„Und wenn du selbst dieser weitere, ungeklärte Fall sein solltest?“ Sie will ihm nicht drohen, keineswegs, sie will nur wissen, wie gut er das alles durchdacht hat. Wie viele Was-wäre-wenns er bedacht hat.

„Dann habe ich Pech gehabt. Ich habe keinen Beweis gegen dich, der greifbar wäre. Alles, was ich habe, ist mein Instinkt. Aber wenn ich in zehn Jahren jemandem erkläre, wie ich darauf gekommen bin, dann wird es nicht mehr so nachvollziehbar sein. Die Menschen werden vergessen, wie es im Jahr 1998 zugegangen ist. Du wirst nicht in die Geschichtsschreibung eingehen. Nicht dafür, wer weiß, ob du nicht eine berüchtigte Professorin abgibst.“

„Hast du mit Andromeda darüber gesprochen?“

„Nein, habe ich nicht. Aber sie könnte es auch erraten. Vielleicht hat sie es schon erraten. Vielleicht hat sie sich dieselben Gedanken gemacht wie ich.“ Er tritt einen Schritt zurück. „Mehr habe ich nicht zu sagen. Hast du noch etwas zu sagen?“

„Nein.“

„Hat es sich gut angefühlt?“

„Ich habe nichts zu sagen.“

„Ich bin mir sicher, es hat sich gut angefühlt.“ Er lächelt. „Ein Teil von mir hätte es gerne selbst getan. Aber dann bin ich auch wieder froh, keine Chance gehabt zu haben. Man gesteht sich ja doch nicht gerne ein, wozu man unter bestimmten Umständen fähig ist.“

„Menschen sind wundersame Tiere.“

„Wundertiere… das hat meine Großmutter auch gerne zu sagen gepflegt. Der Mensch, das Wundertier. Das wunderlichste aller Tiere – und das grausamste.“ Noch immer lächelt er ganz unverändert und neigt den Kopf. „Auf Wiedersehen, Narzissa.“

„Auf Wiedersehen, Kingsley.“

* * *



Als sie Draco gelangweilt hinter dem Schreibtisch sitzen sieht, den sie seit kurzer Zeit als ihr Eigentum betrachten kann, vergisst sie auf Anhieb den Stress, der sie auf dem Rückweg vom Hörsaal in ihr Büro bei lebendigem Leibe aufgefressen hat. Abertausende von unsichtbaren Ameisen sind über ihre Haut gekrabbelt und haben ihr zugeflüstert, dass sie eine Hochstaplerin ist. Und wenn es diese Woche noch niemand bemerkt hat, dann wird es nächste Woche jemand merken. Es ist nur eine Frage der Zeit.

„Hey. Du siehst irgendwie komisch aus.“ Draco kneift die Augen zusammen und wenn er ihr jetzt mitteilen sollte, dass ihre Haare abstanden oder sie ihre Bluse verkehrt herum angezogen hatte, dann würde sie einfach umfallen. „Ist dir kalt oder so?“

„Kalt? Nein, mir ist alles andere als kalt.“

„Hm.“ Sie hat nicht die Kraft, um ihn von ihrem Sessel zu verscheuchen und nimmt stattdessen auf dem schlichten Stuhl Platz, der eigentlich für Studenten gedacht ist, die in ihre Sprechstunde kommen wollen. Eine Sprechstunde. Sie hat wirklich eine Sprechstunde, zu der man sich mit einer Eule oder im Sekretariat anmelden kann.

„Was machst du hier? Ich dachte, du wolltest dich mit Pansy treffen? War das nicht heute?“ Es war ein Donnerstag. An Donnerstagen und Freitagen würde sie für den Rest des Jahres in Cambridge sein, Vorlesungen halten und ihre Sprechstunde haben. Diese irrsinnige Sprechstunde. Die ersten drei Tage der Woche gehörten dafür ganz der Arbeit, die sie mit den Apotheken hatte. Schon seit einiger Zeit hatte Draco angefangen, sie dabei hin und wieder zu unterstützen und in den letzten Wochen war er ihr eine richtige Hilfe gewesen.

„Doch, das war heute, aber sie hat zu viel zu tun. Die erste Woche des Semesters bedeutet anscheinend neuerdings was.“ Er klang aufrichtig enttäuscht über diese Gegebenheit. Im Sommer hatte er jede freie Minute entweder mit Pansy oder aber mit Gregory verbracht. Einmal war sogar der berühmte, nie zuvor gesichtete Blaise Zabini in Malfoy Manor zu Besuch gewesen. Sie war froh, dass er seine Freundschaften pflegte und nicht zuließ, dass mit dem Ende der Schulzeit auch das Ende all dieser Kontakte gekommen war, aber sie sorgte sich doch ein wenig, weil er die ganze Zeit über keine Pläne für sich selbst gemacht hatte. Bereitwillig hatte er sie darüber auf dem Laufenden gehalten, wie Pansys Zukunftspläne langsam Gestalt annahmen und von dem Vorstellungsgespräch erzählt, das Gregory in der Magischen Menagerie gehabt hatte, doch über seine eigenen Ideen hatte er kein Wort verloren. Vielleicht hatte er keine Ideen. „Und ich dachte, ich könnte mich hier ja mal umsehen, aber es ist echt voll. Und ich bilde mir ein, dass ich gleich drei Leute aus Hufflepuff auf einem Haufen vor der Bibliothek hab stehen sehen und dann dachte ich, ich warte hier auf dich.“

„Dein Vater wollte auch gleich da sein.“

„Eher nicht. Er ist heute Mittag kurz zuhause gewesen, um dir eine Notiz da zu lassen. Er muss wohl länger bleiben, irgendeine Besprechung sämtlicher Abteilungsleiter, die schon zigfach verschoben wurde und jetzt endlich doch mal stattfinden soll. Ihr wolltet heute Abend irgendwo essen gehen, oder?“ Sie nickt. Immer noch ein wenig überrascht von dem Redefluss ihres Sohnes. „Wir könnten ja auch zusammen essen. Immerhin wurden wir beide versetzt – und vielleicht siehst du auch aus, als hättest du Hunger. Wenn dir nicht kalt ist.“

„Ich bin einfach immer noch unheimlich nervös. Das darf man mir ja wohl noch ansehen.“

„Das ist dein nervöses Gesicht? Lief es denn nicht gut?“

„Doch, doch… es war schon in Ordnung.“ Vor Lucius hätte sie leicht zugeben können, dass sie sich wie eine Schauspielerin gefühlt hatte – eine Fehlbesetzung für die Rolle von Constantin Chamberlain – doch sie wusste nicht, ob sie Draco dieses Gefühl irgendwie erklären konnte. „Lass uns essen gehen. Wo möchtest du hin?“

„Mir egal.“ Sie warf ihm einen strengen Blick zu. Diese Unentschlossenheit bei den kleinen Dingen konnte sie noch weniger leiden als die Unentschlossenheit, die lebensverändernde Entscheidungen betraf. „Wo wären Dad und du hingegangen?“

Zusammen mit Draco waren sie noch nie zu Gast in der „Goldenen Chimäre“gewesen und es überraschte sie, wie angetan Draco von dem Lokal war. Die alten Poster an den Wänden, der abgeblätterte Goldlack und der herrschaftliche Schnurrbart des Wirts schienen ihn zu faszinieren – zumindest sprach er volle fünf Minuten kein Wort, sondern studierte neugierig die Speisekarte.

„Findest du es eigentlich schlimm, dass ich nicht studieren will?“ Bisher hatte Draco noch nie so deutlich gesagt, dass er überhaupt nicht studieren wollte, aber die Frage überraschte sie nicht besonders.

„Nein, schlimm finde ich das nicht. Solange du weißt, wogegen du dich da eigentlich entschieden hast.“

„Ich hab durch das Vorlesungsverzeichnis von Pansy geblättert. Und sie hat auch ständig davon geredet… und Andromeda hat mit uns vor den Prüfungen auch mal so eine Doppelstunde gemacht, in der wir einfach nur darüber gesprochen haben, was man mit UTZs eigentlich alles anfangen kann, also ich denke, ich weiß schon ganz gut Bescheid. Die Vorstellung, nochmal drei, vier, fünf Jahre in irgendeine Schule zu gehen, das motiviert mich einfach nicht.“

„Und was motiviert dich?“ Draco wurde von der Bedienung gerettet, die bereit war, ihre Bestellung aufzunehmen und die Getränke zu bringen, die Narzissa gleich beim Reingehen gewünscht hatte, weil ihr Mund ihr so trocken vorkam. Erleichtert bemerkte sie, dass Draco den Mund schon halb geöffnet hatte, ehe sie unterbrochen worden waren. Bereit zu einer Antwort. „Also?“ Sie sah ihn auffordernd an, ehe sie einen Schluck trank.

„Das klingt jetzt vielleicht total lahm, aber ich finde es eigentlich ganz schön, mich um die Post zu kümmern… für die Apotheken. Es ist interessant und bei Grandpa klang es früher auch immer so, als wäre es eine coole Aufgabe. Man kommt auch mal raus. Man sieht viel. Und man sieht vor allem nicht ständig dieselben Leute… und irgendjemand muss es ja machen. Du kannst das ja nicht für immer machen, wenn du eigentlich an der Uni bist. Dad meinte doch letztens, du könntest auch immer noch promovieren.“

„Das war nur so dahingesagt. Weißt du, wann ich das letzte Mal wissenschaftlich gearbeitet habe?“

„Vor meiner Geburt.“ Bildete sie sich das ein oder hatte er ein schlechtes Gewissen? „Es klang so, als wärst du früher richtig gut gewesen. Und ich merke ja langsam selber, wie schwierig es eigentlich ist, lautlos zu zaubern. Ich dachte früher immer, das könnte man ganz selbstverständlich einfach irgendwann, aber man muss so verdammt viel üben.“

„Ich habe als Kind sehr viel geübt… das Ministerium war noch nicht ganz so streng, wenn es um die Zauberei von Minderjährigen ging. Als meine Schwestern in Hogwarts waren und mir davon erzählt haben, wie einige Zauber funktionieren, da war es ganz normal, dass ich sie nachgeahmt habe. Auch wenn ich keinen Zauberstab hatte. Diese Übung hattest du nicht. In ein paar Jahren wird es dir auch leichter fallen, ohne Zauberstab zurechtzukommen.“

„Kann schon sein… darum ging es jetzt aber gar nicht. Ich will bloß… ich will dir nicht im Weg stehen. Ich würde dir gerne mehr Arbeit abnehmen. Du machst Grandpas Job ja jetzt einfach so und vielleicht könntest du mir das alles richtig beibringen.“

„Wenn du das wirklich willst.“ Er nickte. „Aber du musst dich nicht verpflichtet fühlen. Dein Vater… er hat es zwar nie gemacht, aber auch er hat von seinen Eltern gelernt, wie die Apotheken aufgebaut sind und all das. Und er arbeitet in der Verwaltung. Sobald es im Ministerium ruhiger geworden ist, kann er sich darum kümmern und du könntest dir etwas Eigenes suchen, was du machen willst.“

„Ich will mir aber nichts suchen… ich will das wirklich machen.“

„Schlimmstenfalls würden wir eben eine Stellenausschreibung entwerfen und jemanden außerhalb der Familie suchen. Die Apotheken wurden ja nicht immer von einem Malfoy geleitet.“

„Mum, ich will das machen. Ehrlich. Das ist… das ist irgendwie noch das Erbe, auf das ich irgendwie stolz sein kann, oder? Und ich habe wirklich Spaß daran. Wenn ich sonst etwas wüsste, das ich machen will, ich würde es ja tun, aber… mir fällt nichts ein.“

„Das kann sich ja noch ändern.“

„Ja… kann sein, aber bis dahin würde ich es gerne versuchen.“ Er macht ein ganz ernsthaftes Gesicht und sie muss daran denken, wie er bereits als kleines Kind so gucken konnte, als wäre er ein ernster Mann, der nicht unterbrochen werden wollte. Hatte sie sich nicht eben noch gewünscht, er wäre ein bisschen entschiedener?

„Dann versuch es. Ganz zwanglos. Und du kannst es dir jederzeit anders überlegen.“

Chapter 49: Die Entdeckung der Langlebigkeit

Notes:

Im vorletzten Kapitel nochmal einen OC ausgraben, der seit 40 Kapiteln nichts mehr zu melden hatte und auch vorher nicht besonders relevant war? Kann ich. Zur Hölle warum auch nicht. Niemand wird zurückgelassen!

Chapter Text

49 – Die Entdeckung der Langlebigkeit



Es ist der letzte Tag des Semesters und sie ist dankbar dafür. In den letzten beiden Wochen sind die Temperaturen derartig in die Höhe gegangen, dass es schwer ist, sich angemessen zu kleiden, ohne sich unangemessen zu kleiden. Die Vorlesung ist geschlossen, die Prüfung wird erst Ende August stattfinden. In guter alter Tradition gibt es keine Klausur, sondern den Auftrag, einen Zauberspruch zu kreieren, der funktioniert und vorgeführt werden kann. Einige der Erstsemester kommen nach vorne, stellen ihr Fragen, verabschieden sich höflich, wünschen ihr einen schönen Sommer. Sie haben sich an Narzissas Gesicht gewöhnt. Narzissa hat sich an ihre Gesichter gewöhnt. Auf den Fluren wird Narzissa manchmal von Gestalten gegrüßt, die sie nicht kennt und die ihr doch bekannt vorkommen. In den vergangenen Monaten musste sie feststellen, dass sie ein schlechtes Gedächtnis für Namen und ein mittelmäßiges Gedächtnis für Gesichter hat. Es sind die Stimmen und die Art, sich zu bewegen, die bei ihr hängen bleiben.

Um nicht die Grenzen zwischen dem Beruflichen und Privaten zu vermischen, hat sie Lucius gebeten, in ihrem Büro auf sie zu warten, doch er hat sich nicht daran gehalten, sondern beobachtet ihre Studenten dabei, wie sie grüppchenweise den Hörsaal verlassen und klopft dann gegen den Türrahmen. Als müsste er noch irgendwie um ihre Aufmerksamkeit bitten.

„Fertig?“

„Du solltest doch oben warten.“

„Hab ich, aber es war elend warm und aus irgendeinem Grund war es unmöglich, das Fenster zu öffnen – oder irgendeinen Zauber auszusprechen, der die Raumtemperatur verbessert. Hast du dein Büro verhext?“ Sie zuckt mit den Schultern, denn es erstaunt sie, dass Lucius sich über den Bann nicht hinwegsetzen konnte, Zauberstab hin oder her. Es war kein besonders starker Zauber – und eine Übung für die Studenten, die zu ihr kamen, um ihre Ideen zu präsentieren. Ehe sie anfingen, ihren einstudierten Text herunterzurasseln, mussten sie sich erstmal mit der kleinen Blockade auseinandersetzen und wurden so ein wenig aus dem Konzept gebracht. Aufgelockert.

„Ja, ich habe mein Büro verhext.“

„Typisch. Irgendwie ist das typisch.“ Er räuspert sich und sie klettert von dem kleinen Podest herunter, auf dem sie steht, wenn sie ihre Vorlesung hält. Die Unterlagen sind gut erzogen, sie sortieren sich und verschwinden ohne ihr Zutun in der Tasche, in der sie bis September bleiben sollen. Lucius reicht ihr eine Hand, als sie von dem Podest steigt und schlingt seinen anderen Arm um sie.

„Oh, du bist warm. Lass mich los.“ Er lässt sie tatsächlich los, allerdings nicht, ohne ihr einen Kuss auf den Mund zu drücken.

„Darf ich die Frau Professorin auf einen Eisbecher einladen?“

„Einen Eisbecher?“

„Wolltest du bei dem Wetter Tee trinken? Oder Kuchen essen?“ Kuchen war grundsätzlich etwas, das sie in allen vier Jahreszeiten essen konnte, aber sie sah ein, dass es heute nicht die erste Wahl war.

„Du darfst mich einladen. Aber du weißt, dass ich keine Professorin bin. Ich bin eine Vertretungslehrerin.“

„Eine Vertretungslehrerin, deren Vertrag für ein weiteres Jahr verlängert wurde.“ Er legt einen Arm um sie und obwohl sie das Gefühl hat, dass das Kleid an ihrem Rücken klebt, macht sie sich nicht von ihm los, sondern achtet darauf, dass alle Lichter erloschen sind und die Tür abgeschlossen ist. Abschließend prüft sie ihre Tasche und merkt, wie Lucius sich einen Schritt von ihr entfernt. Er ist an den kleinen Kasten herangetreten, in dem der Stundenplan des Sommersemesters aushängt, damit sich alle Studenten selbstständig informieren können, ob sie den richtigen Raum gefunden haben, ohne eine Veranstaltung unterbrechen zu müssen. „Ich wusste gar nicht, dass wir geschieden sind.“ Er sieht sie mit hochgezogenen Augenbrauen an und liest vor: „Freitag, 14 bis 16 Uhr, Theorie und Praxis der Zauberkunst I; Einführungsveranstaltung für den Studiengang Zauberkunst und Zauberspruchlehre. Dozierende: Ms. Narzissa Black.“

„Oh, das ist nur eine Reminiszenz.“

„Eine Reminiszenz?“

„Professor Chamberlain hat sich nie daran gewöhnt, mich nicht Miss Black zu nennen und irgendwie… es ist dumm und sentimental, aber es kam mir passend vor. Ich habe mich hier als Narzissa Black eingeschrieben.“

„Wir sind seit 25 Jahren verheiratet.“

„Und ich habe mich vor 26 Jahren eingeschrieben.“ Sie lächelt und greift nach seiner Hand. „Sei nicht gekränkt.“

„Ich bin nicht gekränkt, nur irritiert.“

„Sei nicht irritiert.“ Sie küsst ihn auf die Wange und drückt seine Hand fester.

„Du weißt, dass du es den hormonell verwirrten Erstsemestern so nur noch leichter machst, sich in dich zu verlieben, oder?“

„Ich glaube nicht, dass sie mit 18 noch hormonell verwirrt sind.“

„Oh, das glaube ich für dich mit.“ Lucius räuspert sich. „Wir haben heute Astoria Greengrass zu Gast.“

„Schon wieder?!“ Bereits in den Weihnachtsferien war Astoria, die zu ihrer Familie gefahren war, mehr als einmal bei ihnen zu Besuch gewesen. Narzissa hatte nicht zu fragen gewagt, was das zu bedeuten hatte. Die Beziehung zwischen Draco und Pansy war ihr sehr stabil vorgekommen, am 25. Dezember hatte Pansy den Tag bei ihnen verbracht, den 26. Dezember hatte Draco bei den Parkinsons verbracht. Zwei Tage darauf war Astoria aus ihrem Kamin gestiegen und bis zum 30. Dezember täglich wiedergekommen. An Silvester war zur Abwechslung Pansy im Salon gelandet und gemeinsam waren Draco und sie zu einer Silvesterparty appariert, die Astoria Greengrass ganz offensichtlich nicht miteinschloss. Danach war Astoria bis zum Beginn des Schuljahres noch drei weitere Male zu Gast gewesen. Und vom 6. Januar an war alles wie vorher gewesen und weder Lucius, noch sie hatten sich zu indiskreten Fragen herabgelassen. Doch wenn dieses Hin und Her zwischen Pansy und Astoria sich über den ganzen Sommer ziehen würde, dann mussten sie früher oder später ein Machtwort sprechen.

„Schon wieder. Ich verstehe nicht so richtig, was das soll. Ich hatte den Eindruck, dass es ihm mit Pansy wirklich ernst ist. Aber wenn er die ganzen Sommerferien über jeden Abend Astoria sehen möchte…“ Er rümpft die Nase. „Mir behagt die Vorstellung nicht, dass unser Sohn zweigleisig fährt.“

„Vielleicht ist es ja gar nicht so. Vielleicht ist Pansy mit ihrer Familie weggefahren und er vertreibt sich nur die Zeit. Es kann ja auch sein, dass Astoria und er lediglich befreundet sind.“ Lucius lacht auf und schüttelt den Kopf. „Warum bist du dir so sicher? Wir wissen ja nicht einmal, ob Pansy nicht Bescheid weiß? Vielleicht hat sie gar nichts dagegen einzuwenden, dass die beiden Zeit miteinander verbringen?“

„Hast du dir das Mädchen mal angeguckt?“

„Welches Mädchen jetzt?“

„Astoria.“ Lucius schüttelt wieder den Kopf. „Mit so einem Mädchen kann man nicht einfach nur befreundet sein. Sie ist…“ Er stockt. Offenbar fällt ihm auf, dass das vielleicht kein so guter Ansatz für das Thema Astoria Greengrass ist. Doch dann fängt er sich und entscheidet, dass er das Schiff nun auch untergehen lassen kann. „Sie ist sehr attraktiv.“

„Ach, findest du?“

„Findest du nicht?“

„Doch, sie ist ein hübsches Mädchen. Aber Pansy ist auch ein hübsches Mädchen und außerdem ist sie eine gute Freundin für Draco. Und sie geht nicht mehr zur Schule.“

„Astoria hat auch nur noch ein Jahr in Hogwarts vor sich…“

„Wollten wir nun Eis essen oder gefällt es dir sehr gut in diesem Korridor?“ Sie will nicht darüber nachdenken, dass Draco vielleicht einen sehr durchtriebenen Zeitplan verfolgt und nur darauf wartet, dass Astoria volljährig und mit ihren UTZs in der Tasche vor ihm steht.

Doch das Thema ist noch nicht ausgestanden, denn als sie überzuckert und eigentlich sehr zufrieden im Salon landet, da ist das Erste, was sie hört, ein Kichern, das aus dem Garten kommt. Astoria und Draco sitzen draußen und teilen sich eine große Kanne Eistee. Lucius kommt wenige Sekunden nach ihr an und das zweifache Disapparationsgeräusch sollte eigentlich nicht zu überhören sein, aber weder Draco, noch seine kichernde Besucherin drehen sich zu ihnen um. Die Tür zum Garten ist nur angelehnt und wenn sie wollte, dann könnte sie jedes Wort hören, aber das will sie eigentlich nicht. Sie hat gerade noch genug Zeit, um zu beobachten, wie Dracos Hand auf der Lehne von dem Stuhl landet, in dem Astoria es sich bequem gemacht hat, ehe Lucius sie mit sich in Richtung der Treppe zieht. Astoria trägt ein rosafarbenes Sommerkleid und wirkt mit ihren blonden, gelockten Haaren wie ein Püppchen. Sie wird den Gedanken nicht los, dass ihre Mutter – wenn sie ein wenig fortschrittlicher in Bezug auf kurze Kleidersäume gewesen wäre – sehr viel von Astorias Erscheinung gehalten hätte. Die Vorstellung, dass Draco wirklich mehr von diesem Mädchen wollen könnte, lässt sie erschaudern.

„Wir sollten von unserem Hausrecht Gebrauch machen und ihnen verbieten, sich hier zu treffen.“ In ihrem Garten. Lucius wirkt von ihrem Ausbruch überrascht. Bei den Mengen an Zucker, die sie konsumiert hat, sollte sie eigentlich auf Wolken gehen. „Sie ist eine Zecke. Eine kichernde Zicke.“

„Zissy, sie ist nur ein Kind.“

„Sie ist nicht nur ein Kind. Sie ist ein Biest.“

„Du kannst sie wirklich nicht leiden.“ Wenn er das mit diesem Unterton sagt, dann klingt es, als wäre diese Erkenntnis gerade sehr frisch bei ihm eingetrudelt. Er hat sie ins Wohnzimmer geführt und platziert sie neben ihrem Lieblingskissen. „Möchtest du noch etwas trinken? Es ist immer noch sehr warm.“

„Es sah eben so aus, als hätte Elsi Eistee vorbereitet.“

„Ich schaue nach.“

Die zwei Minuten, die Lucius braucht, um mit einer zweiten Kanne Eistee und Gläsern aufzuwarten, reichen nicht einmal annähernd, um ihre gute Laune zurückzuerlangen. Auch ein Kuss von Lucius hilft nicht besonders.

„Warum findest du sie plötzlich so furchtbar? Als sie vorletzten Sommer hier war, da hatte ich nicht das Gefühl, dass du etwas dagegen hast. Ganz im Gegenteil.“

„Im vorletzten Sommer waren Draco und Pansy auch noch nicht zusammen. Da waren die Rahmenbedingungen ganz anders. Aber das da unten… das ist widerlich. Sich so an jemanden ranzumachen, der vergeben ist… das gehört sich nicht. Das gehört sich einfach nicht.“ Lucius seufzt und malt beruhigende Kreise auf ihren Oberschenkel. Selbst durch den Stoff des Kleides sind seine Hände noch warm, aber es ist nicht zu unangenehm.

„Du kannst ihr nicht die alleinige Schuld zusprechen. Draco hat sie schließlich eingeladen. Er ist erwachsen. Und er weiß wohl am Besten, ob er mit Pansy zusammen sein will oder nicht.“

„Meinst du, sie haben Schluss gemacht? Das hätte er doch erwähnt.“

„Ja, ich denke auch, dass er es erwähnt hatte… aber vielleicht haben sie gestritten? Oder er hat ganz einfach gemerkt, dass ihm an Astoria etwas liegt? Sie war ihm vor zwei Jahren schließlich eine große Stütze…“

„Das denken wir, dass sie eine Stütze gewesen ist. Vielleicht hat sie ihn auch ausgenutzt. Vielleicht hat sie seinen schwächsten Moment genutzt und erinnert ihn jetzt, wo es ihm so viel besser geht, daran und tut so, als sei er ihr etwas schuldig.“

„Die beiden sahen nicht aus wie Schuldner und Gläubiger.“

„Warum bist du eigentlich so für Astoria?“ Sie sieht ihn mit zusammengekniffenen Augen an und weiß, dass sie ihm da etwas unterstellt. Eben noch hat er selbst gesagt, dass er den Gedanken, das Draco möglicherweise jemand war, der seine Freundin betrog, nicht mochte.

„Ich bin nicht für sie. Aber Draco ist jung. Pansy und er… vielleicht ist das doch eher eine Jugendliebe? Jetzt schau mich nicht so an, ich mag Pansy auch, man kann sich sehr angenehm mit ihr unterhalten, aber wir können Draco doch nicht vorwerfen, dass er nicht für alle anderen Mädchen blind ist. Er sollte sich nur bald entscheiden, mit wem er seine Zeit verbringen möchte. Es wäre nicht richtig, wenn Astoria ständig hier wäre und Pansy keine Ahnung hätte, was vor sich geht.“

„Jugendliebe. Ein seltsames Wort.“

„Ich habe mir das nicht ausgedacht. Das sagt man so.“

„Aber es ist Unsinn. Wenn es eine Jugendliebe gibt, was bin ich dann für dich? Deine Jugendliebe, die du leider nie losgeworden bist?“ Seine Mundwinkel zucken und er drückt einen Kuss auf ihre Schulter.

„Meine Jugendliebe war Priscilla.“

„Priscilla?“ Diesen Namen hat sie seit Jahren weder gehört, noch gedacht und sie braucht einen Moment, um sich an das Gesicht des Mädchens zu erinnern, das in ihrem fünften Schuljahr die dienstältere Vertrauensschülerin gewesen ist. Eigentlich hört sie nur Andromedas Stimme, die Pisscilla zischt. Weil sie eine Pissnelke und sonst nichts ist. „Priscilla Robinson?“

„Als ihr Freund sie verlassen hat, weil sie wegen der Vertrauensschülerpflichten zu wenig Zeit für ihn hatte, sind wir einmal zusammen nach Hogsmeade gegangen. Die schlechteste Verabredung meines Lebens.“ Warum er sich diese Anekdote jahrzehntelang aufgespart hat, um sie ausgerechnet an diesem Abend damit zu überrumpeln, kann sie unmöglich sagen. Sie kann nur immer wieder darüber staunen, was er wann erwähnenswert findet und was nicht. Sein Verstand muss so vollkommen anders arbeiten als ihr eigener – und noch immer kann sie ihn nicht vollkommen begreifen.

„Will ich lachen? Will ich weinen? Ich weiß es nicht.“ Vollkommen erschöpft, niedergestreckt von dieser schrägen Information, lässt sie sich in das Polster sinken. Er beugt sich über sie und küsst sie auf die Stirn, während er ein Lachen unterdrückt.

„Bitte nicht weinen.“ Sie zieht sein Gesicht zu sich herunter, sodass sie sich nicht recken muss, um ihn richtig zu küssen. Wahrscheinlich ist es so sehr unbequem für ihn, aber wer Priscilla Robinson wieder herauskramen kann, der kann sich auch ein bisschen den Nacken verrenken. Als er sich schließlich von ihr löst, ist Priscilla vergessen, aber das Schreckgespenst der Gegenwart, Astoria, geht ihr immer noch nicht aus dem Kopf.

„Findest du Pansy hübsch?“ Sie sieht zu ihm auf und sieht ihn erstarren.

„Wie bitte?“

„Ob du sie hübsch findest. Du hast eben gesagt, dass du Astoria sehr attraktiv findest. Dann wirst du ja wohl auch eine Meinung zu Pansy haben. Oder willst du mir erklären, dass du nur darauf achtest, ob Minderjährige attraktiv sind oder nicht?“

„Ich hätte das Thema nicht anschneiden sollen.“

„Hast du aber.“

„Ich denke, man kann Pansy und Astoria nicht miteinander vergleichen. Sie sehen sich nicht einmal ein bisschen ähnlich. Natürlich stimmt es, was du gesagt hast, beide sind hübsch. Beide sind hübsche, vernünftige, junge Frauen und Draco könnte es weitaus schlechter treffen. Wahrscheinlich könnte er es kaum besser treffen, für wen auch immer er sich entscheidet.“

„Für wen würdest du dich entscheiden, wenn du an seiner Stelle wärst?“

„Findest du nicht, das geht jetzt ein bisschen zu weit?“

„Nein.“

„Wir werden uns immer an diese Unterhaltung erinnern. Das wird eine lebenslängliche, unangenehme Erinnerung, falls Draco eine von beiden heiraten sollte. Dann wollen wir doch nicht wirklich darüber gesprochen haben, ob ich unsere potenzielle Schwiegertochter attraktiv finde – oder ob ich die Andere genommen hätte.“

„Ich hab dich nicht darum gebeten, mit einer von ihnen ins Bett zu gehen. Es ist lediglich ein Gedankenspiel. Eine Herausforderung an deine Vorstellungskraft, sonst nichts.“ So harmlos wie sie gerade tut, ist die Frage dann doch nicht. Lucius hat schon Recht. Egal, was er jetzt sagt, sie wird es ihn nie vergessen lassen.

„Ich wüsste nicht, für wen ich mich entscheiden würde. So gut kenne ich sie ja beide nicht. Und es zählen ja nicht nur die Äußerlichkeiten.“

„Und wenn nur die Äußerlichkeiten zählen würden? Wenn du 20 Jahre alt wärst und dir die beiden Mädchen am selben Tag auf der Straße entgegenkommen würden. Welche würdest du ansprechen?“

„Keine.“

„Und wenn dein Leben davon abhinge, dass du ein Mädchen ansprechen musst, weil du sonst am nächsten Tag sterben würdest?“ Lucius lacht über diese absurden Bedingungen des Gedankenspiels, aber je mehr er sich ziert, umso dringender will sie eine Antwort haben. Sie will den Namen hören. Sie weiß, welchen Namen er nennen wird. So gut kennt sie ihn dann doch. „Wen, Lucius… wen?“

„Astoria.“

„Ich wusste es.“

„Warum fragst du dann?“

„Ich wollte es von dir hören.“ Sie setzt sich auf, schmiegt sich an ihn, auch wenn es immer noch ein bisschen zu warm ist, und drückt einen Kuss auf seinen Hals. Ihre Hand legt sie oberhalb seines Gürtels ab. „Danke für deine Ehrlichkeit.“

„Soll das eine verspätete Umerziehungsmaßnahme werden, damit ich zu einem unangenehm ehrlichen Menschen werde?“

„Für so einen Menschen hab ich dich früher gehalten, weißt du das? Du warst in einigen Dingen so offen und direkt, dass ich nie gedacht hätte, dass du überhaupt lügen könntest. Auf einen Lügner hätte ich mich nie eingelassen.“ Sie küsst ihn wieder und zaubert einen kleinen Tornado, der durch das Zimmer wirbelt und die warme Luft vertreibt. „Priscilla…wieso haben wir jetzt über Priscilla gesprochen?“

„Ich dachte, es wäre eine effektive Ablenkung von Astoria.“

„Und da ist dir nichts Besseres eingefallen?“ Sie klettert auf seinen Schoß und lässt zu, dass er mit seiner Hand unter ihr Kleid greift, ihre Hüfte packt und sie so an sich zieht, dass sein Oberschenkel zwischen ihren Beinen landet. „Wir haben Gäste.“

„Wir haben einen einzigen Gast – und du denkst doch nicht ernsthaft, dass die beiden sich nach oben verirren. Wenn überhaupt, verläuft Astoria sich in Dracos Schlafzimmer.“

„Sag so was doch nicht.“

„Was soll ich denn sagen?“

„Gar nichts.“ Sie lächelte, beugte sich zu ihm vor und freut sich, dass er sogar noch ein wenig schneller ist und sie zuerst küsst.

* * *



Lucius sollte Recht behalten. Im Laufe des Abends bekamen sie weder Astoria, noch Draco zu sehen und irgendwann wurde Narzissa es auch leid, sich Gedanken darüber zu machen, ob sie einen Mistkerl großgezogen hatte oder nicht. Sie nahm sich allerdings vor, ein Machtwort zu sprechen, wenn dieses Theater wirklich bis September andauern sollte.

Nicht ganz zufrieden, aber erschöpft und auch nicht richtig unzufrieden lag sie im Bett und wartete darauf, dass ihr Kopf schwer und ihre Gedanken langsam wurden, als sie auf einmal Lucius' Stimme hörte. Er klang hellwach.

„Ich höre nächste Woche im Ministerium auf.“ Sie wünschte, sie wäre weniger müde. Dann könnte sie mit Sicherheit sagen, ob er enttäuscht war. Oder müde. Oder vielleicht sogar erleichtert. So konnte sie sich nur umdrehen und nach seiner Hand tasten. Schläfrig verschränkte sie ihre Finger mit seinen.

„Wann genau?“

„Mittwoch.“ Die Mitte der Woche. Die Mitte des Lebens. „Es ist kein hochkanter Rauswurf oder so, sondern eine vorzeitige Pensionierung. Die Rente, die sie mir zahlen wollen, ist sogar lächerlich hoch. Kingsley Shacklebolt persönlich hat mir heute einen Besuch abgestattet.“

„Bist du traurig?“

„Ich weiß es nicht so genau.“ Sie könnte fragen, warum sie nicht heute Nachmittag darüber gesprochen hatten, als sie beide geistig auf der Höhe gewesen waren. Aber sie konnte sich die Frage auch sparen. Die Worte wären verschenkt. Er wollte ihr nicht in die Augen sehen. Er wollte vielleicht nicht einmal seine eigenen Augen geöffnet haben, während er ihr davon erzählte. „Ich habe immer gerne dort gearbeitet. Das Ministerium… ich weiß, du hast die Faszination nie verstehen können, aber es hat mich wirklich interessiert, wie es funktioniert. Wie die Abteilungen verbunden sind, wer wirklich mächtig ist und wer nur einen mächtigen Titel hat und welchen Einfluss das Ministerium hat – und welchen es haben könnte. Und die Verwaltung… ich war zwar nicht wirklich mit den Leuten dort befreundet, aber ich kenne sie so lange. Und ich war so gut darin. Klar, Tschechow, der Junge, der in meine Position gesetzt wird, der hat sich in den letzten Monaten wirklich gut gemacht, er ist großartig, um genau zu sein… aber er wird Jahre brauchen, um das Ministerium wirklich zu verstehen. Ich habe auch Jahre gebraucht.“ Er atmet geräuschvoll aus. „Es ist schon irgendwie ironisch, oder? Ich verliere meine Arbeit und du fängst gerade erst so richtig an.“

„Ich bin nur eine Vertretung. Ich bin nicht wirklich qualifiziert, um die Lücke auszufüllen, die Professor Chamberlain hinterlassen hat.“

„Aber du könntest diese Lücke füllen. Du könntest deine Doktorarbeit schreiben. Du könntest sogar eine richtige Professorin werden. Du hast das Zeug dazu.“

„Ich bin fast zwanzig Jahre im Verzug.“ Sie will nicht so klingen, als würde sie das bedauern. Der ganze Satz hört sich eigenartig an, denn so hat sie es nie betrachtet. Sie hat nicht die Jahre gezählt, in denen ihr Studium unterbrochen war. Sie hat ihr Studium beendet, abgeschlossen. Sich um Draco zu kümmern, sich um Malfoy Manor zu kümmern, zuhause zu sein, das war ihr Leben gewesen und es war nicht so, als hätte sie es insgeheim gerne anders gehabt. Sie hatte keine Zeit verschenkt. Sie war nicht im Verzug. „So habe ich das nicht gemeint, aber es ist einfach zu spät. Und ich bin nicht wie Andromeda… es fällt mir nicht leicht, mich vor einen halb gefüllten Hörsaal zu stellen und über Zauberkunst zu reden. Es ist mir unheimlich. Ich schwitze jedes Mal, als würde ich anderthalb Stunden Treppensteigen. Ich verhaspel mich. Meine Erklärungen sind umständlich. Jedes Mal, wenn jemand aufzeigt und eine Frage hat, zähle ich innerlich bis drei, um mich zu beruhigen.“

„Vielleicht tut Andromeda das auch. Vielleicht zählt auch eine Professor McGonagall innerlich bis drei?“

„Das glaube ich nicht… aber ich wollte jetzt auch nicht über mich reden. Du hast gesagt, es ist irgendwie ironisch und das ist es. Aber wir werden uns schon zurechtfinden, oder? Du kannst dir ja eine andere Arbeit suchen. Es gibt sicher etliche Zauberer, die froh wären, mit dir zusammenarbeiten zu können. Draco kann deine Unterstützung auch gebrauchen, er schlägt sich zwar sehr gut, aber er ist immer noch sehr jung, die Mitarbeiter der Apotheken nehmen ihn nicht alle für voll… besonders die Schotten, die sind garstig.“

„Ich will keinen anderen Job. Ich will nicht… ich will nicht arbeiten. Ich… ich bin müde. Wir können morgen noch darüber reden.“

„Du klingst nicht müde?“ Und allmählich war sie es auch nicht mehr. Sie stützte sich auf ihrem Ellenbogen ab und legte ihr Kinn auf seiner Brust ab. „Was wolltest du sagen? Du wolltest doch irgendwas sagen? Du wolltest mir nicht nur davon erzählen.“

„Ich kann es nicht.“

„Was kannst du nicht?“

„Ich kann es nicht sagen. Es ist zu egoistisch.“

„Sag es.“

„Ich dachte, wir könnten weg. Einfach verschwinden. Weißt du noch, als wir geheiratet haben, wie viele Pläne wir da hatten? Was wir alles machen wollten? Was wir alles sehen wollten? Wir haben so wenig davon wirklich gemacht. Immer kam etwas dazwischen. Immer kam mein Leben dazwischen. Ich habe nie länger als drei oder vier Wochen Urlaub im Jahr nehmen können. Wir sind zwar im Sommer oft im Urlaub gewesen, aber mit Draco sind wir auch nicht so weit gereist. Draco ist erwachsen, das Ministerium ist passé und ich… ich kann von dir nicht verlangen, dass du Cambridge aufgibst. Das ist deine Chance. Du hast dich mir nie in den Weg gestellt, du hast dich nie beklagt, wenn ich eine Stunde länger geblieben bin oder samstags im Büro saß. Ich sollte wenigstens so fair sein, dich zweimal in der Woche entbehren zu können.“

„Lucius…“

„Du musst nichts sagen. Ich weiß, wie selbstsüchtig ich bin, weil ich es überhaupt gesagt habe.“

„Ich habe den Vertrag für nächstes Jahr noch nicht unterschrieben. Das Treffen mit Jonathan wäre erst nächste Woche.“

„Es ist nächste Woche. Du wirst das nicht absagen, ich… ich hätte den Mund halten sollen. Ich hätte nicht davon anfangen dürfen.“

„Doch! Ich bin froh, dass du davon angefangen hast. Aber du hast auch etwas vergessen. Egal, ob ich mich an Cambridge binde oder nicht, wir können nicht einfach so das Land vergessen. Hast du dein Urteil vergessen, die ganzen Auflagen? Das Ministerium schickt zwar nur noch alle sechs Wochen jemanden und ich habe eher das Gefühl, dass es eine Schikane für die frischen Auroren ist, unser Haus von oben bis unten zu inspizieren und keine tatsächliche Untersuchung, bei der man beabsichtigt, etwas zu finden, aber trotzdem. Diese Untersuchungen finden statt. Dein Zauberstab ist auch immer noch im Ministerium und ich wüsste nicht, dass Kingsley Shacklebolt ihn dir zu Pensionierung feierlich überreichen wollte.“

„Doch, das wollte er.“

„Wirklich?“

„Ja, wirklich. Soll wohl eine Art von Entschädigung sein. Aber das ist die einzige Lockerung.“

„Also. Das bedeutet, dass wir zwar apparieren können, aber nur innerhalb der Grenzen des britischen Königreichs. Wenn wir darum bitten würden, einen Urlaub auf dem europäischen Festland zu machen, das würde sicherlich auch irgendwie gehen mit ein bisschen Papierkram, aber… du bist auf Bewährung, wenn man so will, dann wirst du immer auf Bewährung  sein.“

„Bis an mein Lebensende.“

„Ja, möglicherweise… warum hast du das jetzt so eigenartig betont?“ Sie spürt, wie schnell sein Herz schlägt und sie legt ihre Hand auf seiner Brust gleich neben ihrem Kinn ab. „Lucius?“

„Du weißt, was man über Totgesagte behauptet?“

„Dass sie länger leben… oh, Lucius, nein, nein, nein, darüber kannst du nicht ernsthaft nachgedacht haben! Wir hätten dann vielleicht die Freiheit, das Land zu verlassen, aber wir könnten nie wieder zurück. Wir müssten uns ständig umsehen. Wir müssten ständig lügen. Das Haus würden wir nie wieder betreten können! Draco würden wir auch nie wiedersehen! Wir würden nie erfahren, ob er sich für Pansy oder Astoria entscheidet! Lucius, das… Lucius das geht nicht. Ich liebe dich und ich würde alles für dich tun, aber das geht nicht.“ Ihre Finger haben sich in seinem Oberteil verkrallt und er legt seine Hand beruhigend auf ihre, löst ihren klammernden Griff.

„Ich weiß, dass es nicht geht. Und ich… es war nur ein Gedankenspiel.“

„Klau mir nicht meine Wörter.“

„Dann nennen wir es einen Wunschtraum. Einen verrückten Wunschtraum. Es ist nur… als Shacklebolt heute bei mir war, da hab ich irgendwie die Nerven verloren. Ich wusste, dass es irgendwann passieren würde, ich war nicht mal überrascht, aber ich weiß einfach nicht… ich weiß nichts mit mir anzufangen. Ich fühle mich jetzt schon nutzlos.“

„Du bist nicht nutzlos. Du gehörst zu mir. Du gehörst hierhin. Genau hierhin.“ Sie drückt einen Kuss auf die Stelle, an der eben noch ihr Kinn gelegen hat. „Du bist nicht nutzlos und schon gar nicht tot, bis ich es sage. Hast du mich verstanden?“

„Ich liebe dich, Zissy.“

„Gut für dich.“

„Ja, das ist gut für mich.“

Chapter 50: In einem wüsten Land

Chapter Text

50 – In einem wüsten Land



Der Mann, der sein halbes Leben damit verbracht hatte herauszufinden, welche Blumen sie am liebsten mochte, lächelt ihr in Abstufungen von Schwarz und Weiß von der Titelseite des „Tagespropheten“ zu. Das Ableben von Lucius Malfoy war eine Schlagzeile. Das sollte sie nicht wundern, aber ihr Herz pochte ganz wild, weil sie nicht damit gerechnet hatte, zwischen Tee und Zucker von ihm betrachtet zu werden. Irgendjemand hatte ein Bild gefunden, auf dem sich ein kleines, feines Lächeln auf seinem Gesicht abzeichnete.

Als Draco in die Küche kam, war sie immer noch ziemlich fassungslos und las zum zehnten Mal die wenig schmeichelhaften Worte über den ehemaligen Leiter der Ministeriumsverwaltung. Besser bekannt als Lucius. Ihr Ehemann, der erst vor wenigen Tagen davon gesprochen hatte, ein Totgesagter zu werden.

„Lies dir das doch nicht auch noch durch.“ Draco schimpft mit ihr wie mit einem kleinen Kind und richtet gleichzeitig seine Krawatte. Ihr Kind mit einer Krawatte zu sehen, ist höchst befremdlich, aber er bricht heute zu seiner ersten „Geschäftsreise“ auf und sie weiß, dass er besonders bei den Apotheken, in denen er noch nie gewesen ist, einen guten Eindruck hinterlassen will.

„Ich lese beim Frühstück immer die Zeitung.“ Mindestens eine. Aber vielleicht sollte sie den „Tagespropheten“ und die „Hexenwoche“ und überhaupt jedes Magazin, das Rita Kimmkorn beteiligte, endlich abbestellen.

„Dann geh direkt zum Kreuzworträtsel weiter und spar dir diese makabere Scheiße.“

„Deine Ausdrucksweise, Draco.“

„Ich bitte dich, Mum, es ist makaber und es ist Scheiße. Das darf man ja wohl noch sagen.“ Sie rümpft die Nase. „Hat Dad es schon gesehen?“

„Dein Vater schläft noch.“ Seitdem Lucius nicht mehr ins Ministerium musste, also seit acht Tagen, in denen er ihr gnadenlos auf den Geist gegangen war, weil er immer wieder vergaß, dass sie am Vormittag einen Alltag hatte, zu dem er nicht gehörte, hatte er versucht, gegen seinen Biorhythmus zu gewinnen. Es war ein Kampf ohne Sieger und sie kam sich albern dabei vor, aus ihrem eigenen Schlafzimmer zu schleichen.

„Dann verbrenn es am Besten.“ Draco verzieht das Gesicht. „Er hat nur seinen Job verloren und sie setzen einen hämischen Nachruf auf. Mal ehrlich, das ist doch makaber. Und was soll überhaupt der arme Kerl denken, der jetzt für alles verantwortlich ist? Sie nennen seinen Namen genau einmal und haben ihn auch noch falsch geschrieben!“

„Warum empört dich das so?“

„Warum es mich empört? Du hast doch eben auch so geguckt, als wärst du gegen eine Mauer gelaufen – und jetzt tust du so, als würde es dich total kalt lassen.“ Mit einem rigorosen Griff nahm Draco ihr die Zeitung ab und zerknüllte sie mit zwei Händen. Nicht einmal die Rätselseite hatte er gerettet.

„Schön. Es ist makabere Scheiße. Trotzdem hätte ich es vielleicht gerne aufbewahrt? Es hätte sich gut in einem unserer Photoalben gemacht. Man hätte es auch rahmen können.“ Draco verdreht die Augen und wirft den Papierknäuel in den Mülleimer.

„Du solltest sie verklagen.“

„Rita Kimmkorn? Verklagen?“ Ihre letzte Stippvisite bei Rita Kimmkorn war eine Weile her und es war zu erwarten gewesen, dass die Reporterin früher oder später vergessen würde, eingeschüchtert zu sein. Sicherlich war Narzissa nicht die einzige Verleumdete – oder Angehörige eines Verleumdeten – die vor ihrer Tür stand. Irgendwann mussten Prioritäten gesetzt werden – und Lucius „Pensionierung“ war natürlich ein gefundenes Fressen. „Du bist wieder witzig… sag mir lieber, was ich jetzt lesen soll? Oder wolltest du dich etwa so früh am Tag mit mir unterhalten?“

Draco schüttelte stumm den Kopf und zog ein grellbuntes Magazin aus seiner Tasche, die er mit auf Reisen nehmen wollte. Es war eine druckfrische Ausgabe des „Klitterers“ – die erste Ausgabe unter dem Flaggschiff von Xenophilius und Luna Lovegood.

„Die Eule hat sich im Fenster geirrt. Zwei Eulen, genau genommen. Mit zwei Magazinen. Den einen Vogel habe ich bezahlt, aber den anderen habe ich abgewimmelt.“ Und damit das Abonnement von Abraxas Malfoy endgültig gekündigt. Es war eine schöne, wenn auch überflüssige Tradition gewesen, immer noch zwei Exemplare des Magazins im Haus zu haben.

Neugierig schlug Narzissa die Zeitschrift auf und überflog das Inhaltsverzeichnis. Es war der übliche Irrsinn, eine besonders dicke Beilage über Nargel, anlässlich der genau dreißig Jahre zurückliegenden Entdeckung der Wesen durch Xenophilius Lovegood höchstpersönlich. Das Vorwort war von Luna Lovegood verfasst, die sich den Lesern höflich vorstellte.

„Hast du sie eigentlich noch einmal gesprochen?“

„Wen?“

„Luna.“

„Warum sollte ich mit Luna Lovegood sprechen?“

„Ich dachte ja nur. Immerhin hast du Blaise neulich besucht und seine Mutter und Xenophilius sind doch verheiratet, oder nicht?“ Das war keine echte Frage. Eliza Zabini war berühmt oder besser gesagt berüchtigt dafür, dass sie sich nicht einfach nur scheiden ließ, sondern siebenfach verwitwet war. Die Beilage über Nargel war ein handfester Beweis dafür, dass es Xenophilius Lovegood gesundheitlich recht gut gehen dürfte.

„Ja, sind sie. Aber Luna lebt nicht bei ihnen. Und Blaise streng genommen auch nicht wirklich.“ Draco klingt genervt und sie weiß nicht, woran es liegt. Immerhin hat er ihr freiwillig von seinem Besuch bei Blaise erzählt und sogar einigermaßen wohlwollend von dessen Freundin gesprochen. „Wenn du mit Luna reden willst, dann mach das doch einfach. Sie freut sich bestimmt. Sie ist jemand, der sich über unberechenbare Post freuen kann, denke ich.“

„Ich wüsste einfach gerne, wie es ihr geht.“ Sie hält das Inhaltsverzeichnis hoch, das gleich neben dem Vorwort gedruckt ist. „Allerdings steht hier, dass es ihr gut geht und sie sich sehr freut, das Layout für den Klitterer fortan zu übernehmen. Das sollte ich ihr ja glauben.“

„Mum, worauf willst du eigentlich hinaus?“

„Ich weiß nicht. Diese Todesanzeige… vielleicht hat mich das doch ein bisschen aus dem Konzept gebracht. Seit bestimmt einer Viertelstunde denke ich darüber nach, wie viele Tote ich kenne. Es fühlt sich manchmal so an, als wäre jeder, den ich kenne, gestorben oder verschwunden. So sollte man sich eigentlich erst fühlen, wenn man wirklich alt ist.“ Ihre Stimme bricht ab und sie trinkt hastig einen Schluck von dem Tee, der nur noch lauwarm ist und deshalb irgendwie merkwürdig schmeckt. Vielleicht liegt es auch daran, dass sie die Ziehzeit überzogen hat. Lucius wird es ihr später sagen, wenn er aufgestanden ist und kritisch den Inhalt der Teekanne beäugt.

„Mum… weinst du?“

„Ich glaube schon.“ Draco zögert eine Sekunde, aber dann geht er um den Tisch herum, setzt sich auf den Stuhl neben sie und rückt ganz nah damit heran, bis er einen Arm um sie legen kann.

„Mum, es ist nur ein blöder Artikel. Ein geschmackloser Witz.“

„Das weiß ich doch.“ Sie ärgerte sich darüber, dass ihre Stimme so brüchig klang. Ihre Hände waren ganz kalt und ihr Mund fühlte sich trocken an, obwohl sie gerade etwas getrunken hatte. „Die Liste ist nur so lang. Es ist… ich habe noch nie gezählt und ich will auch gar keine Zahl haben, aber es sind so viele. Du hast überhaupt keine Großeltern mehr. Du hast deine Tante und deinen Onkel nicht mehr.“

„Na ja, das finde ich jetzt nicht wirklich schlimm… ich meine, Andromeda ist toll. Andromeda ist die einzige Tante, die ich haben will.“

„Deine Cousine hast du auch nie kennengelernt… Nymphadora war nur sieben Jahre älter als du! Und Ted, deinen Onkel Ted hast du auch nie getroffen! Und weißt du überhaupt noch, wie Diana aussah?“

„Natürlich weiß ich noch, wie Diana aussah. Mum, jetzt hör auf, bitte… hör einfach auf.“

„Sirius kanntest du auch nicht. Oder Regulus.“

„Aber das ist doch nicht deine Schuld! Dann kannte ich sie eben nicht, na und? Kann ja nicht jeder 110 werden. Du wirst bestimmt 110. Und mit 110 kannst du dann wirklich heulen, weil alle deine Bekannten vor dir gestorben sind.“ Er hält ihre Hand und drückt sie beinahe unangenehm fest. „Wir sollten Rita Kimmkorn wirklich verklagen.“ Wieder drückt er ihre Hand. Diesmal nicht ganz so fest. „Soll ich Dad wecken?“

„Nein, er soll ruhig schlafen. Er wollte sich gestern bis zwei Uhr wach halten, um wenigstens bis acht oder neun Uhr schlafen zu können. Wenn du ihn jetzt weckst, hat er den ganzen Tag Kopfschmerzen.“

„Dagegen kann er doch einen Trank nehmen.“ Manchmal versetzt es sie wirklich in Erstaunen, wie pragmatisch Draco geraten ist. Und wie pflichtbewusst.

„Du musst los, oder? Du bist nur nochmal nach oben gekommen, um mir den „Klitterer“ zu bringen und dich zu verabschieden, oder?“

„Na ja, ich hab gesagt, ich bin da, noch bevor sie die Apotheke aufmachen… und in Aberdeen brauchen die Leute ihren Kräutertee anscheinend vor acht Uhr morgens.“

„Dann darfst du dich nicht verspäten.“ Sie lächelt ihn an und versucht, ihre brennenden Augen zu ignorieren. Zögerlich lässt er ihre Hand los und zieht seinen Arm zurück. „Ich komme schon zurecht, Draco.“

„Ganz sicher?“

„Natürlich, ich war nur… ein bisschen sentimental.“

„Wir sollten sie verklagen. Mal ehrlich. So was geht doch nicht.“

„Doch, doch, das ist die Freiheit der Presse, makabere Scheiße zu produzieren.“ Zu hören, wie sie flucht, bringt ihn dann doch ein bisschen zum Lachen. „Geh schon. Und sprich immer laut und deutlich, damit nicht wieder jemand behaupten kann, du würdest nuscheln.“

„Das haben die in Perth gesagt… die spinnen doch alle. Geben selber ein Gewäsch sondergleichen von sich, aber ich soll nuscheln! Mir hat noch nie jemand gesagt, ich würde nuscheln!“

„Du nuschelst auch nicht, mein Schatz, und jetzt geh schon.“ Draco steht auf, aber er beugt sich noch einmal zu ihr herunter und küsst ihre Wange. Das macht er nur zu besonderen Anlässen, eigentlich nur an ihrem Geburtstag. „Mach’s gut. Wir sehen uns nächste Woche.“

„Bis dann.“ Während er die Küche verlässt, zerknüllt er geräuschvoll die aktuelle Ausgabe des "Tagespropheten".

* * *



„Lucius?“ Der leere Raum wirft ihre eigene Stimme zu ihr zurück. Nachdem sie das Bett verlassen und unbeholfen gemacht vorgefunden hat, ist sie im Wohnzimmer und in allen Badezimmern der Etage gewesen, ehe sie angefangen hat, ihn im Erdgeschoss zu suchen. Der Salon ist leer, es riecht noch ein wenig nach dem Flohpulver, mit dem Draco verreist ist. Anstatt ihre eigene Stimme magisch zu verstärken, ist sie einer Eingebung gefolgt und in Richtung der alten Räumlichkeiten von Abraxas gegangen. Die Tür steht tatsächlich offen und vorsichtig betritt sie das Arbeitszimmer, das schon zu Abraxas' Lebzeiten eher spartanisch dekoriert gewesen und nun vollkommen schmucklos ist.

Lucius kniet vor einem Regal und blättert einen Aktenordner durch. Auf dem Boden vor ihm sind mehrere Stapel mit Papieren ausgebreitet, die so alt aussehen, dass sie einfach keine Bedeutung mehr haben können. Erst glaubt sie, dass er sie nicht gehört hat, doch dann hebt er den Kopf. Er sieht müde aus. Wie jemand, der sich die halbe Nacht um die Ohren geschlagen hat, nur um dann doch viel zu früh wach zu werden. Die Unbesiegbarkeit des Biorhythmus'.

„Was machst du hier?“ Sie kniet sich neben ihn und versucht, irgendwie einen Sinn hinter den gestapelten Papieren zu erkennen. Vorsichtig streckt sie ihre Hand aus und streicht ihm eine veirrte Haarsträhne aus dem Gesicht. „Du hast noch gar nicht gefrühstückt.“

„Ich habe keinen Hunger. Ich hab noch was gegessen, bevor ich ins Bett gegangen bin… und das ist noch nicht so lange her.“ Seine Miene hellt sich auf. „Ich habe geträumt, wir hätten eine Katze. Mein Vater kannte so eine Hexe, die hat Katzen gezüchtet, von ihr haben wir auch Merlin damals gekauft. Wir sollten sie besuchen. Uns wieder eine Katze holen.“ Seine Augen glänzen, als ob er Fieber hätte und sie kann nicht ignorieren, dass er etwas Manisches an sich hat.

„Lucius, du hast zu wenig geschlafen. Und du hast den Kater nie gemocht. Ständig hast du dich beschwert, weil du über ihn gestolpert bist und er überall seine Haare verliert.“

„Trotzdem habe ich ihn gemocht.“

„Er hat die Pfauen angefaucht. Du meintest, das würde sie krank machen.“

„Ach, das war doch Unsinn. Es ist nie einer krank geworden.“ Lucius sieht sie an und seine Pupillen kommen ihr unnatürlich groß vor. „Willst du keine Katze haben?“

„Doch, ich hätte gerne eine Katze. Aber ich hätte noch lieber einen Mann, der nicht seinen Verstand verliert… du solltest dich hinlegen. Wann bist du überhaupt im Bett gewesen?“

„Halb vier. Ich hab kurz vor Mitternacht noch eine Tasse Kaffee getrunken.“

„Um Himmels Willen. Steh auf. Du musst schlafen.“

„Nein, ich muss die Geburtsurkunde von Merlin finden, da steht auch der Name dieser Hexe drauf!“ Sie schnappt nach seinen Handgelenken, als er wirklich Anstalten macht, nach einem weiteren, uralten Ordner zu greifen.

„Lucius, Stopp. Hör auf. Du musst diese Urkunde nicht finden. Wir gehen jetzt nach oben, du schläfst noch drei Stunden und heute Nachmittag gehen wir zusammen in die Winkelgasse und suchen zusammen eine Katze aus. Gregory arbeitet in der Magischen Menagerie, dort haben sie auch Katzen. Und wenn dir dann wieder einfällt, dass du Katzen eigentlich gar nicht magst, dann gehen wir wieder und es war doch nicht umsonst, weil wir so Gregory auch mal wieder gesehen haben. Hast du das verstanden?“ Er nickt und sie hält strafend seine Hand mit fünf bis aufs Nagelbett abgekauten Fingernägeln hoch. „Und das gewöhnst du dir auch ganz schnell wieder ab, mein Lieber!“

„Ja, Madam.“

* * *



Bis zur Mittagsstunde hat Narzissa den „Klitterer“ ausgelesen und scheitert wie üblich an dem überkomplexen, verworrenen Kreuzworträtsel, das man wohl nur dann vollständig lösen kann, wenn man Xenophilius Lovegood heißt. Unter einem Artikel über „Das neue Jahrtausend und die Angst vor körperlicher Nähe – Eine Elegie über Glumbumbel“ hat sie den Namen Samara Scamander entdeckt und seither fragt sie sich, ob Samara wohl ein häufiger Vorname ist. Die Scamanders sind eine bekannte Größe, wiederkehrende Gestalten im Impressum, doch für gewöhnlich werden ihre Artikel von Xenophilius Lovegood übersetzt und dennoch zweisprachig abgedruckt, um die Abonnenten in Schweden nicht vor den Kopf zu stoßen – so sagt es eine Fußnote. Die Elegie über Glumbumbel wurde jedoch von vorneherein auf Englisch verfasst und Narzissa fragt sich, ob das ein Zufall sein kann, ob sie eine Geisterseherin ist oder ob es vielleicht wirklich Zeit ist, einen Brief an die Redaktion des „Klitterers“ zu verfassen.

Als Lucius nach unten in den Garten kommt, wo sie sich mit dem „Klitterer“, einem Stift zum Lösen des Rätsels und einem Glas Kürbissaft häuslich eingerichtet hat, wirkt er beschämt. Er umklammert eine Tasse mit dampfendem Tee, den man bei den Temperaturen nicht wirklich trinken kann, und sieht sie fragend an.

„Wie unmöglich habe ich mich aufgeführt? Meine Erinnerungen sind neblig.“

„Du warst schon besser dran, aber du hast nichts gesagt oder getan, was mir Grund gäbe, dich ins St. Mungo einzuweisen.“

„Das ist sehr beruhigend.“

„Erinnerst du dich daran, dass wir beschlossen haben, uns eine Katze zuzulegen?“

„Ja.“

„Und hältst du das immer noch für eine gute Idee?“

„Eigentlich schon.“

„Und uneigentlich?“

„Wir sollten vorher fragen, ob das Tier Angst vor Pfauen hat. Ich glaube, Merlin hat sich immer so aufgeführt, weil er eigentlich panisch war und es nur nicht zeigen konnte.“ Und damit reihte sich der Hauskater ganz hervorragend in die Reihe der männlichen Malfoys ein. Diesen Gedanken würde Narzissa nicht laut aussprechen. Das war wohl nicht nötig.

* * *



In der Winkelgasse war es voll, doch nicht außergewöhnlich voll. Immerhin befanden sie sich in der Mitte der Sommerferien und an Freitagen herrschte sowieso Hochkonjunktur. Vor „Weasleys Zauberhafte Zauberscherze“ versammelten sich ganze Grüppchen von Jugendlichen und Berufsjugendlichen, die sich über den neuesten Streich aus dem Hause Weasley gar nicht einkriegen wollten.

Um alle Schaufenster anzusehen, waren zu viele Menschen in zu rasantem Tempo unterwegs und als Narzissa einen kurzen Blick in die Auslage von Flourish & Blotts erhaschte, war der Preis dafür einigermaßen hoch. Sie stieß beinahe mit einer rothaarigen Frau zusammen, die aus dem Laden kam und den Arm voller Bücher hatte. Es waren die ersten Autobiographien über Harry Potter und die Frau war niemand anderes als Molly Weasley. Nichts zu sagen, wäre irgendwie unangebracht gewesen und deswegen entschied Narzissa sich für ein schlichtes „Guten Tag“ und bekam einen ebenso knappen Gruß zurück. Als sie sich umdrehte, um zu sehen, ob Lucius noch hinter ihr war, bot sich ihr ein seltsames Bild.

Lucius stand einige Meter von ihr entfernt und unterhielt sich mit Arthur Weasley, der offenbar auf seine Frau gewartet hatte und sich mit einem hastigen Nicken – und einem Lächeln – verabschiedete, ehe er seiner Frau die Bücher abnahm und beide quer über die Straße in Richtung des Ladens ihrer Söhne gingen. Unwillkürlich dachte Narzissa an eine ähnliche und doch ganz andere Begebenheit. Vor Jahren hatte Lucius einen herzlichen Gruß an Arthur Weasley ausgegeben, da er diesen aufgrund einer ungewöhnlichen Kopfbegegnung nicht hatte einordnen können.

„Weißt du, wer das war?“

„Arthur Weasley. Hast du ihn nicht erkannt? Brauchst du etwa eine Brille, Zissy?“ Er klang ganz unaufgeregt. Als hätte er einen x-beliebigen Bekannten getroffen und nicht einen Mann, an dem er jahrzehntelang kein gutes Haar gelassen hatte.

„Nein, ich habe ihn erkannt. Ich war mir nur nicht sicher, ob dir das auch gelungen ist… seit wann unterhaltet ihr euch?“

„Seitdem ich im Ministerium mehr schlecht als recht geduldet bin und er befördert wurde. Arthur hat sich ausgesprochen fair verhalten… viel weniger spöttisch als die meisten anderen. Als wir einmal zusammen in einem menschenleeren Fahrstuhl gelandet sind, hat er sich nach Draco erkundigt. Seitdem tauschen wir uns ganz sporadisch aus, wenn wir uns begegnen.“

„Wow.“

„Keine Sorge, das ist nicht der Beginn einer zweifelhaften Freundschaft, aber… so ein wenig höflicher Smalltalk ist irgendwo doch angebracht. Schließlich hat er während des Prozesses eine wertvolle Aussage für mich gemacht.“

„Hat er das? Das wusste ich gar nicht.“

„Nicht nur für mich. Er hat über das Ministerium gesprochen. Und die Veränderungen, die stattfinden müssen. Er hat die pingelige Dokumentation der Daten der Mitarbeiter, die ich über Jahre hinweg vorgenommen habe, zu meinen Gunsten ausgelegt. Dadurch konnten viele alte Kräfte erreicht und zurückgewonnen werden. Natürlich konnten genau deswegen im Rahmen der „Säuberungen“ auch so viele Angehörige der Mitarbeiter aufgespürt werden, aber Arthur hat es so klingen lassen, als wäre das nicht meine Intention gewesen. Na ja, es war auch nicht wirklich meine Intention, ich habe einfach nur sehr sorgfältig meine Arbeit gemacht und das hat er vor dem Zaubergamot erwähnt.“

„Das ist sehr nett von ihm gewesen.“

„Ja, das ist es.“ Lucius nimmt ihre Hand. „Wollen wir weiter über Arthur Weasley und das Ministerium sprechen oder gehen wir rüber und suchen uns eine furchtlose Katze aus?“

Die Besitzerin der Menagerie war eine ältere Dame, deren Augen hinter dicken, staubigen Brillengläsern steckten und die zur Winkelgasse gehörte, seitdem Narzissa denken konnte. Ihre Schwestern und sie hatten nie ein Haustier gehabt, doch sie konnte sich daran erinnern, wie ihre Tante Walburga von der merkwürdigen Hexe erzählt hatte, die ihr als ahnungslose Erstklässlerin eine Kröte aufgeschwatzt hatte, mit der sie zum Gespött in Hogwarts geworden war. Den kleinen Geschichten zufolge, die Gregory manchmal erzählte, hatte sich der Spirit der Magischen Menagerie eher wenig verändert.

Trotz des sommerlichen Andrangs und den Massen von Menschen, die mit schweren Geldbeuteln und Listen durch die Winkelgasse zogen, schien man in der Menagerie Wert auf eine Mittagspause zu legen. Das hatte Narzissa gewusst und deswegen waren sie nicht zu früh aufgebrochen. Genau genommen waren sie sogar sehr pünktlich. Pünktlich genug, um Gregory zu sehen, der ein dunkelhaariges Mädchen umarmte, ehe er die Tür zur Menagerie aufschloss.

Gregory war bereits im Laden verschwunden, doch das Mädchen drehte sich zu ihnen um und zuckte sichtlich zusammen. Es war Pansy Parkinson, die seit beinahe einem Monat nicht mehr bei ihnen zu Gast gewesen war. Weil die Ablösung durch Astoria Greengrass immer noch nicht vorbei war. Es war nicht die beste Grundlage für eine zufällige Begegnung, aber Pansy war, ebenso wie sie selbst, offenbar gewillt, das Beste aus der Situation zu machen.

„Hallo Narzissa… guten Tag, Lucius.“ Pansy klang immer noch ein wenig verunsichert, wenn sie ihre Vornamen gebrauchte und Narzissa war aufgefallen, dass sie häufig versuchte, ihre Sätze so zu formulieren, dass sie eine direkte Anrede umgehen konnte.

„Pansy, wie schön, dich zu sehen. Wie geht es dir?“

„Oh, gut, mir geht es sehr gut. Gregory und ich haben zusammen zu Mittag gegessen… das machen wir jeden Freitag so, eine kleine Tradition. So eine Mittagspause ist ja ungeheuer praktisch und ich habe ja sowieso Zeit, es sind ja Ferien, aber das weißt… da erzähle ich ja keine Neuigkeiten.“ Pansy war also nicht mit ihren Eltern verreist und verfügte anscheinend über ausreichend Freizeit. Das machte es nur noch bedenklicher, dass sie ihnen nun so lange nicht mehr unter die Augen gekommen war.

„Das klingt nach einer wunderbaren Tradition. Wir sind auch hier, um Gregory zu sehen… nun ja, eigentlich wollten wir uns in der Menagerie auch nach einem Haustier umsehen.“

„Wieder nach einer Katze?“ Falls ihre Erinnerungen sie nicht betrogen, dann war Pansy Parkinson in dem Sommer nach Dracos viertem Schuljahr zum ersten Mal in Malfoy Manor gewesen – und im Februar desselben Jahres war Merlin verschieden. Pansy schien zu bemerken, dass ihre Nachfrage nicht nur Narzissa, sondern auch Lucius verwirrt hatte. „Merlin, oder? Gregory hat oft von ihm gesprochen… er meinte, er hätte immer gerne eine eigene Katze gehabt, aber sein Vater war allergisch oder wollte nicht… und der Name war einprägsam.“ Nicht besonders originell, aber einprägsam. Bisher war Narzissa nicht klar gewesen, wie nah Gregory Goyle und Pansy Parkinson sich scheinbar doch standen. Sicher, Draco hatte sie wissen lassen, dass er eine kurze Phase der Eifersucht wegen Gregory durchlebt hatte, aber es war nicht so deutlich geworden, dass die Freundschaft der beiden sich weiter erhalten hatte.

„Ja, Merlin… es wird Zeit für einen Nachfolger.“ Das Wort „Nachfolger“ kam ihr von Lucius entsetzlich gewählt vor. Es war, als würde der Himmel den Namen Astoria Greengrass schreien. Es war, als stünde Astoria Greengrass in einem ihrer rosa Kleider direkt vor ihnen.

„Dann… viel Glück beim Auswählen. Und ein schönes Wochenende!“

„Dir auch ein schönes Wochenende, Pansy… ich hoffe, wir sehen dich bald mal wieder.“ Hoffentlich klang das nicht nur nach irgendeiner Floskel. Sie würde Pansy gerne wiedersehen – unter weniger unangenehmen Umständen. Sie würde Pansy die Katze oder den Kater, den sie heute hoffentlich fanden, gerne vorstellen. Mit einem leicht nervösen Winken verabschiedete Pansy sich und Lucius warf ihr einen erleichterten Blick zu.

„Noch zwei Minuten mehr und das wäre ernsthaft peinlich geworden.“ Es war schon ernsthaft peinlich gewesen, aber vielleicht war Peinlichkeit nicht wirklich das richtige Wort. Wenn Draco in der nächsten Woche wieder nach Hause kam, dann würde sie ihm jedenfalls in aller Länge und Breite von dieser Begegnung erzählen und hoffen, dass eine malerische Schilderung ihn zu der Erkenntnis bringen würde, was er eigentlich tat. Was er Pansy antat.  „Na komm, lass uns reingehen.“

In dem Laden war es dank der verdunkelten Schaufenster und dem spärlichen Einsatz von irgendwelchen Leuchtmitteln nicht ganz einfach, sich zurechtzufinden. Überall maunzte, raschelte oder quakte etwas und mittendrin thronte eine ältere Dame in einem Sessel der unter einer Lampe stand. Auf der Nase balancierte sie die Brille mit den dicken Gläsern. In den Händen hielt sie eine Packung mit kleinen, sich windenden Würmern. Ein einladendes Ambiente sah anders aus, aber die Inhaberin machte auch gar keine Anstalten, mit den Würmern in ihre Richtung zu kommen, sondern setzte auf den Einsatz von Gregory, der nicht lange auf sich warten ließ. Er war ein bisschen zu groß gewachsen für den beengten Laden und es musste sehr viel Übung verlangen, sich nicht den Kopf zu stoßen und sich rechtzeitig zu ducken – und überhaupt zu erkennen, wo sie standen.

„Herzlich Willkommen in der Magischen Menagerie, wie kann ich Ihnen weiterhelfen… oh, hallo!“ Gregorys Sehvermögen schien nicht sehr viel besser zu sein als ihr eigenes, denn er erkannte sie erst, als er einen Meter vor ihnen stehen blieb. „Das ist ja eine Überraschung.“ Doch er machte ein Gesicht, als sei es durchaus eine schöne Überraschung und das war ja auch nicht selbstverständlich.

Mit wenigen Worten fassten sie ihren Wunsch zusammen, sich eine neue Katze zuzulegen und Gregory führte sie in einen Nebenraum der Menagerie, in dem sicherlich drei Dutzend Katzen in Regalen, Kartons und allen nur erdenklichen Möbelstücken schliefen. Eine rot getigerte Katze leckte sich die Pfoten und hockte dabei auf einem Karton, der mit „Flubberwürmer, gelb, geliefert März '99“ beschriftet war. Zwei andere, sehr junge, graue Kätzchen spielten mit etwas, das nach einem Staubtuch aussah. Es war alles andere als gemütlich und Gregory entging ihre Bestürzung nicht und er erklärte rasch, dass alle Katzen sich nach Ladenschluss frei in der Wohnung oberhalb der Menagerie bewegen durften und an Montagen, dem Ruhetag der Menagerie, einen Ausflug zu der Schwester der Inhaberin machten, die ein großes Grundstück mit Garten hatte. Außerdem, das fügte er ein wenig stolz hinzu, würden die meisten Katzen allerhöchstens drei Monate in der Menagerie verbringen, ehe sie ein Zuhause fanden. Im Sommer, vor Beginn des Schuljahres, waren die Aufenthaltszeiten meistens noch kürzer.

„Wer ist denn am längsten hier?“ Narzissa hatte nicht geahnt, welches Mitleid sie für die Katzen entwickeln würde und Lucius sah bereits so aus, als hätte er sich damit abgefunden, dass sie eventuell nicht nur mit einer Katze, sondern mit einer ganzen Katzenfamilie hier rausgehen würden.

„Oh, ich glaube, das ist der alte Herr, der dort oben auf dem grünen Kissen sitzt. Könnt ihr ihn sehen oder soll ich ein bisschen mehr Licht machen?“ Verglichen mit dem anderen Raum war es hier relativ hell. Als sie eingetreten waren, hatte sie im ersten Moment nur Augen und weiße Flecken Fell gesehen, doch Gregory hatte eine Lampe angemacht, die an der Decke baumelte, leise surrte und gelbliches Licht spendete.

„Es geht schon.“

„Gut, also das ist derzeit unser ältester Gast. Ungefähr acht, neun Jahre alt… er hat bei einem alten Zauberer gelebt, der kurz nach Weihnachten verstorben ist. Die Kinder waren beruflich alle sehr beschäftigt oder hatten selbst schon Tiere, deswegen ist er zu uns gekommen. Besonders zutraulich ist er nicht und ihm fehlt ein Eckzahn, aber eigentlich ist er ganz verträglich. Soll ich ihn mal holen oder… ja, ich kann eigentlich über alle etwas erzählen. Sagt einfach Bescheid, wen ihr… sympathisch findet.“ Sympathisch war ein starkes Wort in diesem Kontext und Lucius bedeutete ihr mit einer Geste, dass das ihre Entscheidung war.

„Hol ihn mal her… wenn er möchte.“

„Sicher möchte er.“ Geschickt ging Gregory um die Insel aus Kartons in der Mitte des Raumes herum zu dem Kissen und hob den Kater an, der sich nicht beschwerte und auch nicht zappelte, sondern sich auf Gregorys Arm einigermaßen wohl zu fühlen schien. Es war ein großes Tier mit dickem, fleckigem Fell. Auf den ersten Blick war nicht zu sagen, ob an dem Kater mehr Grau oder mehr Weiß zu finden war. Seine Augen waren groß und grünlich.

Als Gregory sich ihnen mit dem Kater näherte, brummte das Tier leise und schnupperte interessiert in ihre Richtung. Bereitwillig hielt sie ihm ihre Hand hin, sodass der Kater eine Chance hatte, sich einen Eindruck von ihr zu machen. Lucius tat es ihr gleich und das Brummen ertönte wieder.

„Schnurrt er oder ist er sauer?“ Bei Merlin hatten sich sowohl Zufriedenheit, als auch Zorn ein wenig anders geäußert. Was von einer brummenden Katze zu halten war, das wusste sie nicht wirklich.

„Er schnurrt. Ich kann ihn ja mal auf den Boden setzen, dann kann er da noch ein wenig schnuppern.“ Sie nickt und beobachtet, wie der Kater erst um ihre und dann um Lucius' Beine streicht. „Ich glaube, er ist ganz angetan. Sonst wäre er schon wieder zurück zu seinem Kissen gegangen.“ Gregory lächelte. „Sein Besitzer hat ihn Sir Eliot gerufen, aber so ein Name ist natürlich nicht bindend.“

Narzissa sah Lucius fragend an und er sah ebenso fragend zurück. „Gefällt er dir, Zissy?“

„Mir gefällt er. Was ist mit dir?“

„Also der Adelstitel missfällt mir.“ Vielleicht dachten sie beide eine Sekunde lang an das Baby namens Lord, über das sie irgendwann mal so gelacht hatten. Vielleicht war das aber auch nur ihr Kopf, der so aberwitzige Verbindungen zustandebrachte. „Aber Eliot finde ich gut. Kurz, praktisch und nicht so dämlich wie Merlin.“

„Ich dachte, du hast den Namen ausgesucht?“

„Ja. Mit 10. Da macht man so was.“ Es war nicht üblich, dass Lucius sich in der Gegenwart von Fremden so freimütig darüber äußerte, dass er einer Katze im Alter von zehn Jahren einen dämlichen Namen verpasst hatte, aber Gregory war ja kein Fremder. Ansonsten würde Narzissa sich auch ein wenig schlecht fühlen, weil sie Lucius so schamlos daran erinnerte, dass es zwar ein dämlicher Name gewesen war, aber ein dämlicher Name, der von ihm gekommen war.

„Also… Eliot. Dann nehmen wir Eliot mit nach Hause?“

„Wenn Eliot das möchte.“ Lucius sah zu Boden. Der Kater hatte sich hingesetzt und angefangen, seinen Kopf an Lucius' Hosenbein zu reiben. „Ich glaube, er möchte das.“

„Okay… super… ich sag Ellen Bescheid… wegen der Papiere.“ Gregory huscht aus dem Zimmer, als würde er glauben, dass sie es sich noch einmal anders überlegen, wenn er zu lange warten würde. Lucius schmunzelt und betrachtet weiter den brummenden Kater zu seinen Füßen.

„Bist du glücklich?“

Lucius beobachtet immer noch den Kater, aber sie nimmt doch an, dass diese Frage an sie geht – und nicht an den brummenden Sir Eliot, der offiziell aus dem Adelsstand enthoben wurde.

„Ja.“

„Gut.“  Lucius lächelt und auch, wenn sie Eliot damit bedrängen könnte, geht sie in die Knie und streicht ihrem neuen Familienmitglied über den Kopf. Der Kater brummt, doch Lucius' Bein scheint für ihn nach wie vor spannender zu sein als ihre Hand. Sie richtet sich wieder auf und sieht ihn erwartungsvoll an.

„Und du? Bereust du deine Entscheidung im Morgengrauen?“

„Nein.“ Er legt einen Arm um sie und seine Mundwinkel zucken, als müsste er ein Grinsen unterdrücken. „Aber sag mal, habe ich neuerdings Halluzinationen oder war mein Gesicht heute Morgen auf der Titelseite des „Tagespropheten“ abgedruckt?“ Er lacht. Er lacht wirklich.

„Findest du das etwa witzig? Ich hab mich fürchterlich aufgeregt… und Draco hat mehrmals davon gesprochen, dass wir Rita Kimmkorn verklagen sollten! Und du… du lachst einfach darüber?“

„Na ja, es ist doch ein gutes Zeichen. Wenn es wirklich nichts Aufregenderes zu berichten gibt als mein bürokratisches Ableben… dann müssen es wirklich gute Zeiten sein, in denen wir leben. Und sterben.“ So hatte sie es zugegebenermaßen noch nicht betrachtet und sie konnte ihm wohl kaum widersprechen. Es war eine gute Zeit – oder wenigstens nicht die schlechteste aller Zeiten.

Series this work belongs to: